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Kapitel 2: Zur Staats- und Ideologietheorie

2. Der Staat – materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses

2.5. Die Materialität des Staates

2.5.2. Staat und Nation

2.5.2.2. Die kapitalistische Zeitmatrix

Ebenso wie die Raummatrix ist nach Poulantzas die Zeitmatrix, vor allem als

„gemeinsame historische Tradition“ verstanden, in Beziehung zu den Trans-formationen der Produktionsverhältnisse und der gesellschaftlichen Arbeitstei-lung zu setzen. Hierbei sei wiederum der Modus der Reproduktion von ent-scheidender Bedeutung: während die kapitalistische Gesellschaftsformation auf

2.5.2. Staat und Nation

einer erweiterten Reproduktion basiere, seien die vorkapitalistischen Gesell-schaftsformationen durch eine einfache Reproduktion gekennzeichnet. Daher seien für diese eine Zeitmatrix der pluralen und singulären Zeiten spezifisch, jede dieser Zeiten sei dabei „kontinuierlich, homogen, reversibel und repetitiv“

[St, S. 100]. Jede der in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen ver-schiedenen gesellschaftlichen Praxen vorhandene Zeit sei „flüssig und fließend“, aber nicht messbar, denn es bestehe in diesen Gesellschaftsformati-onen eben keine Referenz-Zeit, kein universelles Maß, auf die sich eine solche Messung beziehen könnte [ebd.]. Demgegenüber zeichne sich die kapitalisti-sche Zeitmatrix dadurch aus, dass sich die kapitalistikapitalisti-sche Produktionsweise in diese eingeschrieben hat165:

Maschinerie und große Industrie und die Fließbandarbeit implizieren eine segmentierte, serielle, in gleiche Momente unterteilte, kumulative und irreversible, da auf das Produkt orientierte Zeit; durch das Produkt ist die Zeit auf die erweiterte Reproduktion, die Akkumulation des Kapitals gerichtet. [St, S. 102]

Die kapitalistische Zeit sei somit durch die Aufsichtsagenten des kapitalisti-schen Produktionsprozess mess- und kontrollierbar und werde so zu einer universellen Zeit, die zwar weiterhin segmentiert und serialisiert ist, aber die jeweiligen anderen gesellschaftlichen Zeiten als differenzielle Zeitformen, als von der Zeit des Produktionsprozesses differente Zeiten, als „Variationen des Rhythmus und der Skandierung einer seriellen, segmentierten, irreversiblen und kumulativen Zeit“ setzt [St, S. 103]. Diese Zeitmatrix schreibt sich Poulantzas zufolge wie die Raummatrix in die Materialität des Staates ein und werde Teil der politischen Herrschaft – zum einen, indem diese Zeitmatrix in der Formierung der Subjekte anwesend ist, zum anderen, in dem sie in den Techniken der Macht und den staatlichen Institutionen wie Armee, Schule und Gefängnis anwesend ist. Die Vereinheitlichung der segmentierten Zeit werde selbst zu einer Aufgabe des Staates, so dass dieser Herrschaft und Kontrolle über die Zeit gewinnen müsse. Dies erreiche der Staat durch die Normierung und Vereinheitlichung der Zeit, auf die sich in der Folge alle anderen gesell-schaftlichen Zeitformen beziehen. Die ungleichzeitige Entwicklung des Kapita-lismus, also die zeitlich differenten Entwicklungen von Ökonomie, Ideologie

165 Auch hier lassen sich bei Foucault Hinweise zu einer Konzeption verschiedener Zeiten und der Verbindung der verschiedenen Zeitformen mit den Techniken der Macht und dem Produktionsprozess finden, siehe ÜuS 186 f., S. 192 ff., 197 ff.

2.5.2. Staat und Nation

und Politik, würden so durch den Staat aufeinander bezogen und homogenisiert [St, S. 105].

Laut Poulantzas fällt in diesem Zusammenhang die Nation mit dem Staat in einem doppelten Sinn zusammen: entweder indem sie mit dem bestehenden Staat identisch wird oder sich selbst zum Staat – als Jakobinismus oder Separa-tismus – konstituiert. Hier wirke dann die Zeitmatrix auf eine neue Art, indem die Tradition/Historizität nicht mehr auf die Erinnerung gerichtet ist, sondern auf das Hier und Jetzt: die Tradition wirke auf den Prozess der Bildung des Staates entweder beschleunigend oder bremsend und „deckt sich mit einer Aufeinanderfolge von Momenten, die eine irreversible, vom Staat skandierte Geschichte produzieren“ [St, S. 106]. Die Nation wie die nationale Tradition/

Geschichte werde vom Staat organisiert und monopolisiert,

der moderne Imperialismus ist auch Homogenisierung der Zeitsequenzen und Assimilierung der Geschichten durch den Nationalstaat. Die Forderungen nach nationaler Autonomie und eigenem Staat im modernen Zeitalter bedeuten in der kapitalistischen Historizität die Forderung nach einer eigenen Geschichte. [ebd.]

Wenn auch der Staat nicht das Subjekt der Geschichte sei, könne über die Zeitmatrix erklärt werden, warum der Staat als Zentrum in der Geschichts-schreibung erscheine. Dass beispielsweise zwar grundsätzlich eine Geschichte des internationalen Proletariats geschrieben werden könnte, de facto aber eine Geschichte des nationalen Proletariats geschrieben werde, sei nicht auf ideolo-gische Mechanismen zurückzuführen, sondern darauf, dass „die Geschichte“ in einem spezifischen Zusammenhang mit dem Staat und der Nation stehe, diese Verbindung sei eine Wurzel des modernen Totalitarismus.

Die Beherrschung und Vereinheitlichung der Zeit und ihre Erhebung zum Machtinstrument, die Totalisierung der Historizitäten durch die Vernich-tung der Unterschiede, die Serialisierung und Segmentierung der Momente, um sie auszurichten und zu kumulieren, die Entsakralisierung der Geschichte, um sie in Beschlag zu nehmen, die Homogenisierung von Volk und Nation durch das Fälschen und Auslöschen der eigenen Vergangenheit: all diese Prämissen des modernen Totalitarismus exis-tieren in der in die modernen Staaten eingeschriebenen Zeitmatrix, die schon von den Produktionsverhältnissen und der kapitalistischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung impliziert wird. [St, S. 107]

Der Staat verbinde die räumlichen und zeitlichen Matrizes und führe so eine Verbindung von Territorium und Geschichte her. Die Geschichte werde vom

2.5.2. Staat und Nation

Staat dadurch totalisiert und kapitalisiert, sie finde nur noch in Bezug auf das eigene Territorium und den Staat selbst statt.

Der kapitalistische Staat setzt die Grenzen, indem er das konstituiert, was innen ist – Volk und Nation [...]. Die nationale Einheit, die moderne Nation, wird so zur Historizität eines Territoriums und zur Territori-alisierung einer Geschichte [...]. Die Grenzmarkierungen des Territori-ums werden zu Orientierungspunkten der Geschichte, die im Staat vorgezeichnet sind. [ebd.]

Indem der Staat so das Innen und Außen bezüglich des Territoriums und der Geschichte definiert, könne er auch dadurch dazu übergehen, die Fremdkörper innerhalb der Volksnation zu identifizieren und zu liquidieren. Die Völkermor-de wie die Konzentrationslager seien somit als eine finale Ausschließung dieser Fremdkörper aus dem nationalen Raum und der nationalen Zeit zu begreifen [ebd.]166.