• Keine Ergebnisse gefunden

Kapitel 2: Zur Staats- und Ideologietheorie

2. Der Staat – materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses

2.5. Die Materialität des Staates

2.5.2. Staat und Nation

2.5.2.3. Diskurs und Nation

Die Produktion der Ethnizität, das bedeutet auch die Rassisierung der Sprache und die Verbalisierung der Rasse.

Étienne Balibar

Wenn im Zusammenhang von Nation und Staat Poulantzas davon spricht, dass es eine Nation vor dem modernen Nationalstaat gegeben hätte und so eine Position der Klassiker aufrecht erhält, muss dieser Ansicht zum Teil widerspro-chen werden. Wenn die Nation begriffen wird als etwas vom Staat Differentes (wenn auch sich mit diesem überschneidendes), dem Staat historisch Vorge-lagertes und vom Staat (oder einer Klasse) usurpiertes, wird prinzipiell (wenn nicht gleich rassistische Argumentationsmuster herangezogen werden) auf einer kulturellen Identität und auf das durch diese Identität zusammengefasste Volk/kulturelle Ethnizität rekurriert.

Hier scheint es m. E. vielmehr angebracht, von einemnationalen Diskurs zu sprechen, der mit dem Konzept des modernen Staates in Verbindung steht.

166 Der Zusammenhang des modernen Nationalstaats mit Rassismus und Totalitarismus wird so auch anderweitig vertreten, vgl. Balibar 1993, Balibar/Wallerstein 1992, Hirsch 1994a.

Hier läßt sich auch wieder eine Parallele zu Foucault ziehen, denn die von ihm analysierten Prozesse der Definition des „anderen“ in der Medizin verlaufen auch historisch analog der Entwicklung des Nationalstaats.

2.5.2. Staat und Nation

Die von Poulantzas identifizierten Elemente der Nation – insbesondere die Sprache167 und die (nationalisierte) Geschichtsschreibung – sind als diskursive Praktiken ausgerechnet solche Praktiken, die erst nach der Gründung eines sich auf einer Nation berufenden Staates „vervollständigt“ werden: wie Poulantzas selbst angemerkt hat, wird erst nach der Gründung des Staates eine National-sprache im eigentlichen Sinn konstituiert; in den politischen Gemeinschaften der Antike wie des Feudalismus war ein nebeneinander verschiedener Sprachen durchaus üblich [Hobsbawm 1998, S. 33 f., Balibar/Wallerstein 1990, S. 121].

Ebenso wird nach der Staatsgründung eine Geschichtsschreibung durch den Staat skandiert, die den Staat selbst wiederum als Ziel hat und deshalb erst mit der Gründung des Staates „wahr“ wird, sich die Nation „erfüllt“ bzw. erst vollständig konstruiert wird168. Sprache und Geschichtsschreibung sind also diskursive Praktiken, in denen denen Elemente der Nation tatsächlich

„materiell“ existieren (nämlich als Nationalismus); dabei werden diese Elemente in die Geschichte beliebig projiziert, um als Legitimation des politi-schen Systems oder als „Zielvorgabe“ eingesetzt zu werden.

Poulantzas ist dahingehend vollkommen zuzustimmen, dass das historische Auftreten der Nation mit der Spaltung der Gesellschaft in Klassen zusammenfällt, dies kann aber vor allem als ein Indiz für den Klassencharakter des nationalen Diskurses gedeutet werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn zuungunsten der religiösen Symbolisierung der politischen Herrschaft die säkulare bürgerliche Herrschaft an Bedeutung gewinnt169. Der nationale Diskurs ist in dieser Perspektive vor allem als ein strategischer Diskurs aufzufassen, der die in Klassen zerfallende Gesellschaft daran hindert, sich aufzulösen; ein Diskurs, der eine Identität herstellt, an die die gesellschaftliche Macht ihre Botschaften richten kann (die, ggfs. auch potenziellen, Volks-Subjekte anrufen kann) und somit eine neue politische Symbolisierung errichtet. Dieser Diskurs muss dabei nicht einmal verschweigen, dass die Gesellschaft in Klassen gespalten ist, sondern kann dies solange zugeben, wie ein die

Klassen-167 Vgl. Hobsbawm 1998, S. 33 f.

168 Ähnlich behauptet Wallerstein, dass der Staat historisch der Nation voranging [Balibar/

Wallerstein 1990, S. 101].

169 So stellt Hobsbawm fest, dass der Begriff der Nation erst nach der französischen Revolution auftaucht [Hobsbawm 1998, S. 25 ff.].

2.5.2. Staat und Nation

gegensätze überbrückendes politisches (sprich „nationales“) Ziel definiert werden kann170.

Die Differenz von Staat und Nation/nationalem Diskurs ist somit auch in den verschiedenen ideologischen Mechanismen zu finden. Während der Staat die Subjekte als formal Gleiche und Freie anruft, dabei die sozialen Differen-zen der Subjekte soweit möglich in seinem juristischen System einarbeitet und für das Staats-Subjekt ausblendet (s. u.), verschweigt der nationale Diskurs diese Differenzen nicht. Zudem funktioniert der nationale Diskurs ohne und vor dem Staat – wenn der nationale Diskurs entsteht, ist es ein Diskurs, der Staat werden will. Hier ist denn auch der ideologische Kern der bei Linken wie Rechten so beliebten „kulturellen Identität“ zu suchen. Poulantzas hat für die theoretische Einordnung dieser Identität wertvolle Hinweise gegeben: die Schrift, die sich der Saat unterwirft und homogenisiert und die Geschichte, die der Staat skandiert, sind als elementare Elemente der Nation vor allem Gegen-stand von politischen Techniken. Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass die Nation/die „kulturelle Identität“ von einer Klasse oder dem Staat usurpiert wird, sie wird vielmehr in einem Diskurs konstruiert und erst durch die politischen Techniken des Staates „wahr“. Wenn, wie Poulantzas behaup-tet, der kapitalistische Staat auf der Grundlage der Nation funktioniert, ist die Nation und die kulturelle Identität (das Volk) der Gründungsmythos des Staates schlechthin.

Hierbei kann – im Anschluss an Balibar – die Verbreitung einer einheitli-chen Sprache und Geschichte, also die Konstruktion eines nationalen Diskur-ses, auch alsKonstruktion einer Ethnizitätbezeichnet werden; dabei steht diese Konstruktion natürlich auch in engem Zusammenhang mit den ideologischen Staatsapparaten, die eben zu dieser Verbreitung maßgeblich beitragen: die Schule und die Familie171. Beide Apparate sind folglich nicht nur funktional bezüglich der Reproduktion der Arbeitskraft zu analysieren; beispielsweise kann die Einführung der allgemeinen Schulpflicht als der „Reproduktion der Bildung einer fiktiven Ethnizität“ dienlich betrachtet werden [Balibar/

170 Balibar weist zurecht darauf hin, das der Nationalismus/die politische Nation-Form die Klassenkämpfe integrieren und auch kontrollieren könne, diesen aber kein Ende setzen kann [Balibar 1993, S. 135].

171 Im Gegensatz hierzu begreift Balibar Schule und Familie als einen einzigen ideologischen Staatsapparat [Balibar/Wallerstein 1990, S. 126].

2.5.2. Staat und Nation

Wallerstein 1990, S. 126]. Balibar weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die (im Gegensatz zur rassistischen Ethnizität gegebenen) prinzipielle Offenheit einer auf einer einheitlichen Sprache basierenden Ethnizität/Nation nur relativ fiktiv vorhanden ist, im Gegenteil „schafft die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft [...] sogleich Spaltungen, differentielle Normen, die sich ganz massiv mit den Klassenunterschieden decken“ und Teil des körperlichen Habitus werden [Balibar/Wallerstein 1990, S. 127]; die auf diesem Habitus basierenden Stigmatisierung insbesondere bezüglich „regio-naler“ oder „ausländischer“ Akzentuierungen des Sprechvorgangs führt schließlich zur „Rassisierung der Sprache und der Verbalisierung der Rasse“

[ebd.].