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Kapitel 2: Zur Staats- und Ideologietheorie

2. Der Staat – materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses

2.5. Die Materialität des Staates

2.5.1. Macht und Wissen

2.5.1.2. Der Diskurs des Staates

a) Poulantzas stimmt der dargelegten Analyse Gramscis vollkommen zu, er behauptet wie dieser, dass die Konstitution des Bürgertums als herrschende Klasse von der Herausbildung eines „Korpus organischer Intellektueller“ ab-hängig sei. Ebenso wie Gramsci konstatiert er die überragende Bedeutung der (organischen wie traditionellen) Intellektuellen bezüglich der Organisation der Hegemonie durch eine Klasse [St, S. 50, 54; vgl. auch Balibar 1978, S. 19].

Nach Poulantzas formieren sich diese Intellektuellen/Agenten der staatli-chen Strukturen um einen „offiziellen Diskurs“, den Diskurs des Staates, in welchem zum einen der Staat, seine Praktiken und seine Agenten legitimiert werden160. Zum anderen werde innerhalb des offiziellen Diskurses die Wissen-schaft in eine spezifische Beziehung zum Staat gesetzt: der Staat bemächtige sich zunehmend der Produktion der Wissenschaft, die damit in ihrer Struktur zunehmend zu einer „mit dem Machtmechanismus verflochtenen Staatswissen-schaft wird“ [St, S. 50]161. Diese „Aneignung“ durch den Staat sei dadurch nicht bloße Instrumentalisierung/Unterwerfung im Dienste des Kapitals, son-dern die Beziehung zwischen Staat und Wissenschaft wird zu einem organi-schen Verhältnis, der Staat formiert „die geistige Arbeit über eine ganze Reihe von Netzen und Kanälen [...] und unterwirft sich den Korpus der Intellektuellen und Wissenschaftler“ [ebd.; vgl. Balibar 1987, S. 19].

160 Diese Legitimation fände aber auch außerhalb dieses Diskurses in von dem Staat selbst produzierten Ideologieformen statt [St, S. 50].

161 Auch hier lassen sich Parallelen zu Foucault ziehen: Die Techniken und Technologien, mit der Menschen regiert werden, werden mit der Entwicklung des Staates auch zum Gegen-stand einerakademischen Disziplin, die z. B. an der Universität Göttingen als „Polizey-wissenschaft“ gelehrt wurde. Diese Universität habe für die politische Entwicklung Europas deswegen erhebliche Bedeutung, da dort wichtige Beamte aus Preußen, Österreich und Russland ausgebildet wurden [Foucault 1999a, S. 210], die Verwaltungs-wissenschaft wurde sozusagen dort erfunden.

2.5.1. Macht und Wissen

Aus dieser Perspektive ist die Unterwerfung der Wissenschaft nicht nur eine Frage der Legitimation des Staates, sondern wird (neben der ökonomisch motivierten Unterwerfung der Wissenschaft) zu einer Machttechnik, in dem der Staat durch Verbeamtung (also auch der juridischen Erzwingung von Loyalität) der Wissenschaftler und Intellektuellen einen homogenen Korpus erzeugt (z. B.

in den Universitäten, insbesondere aber in der Verwaltung), ein „spezialisierter und professionalisierter Körper“ [St, S. 50 f.], der die gesellschaftliche Hegemonie reproduziert. Durch den gleichen Mechanismus, welcher die Intellektuellen als Träger des (Herrschafts-) Wissen zu Staatsbeamten mache, sind die eigentlichen Beamten des Staates durch ihre Beziehung zu dem Wissen und der Anwendung des Wissens aber auch zu Intellektuellen geworden [St, S. 51]. Die hegemonialen Funktionen und die Trennung von geistiger und manueller Arbeit manifestieren sich aber nicht nur in den Apparaten der Qualifikation der Arbeitskraft, sondern setzten sich ebenso in der Gesamtheit der Apparate des Staates fort (beispielsweise Parteien, kulturelle Apparate, Massenmedien) [St, S. 53].

Im Anschluss an Poulantzas´ Argumentation muss diesbezüglich auch konstatiert werden, dass die Trennung von geistiger und manueller Arbeit aktuell weiterhin vor allem in den staatlichen Apparaten der Qualifikation der Arbeitskraft und den ökonomischen Apparaten sowohl reproduziert als auch verschärft (siehe S. 161 ff.), in den anderen Apparaten dagegen die hegemo-nialen Funktionen an Bedeutung gewinnen, dies betrifft insbesondere die – in Verbindung mit der Transformation der Parteien (siehe S. 187 ff.) stehende – Entpolitisierung, „Nationalisierung“ und Infantilisierung des öffentlichen politischen Diskurses. Ebenso wird die „Aneignung“ (oder Produktion!) eines wissenschaftlichen (insbesondere des juridischen) Diskurses von zentraler Bedeutung, wenn dieser als hegemoniale Funktion erscheint, z. B. um inner-halb des öffentlichen politischen Diskurses Fragestellungen bezüglich politi-schen Handelns von der Legitimität zugunsten der Legalität zu verschieben (siehe dazu S. 151 ff.).

b) Der Diskurs des Staates ist für Poulantzas durch verschiedene herrschende Ideologien durchzogen, andererseits manifestiere sich in ihm wie gezeigt ein Wissen/eine Wissenschaft, die sich der Staat unterworfen hat. Dieser Diskurs

2.5.1. Macht und Wissen

besitze aber keine immanente Einheit, sondern er sei ein „bruchstückhafter und unvollständiger Diskurs, je nach den strategischen Plänen der Macht und den verschiedenen Klassen, an die er gerichtet ist“ [ebd.]. Der Staat produziere „für die verschiedenen Klassen immer mehrere Diskurse, die in unterschiedlicher Weise je nach der Klassenbestimmung in seinen verschiedenen Apparaten verkörpert sind“ [St, S. 30]. Das Funktionieren dieses Diskurses sei dabei davon abhängig, dass erangehört und verstanden wird, es ist „in den verschie-denen diskursiven Codes eine Übercodierung des Staates erforderlich“ [ebd.], die dieses „Verstehen“ garantiere. Die Übercodierung bilde den Rahmen der

„Homogenisierung der diskursiven Segmente“, sie werde den Subjekten durch die Vereinheitlichung der Sprache zu einer Nationalsprache und der damit verbundenen Eliminierung anderer Sprachen eingeschärft. Diese National-sprache sei zwar schon für die Gründung einer nationalen Ökonomie und eines nationalen Marktes erforderlich, für den Staat als „nationale“ politische Organi-sation aber unabdingbar. Dem Staat falle somit die Aufgabe zu, „die diskur-siven Verfahren für die Gestaltung der Materialität des Volkes/der Nation zu organisieren sowie die Sprache zu schaffen“162[St, S. 52]. Wie die Sprache sei aber ebenso die Schrift von der Trennung von geistiger und manueller Arbeit betroffen. Mehr noch als in der Sprache/dem Diskurs manifestiere sich in der Schrift diese Arbeitsteilung, jede Aktion innerhalb des Staates dokumentiere sich mit Hilfe der Schrift, eine

anonyme Schrift, die nicht einfach einen Diskurs wiederholt, sondern die einen Weg vorgibt, die bürokratische Orte und Dispositive vorzeichnet, den zentralisierten und hierarchisch gegliederten Raum diese Staates durchzieht und gestaltet. Die Schrift schafft und verräumlicht die linearen und umkehrbaren Abstände in der segmentierten und konsekutiven Kette der Bürokratisierung. [St, S. 52 f.]

Eigentümlich für den kapitalistischen Staat sei dabei, dass er die Schrift nicht wie vorkapitalistischen Staaten – in Verbindung mit dem dominanten ideologi-schen Apparat, der Kirche – den Massen vorenthält und monopolisiert, wodurch dort schon der Herrschaftscharakter der Schrift erkennbar ist. Im Gegenteil werde die Schrift in den Schulen popularisiert, gleichzeitig aber die Struktur der Schrift, ihre Orthographie und Grammatik vom Staat

„systemati-162 Ähnlich merken Deleuze/Guattari an, dass der Staat „nicht nur die Voraussetzung für die Schrift, sondern auch für das Wort, die gesprochene Sprache und das Sprachsystem“ sei [Deleuze/Guattari 1997b, S. 595 f.].

2.5.1. Macht und Wissen

siert (wenn nicht gar entdeckt) und dann zu einem Netz von Machtbeziehungen ausgebaut“ [St, S. 53]. Indem der Staat aber die Schrift propagiere, verdoppele er sie aber auch: der Staat selbst operiere mit dem offenen, nationalsprachli-chen Diskurs, der verstanden werden müsse, gleichzeitig werde das Wissen und die Macht in die Staatsschrift verlagert und von denen die Massen ausge-schlossen bleiben würden [ebd.].

Eine solche Ausschließung und Distanzierung der Massen von dem Wissen sei grundlegend für die verschiedenen Techniken der Machtausübung, sie vollziehe sich über eine „Reihe von Ritualen, Diskursformen, strukturierten Typen der Thematisierung, Formulierung und Behandlung von Problemen durch die Staatsapparate“ [St, S. 53]. Der gesamte Aufbau des Staates und seiner Praktiken folge somit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und stelle die Materialisierung der Beziehungen von Wissen und Macht dar:

Von den hierarchischen, zentralisierten und Disziplinarbeziehungen bis zu den Stufen und Knotenpunkten der Entscheidung und Ausführung, von den Ebenen der Delegation der Autorität bis zu den Formen der Verteilung und Verheimlichung des Wissens je nach der gewählten Ebe-ne (das bürokratische Geheimnis) und den Formen der Qualifikation und Rekrutierung der Staatsagenten [...] verkörpert der Aufbau des kapita-listischen Staates bis in die kleinsten Details die innerhalb der geistigen Arbeit induzierte und verinnerlichte Reproduktion der kapitalistischen Teilung zwischen geistiger und manueller Arbeit. [St, S. 52]