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Kapitel 1: Marxismus und Epistemologie

1. Realobjekt – Erkenntnisobjekt

Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein

„Objekt“ derart zu rekonstruieren, dass in dieser Rekonstruktion zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert.

Roland Barthes

a) Bei der Analyse des Marx'schen Werkes vertritt Althusser17 die These, dass dieses sowohl von einer „ideologisch-philosophischen“ wie auch eine streng wissenschaftlichen Komponente geprägt sei. Diese Problematik entwickelt Althusser bezüglich der „Umstülpung“18 der Hegel'schen Dialektik durch Marx [FM, S. 121]. Die Hegel'sche Dialektik19 sei nicht nur durch eine spekulative Illusion geprägt, die – wie von Feuerbach kritisiert – sich durch die „Identifi-kation des Denkens mit dem Sein, des Prozesses des Denkens mit dem Prozess des Seins, des 'gedachten' Konkreten mit dem 'tatsächlichen' Konkreten“ [FM, S. 132] auszeichne. Die „Umstülpung“ der Hegel'schen Dialektik, wie sie von Feuerbach und vom frühen Marx vorgenommen wurde, sei dadurch geprägt, dass sie als „gute Abstraktion“ die Verhältnisse zwischen „Sein“ und „Denken“

16 Beispielhaft für die symptomatische Lektüre zu nennen ist nebenDas Kapital lesenselbst vor allem FoucaultsDie Geburt der Klinik[Foucault 1988]. Weiterhin sind die Arbeiten Lacans zu diesen zu zählen [Lacan 1986]; Althusser konstatiert, dass Lacan durch eine symptomatische Lektüre den wissenschaftlichen Charakter des Freudschen Werks heraus-gearbeitet habe [Althusser/Tort 1976, S. 7].

17 Zur deutschsprachigen zeitgenössischen (überwiegend kritischen) Rezeption der Episte-mologie Althussers vgl. vor allem Hund 1973, Jaeggi 1968, ders. 1975, ders. 1976, Schmidt 1972, Rheinberger 1975.

18 So Marx: „Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken“ [MEW, Bd. 23, S. 27]

19 Die Hegel-Rezeption durch Althusser ist generell als problematisch einzustufen, oft wirkt diese sehr verflacht; evtl. ist dies dem ebenso problematischen Hegel-Kommentar von Kojève [Kojève 1975] anzulasten, der maßgeblich die Hegel-Interpretation in Frankreich beeinflusst hat.

1. Realobjekt – Erkenntnisobjekt

in dem Sinne umkehrt, dass das „Sein“ das „Denken“ produziert, somit dass

„Denken“ und „Sein“ immer noch eine Einheit bilden, in der das „Sein“ seinen abstrakten Begriff hervorbringt.

Für Althusser ist kennzeichnend für den Prozess der empiristischen Erkenntnis das Setzen eines zu erkennenden Objekts und eines erkenntnisfähi-gen Subjekts (wobei diese Konzeption den meisten idealistischen wie materia-listischen Erkenntnistheorien zu Grunde liegt [Thieme 1982, S. 14]). Unbeacht-lich sei in der Logik dieser Konzeption, ob es sich dabei um ein historisches, psychologisches oder anders geartetes Subjekt handelt, ebenso wenig werde in der Konzeption die Natur des Objekts (kontinuierlich oder diskontinuierlich, fix oder beweglich) berücksichtigt. Der Erkenntnisprozess beginne in dieser Konzeption mit dem Vorgang der Abstraktion: „Erkennen heißt: dem Realob-jekt das Wesen entziehen (abstrahieren)“ [DKL, Bd. 1, S. 44]. Die aus dem Realobjekt gewonnene (reale) Abstraktion müsse demnach schon essenziell in dem Erkenntnisobjekt selbst existieren. Die Erkenntnis eines Objekts existiere somit als „Wesen des Realen als reales Wesen in dem Realen, das es umschließt“ [ebd.]. Das Reale bestehe somit aus zwei Essenzen, nämlich dem Wesen des Objekts, das es durch die Operation der Abstraktion zu erkennen gelte und einer realen Hülle, die dieser Erkenntnis entgegenstehe und damit die Abstraktion erst erforderlich mache [DKL, Bd. 1, S. 44 f.], folglich bilden wesentliches und unwesentliches die Struktur des zu erkennenden Objekts.

Der Prozess der Erkenntnisin einer solchen Konzeption wäre demnach, die beiden Teile des Realobjekts – Essenz und Inessenzielles – zu trennen bzw.

das Inessenzielle zu eliminieren, damit das erkennende Subjekt nur der „realen Essenz des Realen“ [DKL, Bd. 1, S. 45] gegenübersteht. Die Struktur des Real-objekts wird also in der empiristischen Erkenntniskonzeption als Einheit von Essenz und Inessenziellem gedacht, die in ihrer Gesamtheit das Realobjekt bilden. Die Notwendigkeit der Abstraktion/Freilegung ergibt sich aber aus der Struktur des Realobjekts selbst, da das Inessenzielle die „Außenseite“ bilde und das Essenzielle des Realobjekts (im wahrsten Sinne des Wortes) verhülle [DKL, Bd. 1, S. 46]. Allerdings ist der beschriebene Erkenntnisvorgang nach Althusser „der Akt der Abstraktion, der aus konkreten Individuen ihr reines Wesen herauslösen würde, [...] ein ideologischer Mythos“ [FM, S. 135], der auf einer zweifelhaften Konzeption des Objekts beruht. Aber die Anordnung

1. Realobjekt – Erkenntnisobjekt

der komplementären Teile (außen/innen, sichtbar/unsichtbar) bezieht sich nach Althusser in der empiristischen Erkenntniskonzeption nicht nur auf das Objekt der Erkenntnis, sondern ebenso auf die Erkenntnistätigkeit selbst: Diese Kon-zeption zeichne sich vor allem dadurch aus, dass

die gesamte Erkenntnis: das Objekt als die Erkenntnistätigkeit im Unters-chied zum Realobjekt, das erkannt werden soll, mit vollem Recht der Realstruktur des Realobjekts zugerechnet und als ihr Bestandteil gedacht wird [DKL, Bd. 1, S. 49],

das Realobjekt somit selbst seine Erkenntnis in sich trägt. Damit offenbare der Empirismus eine erstaunliche Inkonsequenz:

Wenn der Empirismus sein Erkenntnisobjekt in der Essenz sieht, so behauptet er etwas sehr Entscheidendes, das er im selben Moment leugnet: er behauptet, dass das Erkenntnisobjekt mit dem Realobjekt nicht identisch ist, denn er bezeichnet es als einen Bestandteil des Real-objekts. Zugleich leugnet er diese Behauptung, indem er die Differenz zwischen zwei Objekten, dem Erkenntnisobjekt und dem Realobjekt, auf eine einfache Differenz zwischen verschiedenen Bestandteilen eines einzigen Objekts – des Realobjekts – reduziert. [DKL, Bd. 1, S. 50 f.]

D. h. die ursprüngliche Einheit des Objekts aus inessenziellem und essen-tiellem wird zugunsten des Essenessen-tiellem aufgelöst – die Differenz des so kreierten „erkannten Objekts“/Erkenntnisobjekts zum Realobjekts durch das Eliminieren des Inessentiellem wird aber verschwiegen, „in der Negierung gibt es nur noch ein einziges Objekt: das Realobjekt“ [DKL, Bd. 1, S. 51].

Mit Marx verwirft Althusser die Gleichsetzung/Vermischung von Real-objekt und ErkenntnisReal-objekt und besteht auf deren Differenz20 [ebd., S. 51 f.], Marx schreibt selber zum Verhältnis von Realen und Erkenntnisobjekt:

Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren.

[MEW, Bd. 13, S. 632]

Althusser verweist darauf, dass Marx in dem Abschnitt Die Methode der politischen Ökonomie[MEW, Bd. 13, S. 631 ff.] zum einen die absolute Diffe-renz zwischen dem Realobjekt („das Konkret-Reale, die reale Totalität“ [DKL,

20 Diese Differenz entnimmt Althusser bei Spinoza [DKL, Bd. 1, S. 51], wie er auch Spinoza (und nicht Marx oder Hegel) als den größten Einschnitt im philosophischen Diskurs klassifiziert [DKL, Bd. 1, S. 134] und dabei Marx mit Spinoza in Verbindung bringt. Die genealogische „Verwandtschaft“ von Marx und Spinoza hat vor Althusser bereits Plechanow behauptet [Anderson 1978, S. 97, Fn. 30].

1. Realobjekt – Erkenntnisobjekt

Bd. 1, S. 52]) und dem Erkenntnisobjekt („Produkt des Gedankens, der es als Gedankenkonkretum produziert“ [ebd.]) behauptet. Ebenso unterscheide Marx auch die Konstitutionsprozesse der jeweiligen Objekte; im Gegensatz zum Realobjekt, dessen Entstehung nach „der realen Gesetzmäßigkeit der realen Entwicklung“ [ebd.] verlaufe, konstituiert sich das Erkenntnisobjekt in gedach-ten Kategorien, die die realen Kategorien reproduzieren. Dabei folge diese Konstitution aber anderen Gesetzmäßigkeiten, die einen Stellenwert haben, der ihnen durch ihre Funktion im Prozess der Erkenntnisproduktion zugewiesen werde [ebd.]; die Konstitution des Gedankenobjekts erfolgt somit nicht-iden-tisch zu dem Realobjekt.

b) Wenn Marx also behauptet, dass die Erkenntnis sich in den Gedanken voll-zieht, als „Produkt des denkenden Kopfes“ [MEW, Bd. 13, S. 633], bedeutet das für Althusser aber nicht einen Rückfall in einen Idealismus, der das Denken als Fähigkeit eines transzendentalen Subjekts begreift oder einem Dualismus Bewusstsein/materielle Welt huldigt. Vielmehr ist für Althusser das Denken das

historisch konstituierte System eines Denkapparats. [...] Es ist bestimmt vom System der realen Bedingungen, die es [...] zu einer bestimmten Produktionsweise von Erkenntnissen machen. Als solche ist es durch eine Struktur konstituiert, die eine Verbindung darstellt zwischen dem Objekt-typ [matière première; LLC, Bd. 1, S. 47], auf dessen Grundlage sie tätig ist, den theoretischen Produktionsmitteln, über die sie verfügt [...] und den zugleich theoretischen, ideologischen und gesellschaftlichen histo-rischen Beziehungen, innerhalb derer eine Erkenntnis produziert wird.

[DKL, Bd. 1, S. 53]

Dieser „Denkapparat“ besitzt laut Althusser eine genau bestimmbare objektive Realität. Sie weise dem „einzelnen denkenden Subjekt“ [ebd.] dessen Stellung und Funktion in dem Produktionsvorgang der Erkenntnis zu; sie setze „die Denkkraft ins Werk, so wie die Struktur einer ökonomischen Produktionsweise die Arbeitskraft der unmittelbaren Produzenten ins Werk setzt“ [ebd.]. Mit der Behauptung, dass das Denken ein Akt der Produktion ist, grenzt sich Althusser von jeder Form von Widerspiegelungs- oder Abbildtheorien ab, allerdings eröffnet sich so die Perspektive, dass das Denken und das Gedachte nicht über-einstimmen müssen, es also keine Garantie für diese Übereinstimmung gibt (die Annahme dieser Übereinstimmung sei kennzeichnend für die empiristische Erkenntnistheorie). Vielmehr sei grundsätzlich eine Diskrepanz zwischen dem

1. Realobjekt – Erkenntnisobjekt

„Denken“ und dem „Realen“ anzunehmen, da das Denken selbst schon nicht mehr an einem Realobjekt arbeitet:

La connaissance travaillant sur son „objet“, ne travaille pas alors sur l'objet réel, mais sur sa propre matière première, qui constitue, au sens rigoureux du terme, son „objet“ (de connaissance), qui est, dés les formes les plus rudimentaires de la connaissance, distinct del'objet réel, [...] comme l'objet qu'elle va transformer, dont elle va modifier les formes, au cours de son processus développement, pour produire des connaissances sans cesse transformées, mais qui ne cesseront jamais de porter sur sonobjet, au sensd'objet de connaissance. [LLC, Bd. 1, S. 49 f.]

Die verschiedenen Modi der Aneignung des Realen – nach AlthusserIdeologie und Wissenschaft – bearbeiten/erkennen demnach nicht das Realobjekt, sondern ein immer schon durch Wahrnehmungs-, Sprach- und Bearbeitungs-prozesse transformiertes Erkenntnisobjekt [Thieme 1982, S. 16]21, das Denken ist durch seine Arbeit an einem aus dem Denken selbst entstandenem Erkenntnisobjekt selbstreferenziell.