• Keine Ergebnisse gefunden

Kapitel 2: Zur Staats- und Ideologietheorie

1. Das automatische Subjekt

1.2. Ideologie als Staatsapparat

1.2.1. Gramsci-Exkurs I: Hegemonie und hegemoniale Apparate

1.2.1.1. Der Hegemoniebegriff bei Gramsci

Der Begriff der Hegemonie stellt keine originäre Entdeckung Gramscis dar, wie in der Literatur z. T. angenommen wird, sondern war seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts fester Bestandteil der Programmatik der russischen Sozial-demokratie. Die Konzeption der „Hegemonie“ geht auf Schriften Plechanows aus den Jahren 1883 und 1884 zurück, über die konkrete Aufgabenstellung, die sich hieraus ergaben, entbrannten zwischen Bolschewiki und Menschewiki heftige Polemiken [Anderson 1979, S. 20]. Während der Revolution von 1905 artikulierte Lenin die Notwendigkeit, ein Bündnis des Proletariats sowohl mit der Kleinbourgeoisie [LW, Bd. 9, S. 33] als auch mit den Bauern unter Führung

1.2.1. Gramsci-Exkurs I: Hegemonie und hegemoniale Apparate

der Sozialdemokratie herzustellen, um eine bürgerlich-demokratische Staats-form zu erreichen [LW, Bd. 9, S. 119]. Nach dem Scheitern der Revolution polemisierte Lenin gegen den „Reformismus“ in der russischen Sozialdemo-kratie und beschuldigte die Menschewiki, den Gedanken der Hegemonie nicht begriffen, bzw. nicht angewandt zu haben:

Als die einzige konsequent revolutionäre Klasse der modernen Gesell-schaft muss das Proletariat der Führer sein, der Hegemon im Kampf des ganzen Volkes für die vollständige demokratische Umwälzung, im KampfallerWerktätigen und Ausgebeuteten gegen die Unterdrücker und Ausbeuter. Das Proletariat ist nur insofern revolutionär, als es sich dieser Idee der Hegemonie bewusst ist und in die Tat umsetzt. Der Proletarier, der sich der Idee der Hegemonie nicht bewusst geworden ist oder diese Idee verleugnet, ist ein Sklave der seinen Sklavenzustand nicht begreift.

[...] Aber der Verzicht auf die Idee der Hegemonie ist die gröbste Art von Reformismus in der russischen Sozialdemokratie... [LW, Bd. 17, S. 219 f.]

Im Vergleich zu seinen früheren Ausführungen unterstrich hier Lenin die ökonomische Basis des Klassenbündnisses. Im gleichen Sinn, aber unter größerer Berücksichtigung der Gefahren einer bürgerlichen Trennung von Ökonomie und Politik, die eine korporatistische Politik der Arbeiterbewegung zu Folge haben könnte, formulierte dann in den zwanziger Jahren der Vierte Kongress der Kommunistischen Internationale:

Das Proletariat wird nur dann zur revolutionären Klasse, wenn es sich nicht auf den Rahmen eines engstirnigen Zunftgeistes beschränkt und in jeder Äußerung und in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens als Führer der gesamten arbeitenden und ausgebeuteten Bevölkerung handelt [...] Das industrielle Proletariat kann seine weltgeschichtliche Mission nicht vollenden, [...] wenn es sich auf seine eigenen korporativen Sonderinteressen und auf Versuche zur Verbesserung seiner – bisweilen recht zufriedenstellenden – Lage innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft beschränkt. [Zit. nach: Anderson 1979, S. 25]

Gramsci war als Teilnehmer des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale mit dem von Lenin entwickelten Hegemonie-Begriff vertraut. Er benutzt diesen in gleicher Weise, wenn er rückblickend über die Strategie der Turiner Rätebewegung gegenüber dem Süden Italiens schreibt:

Die Turiner Kommunisten hatten sich konkret die Frage der „Hegemonie des Proletariats“ gestellt, das heißt die Frage der sozialen Basis der proletarischen Diktatur und des Arbeiterstaates. Das Proletariat kann in dem Maße zur führenden und herrschenden Klasse werden, wie es ihm gelingt, ein System von Klassenbündnissen zu schaffen, das ihm gestattet, die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat zu mobilisieren; und das bedeutet in Italien, unter den

1.2.1. Gramsci-Exkurs I: Hegemonie und hegemoniale Apparate

real bestehenden Klassenverhältnissen, in dem Maß, wie es ihm gelingt, die Zustimmung der breiten, bäuerlichen Massen zu erlangen. [Gramsci 1986, Bd. 1, S. 191]

Wie in der Definition Lenins basiert das Klassenbündnis auf den gegebenen sozioökonomischen Verhältnissen, hier wird aber ein Begriffspaar eingeführt, das von Gramsci später auch in den Gefängnisheften aufgenommen wird:

herrschende Klasse – führende Klasse104. Die Differenzierung „herrschend-führend“ wird in Gramscis Gefängnisheften aber nicht mehr explizit auf die Strategie der Arbeiterbewegung und „ihren“ Weg zur Revolution angewendet, sondern ebenso auf die Kapitalherrschaft bezogen [Anderson 1979, S. 29] und zur Grundlage der Analyse jeglicher Klassenherrschaft gemacht .

Die Vormachtstellung einer sozialen Gruppe offenbart sich auf zweierlei Weise, als „Herrschaft“ und als „geistige und moralische Führung“. Eine soziale Gruppe ist herrschend gegenüber den gegnerischen Gruppen, die sie zu „liquidieren“ oder selbst mit Waffengewalt zu unterwerfen sucht.

Sie ist führend gegenüber den ihr verwandten und verbündeten Gruppen.[Gh, Bd. 2, S. 277]

Gramsci unterstreicht so, dass die Herrschaft einer Klasse zum einen darauf angewiesen ist, gegnerische Klassen („Gruppen“)106 notfalls gewaltsam zu unterdrücken, andererseits jedoch ihre Herrschaft auf einem Klassenbündnis beruht, in dem sie selbst führend ist. Weiterhin wird die Hegemonie einer Klasse im Lenin'schen Sinn auf die ökonomische Konstitution derselben zurückgeführt:

Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, dass den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, dass sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, dass also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt. [Gh, Bd. 7, S. 1567]

104 Dieses Begriffspaar geht allerdings auf die Urheberschaft Bucharins zurück, der den Unterschied zwischen „Führend“ und „Herrschend“ in Bezug auf die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) der UdSSR dahingehend formulierte, dass das Proletariat die Bourgeoisie beherrscht, „aber es führt die Bauern“ [Zit. nach: Buci-Glucksmann 1981, S. 259].

106 Gramsci hat seine fragmentarischen Gefängnishefte während seiner Inhaftierung im faschistischen Italien geschrieben. Hierdurch wurde er genötigt, zentrale marxistische Begriffe zu „codieren“ (Gruppe = Klasse, Philosophie der Praxis = Marxismus etc.)

1.2.1. Gramsci-Exkurs I: Hegemonie und hegemoniale Apparate

Die Hegemonie einer Klasse, basierend auf einem Bündnis mit einer anderen Klasse, kann somit nur zustande kommen, wenn die zwischen den beteiligten Klassen bestehenden Widersprüche in Bezug auf das gemeinsame Ziel nicht-antagonistischer Art sind,

das Bürgertum hat die Macht ergriffen, indem es gegen bestimmte gesellschaftliche Kräfte kämpfte, unterstützt von bestimmten anderen Kräften; um sich im Staat zu vereinigen, musste es die einen ausschalten und den aktiven oder passiven Konsens der anderen haben. [Gh, Bd. 2, S.

410]

Diese eindeutige Definitionen des Begriffs „Hegemonie“ wird allerdings in Gramscis Schriften nicht kontinuierlich verwendet, sondern durch einen, sein Werk prägenden, erweiterten Begriff ersetzt:

Diese Studie [über die Intellektuellen] führt auch zu gewissen Fest-stellungen über die Konzeption des Staates, der gewöhnlich als politische Gesellschaft verstanden wird [...] und nicht als ein Gleichgewicht zwischen der politischen Gesellschaft und der kulturellen Gesellschaft (oder als Hegemonie einer sozialen Gruppe über die gesamte nationale Gesellschaft, ausgeübt durch die sogenannten Privatorganisationen, wie Kirche, Syndikate, Schulen usw.). [Gramsci o. J., S. 224]

Hegemonie wird so nicht mehr im Sinne der Führung eines Klassenbündnisses nicht-antagonistischer Art gebraucht, sondern als eine über kulturelle Institutio-nen vermittelte Herrschaft einer einzelInstitutio-nen Klasse über alle anderen, auch anta-gonistischen, Klassen begriffen. Hierin liegt ein entscheidender Unterschied zu der Lenin'schen Definition der Hegemonie: Verstand auch Gramsci ursprüng-lich Hegemonie als die Führung nicht-antagonistischer Klassen im Gegensatz zur gewaltsamen Unterdrückung gegnerischer Klassen, wird nun Hegemonie über alle Klassen ausgeübt, indem auch (und vor allem) der Konsens der gegnerischen Klassen organisiert wird, also zum einen die Unterstützung des

„Aktivbürgers“, zum anderen die Duldung/passive Zustimmung antago-nistischer Klassen erzielt wird.

Dieser Hegemoniebegriff ist zweifellos auf die modernen Gesellschaften zugeschnitten, in dem sich das Bürgertum ökonomisch, politisch und kulturell zur führenden und herrschenden Klasse aufgeschwungen hat [Anderson 1979, S. 30]. Diese Begriffsverschiebung, im Gegensatz zum eher strategisch ausge-richteten Begriff Lenins, hin zu einer analytischen Kategorie [Poulantzas 1980, S. 135 f.] stellt Gramsci vor die Frage, wie die Bourgeoisie den Konsens der von ihr unterdrückten Klassen erlangt. Diese Fragestellung konstituiert die

1.2.1. Gramsci-Exkurs I: Hegemonie und hegemoniale Apparate

weitere Begriffsbildung Gramscis, vor allem in Bezug auf die staatlichen und kulturellen Überbauten (im folgenden wird aber immer zu berücksichtigen sein, dass Gramsci z.T. auch die Lenin'sche Definitionen der Hegemonie verwendet).