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Gramsci-Exkurs II: Die Intellektuellen

Kapitel 2: Zur Staats- und Ideologietheorie

2. Der Staat – materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses

2.5. Die Materialität des Staates

2.5.1. Macht und Wissen

2.5.1.1. Gramsci-Exkurs II: Die Intellektuellen

Im Gegensatz zu bürgerlichen Analysen und der Mehrzahl der marxistischen Autoren, die den Begriff des Intellektuellen möglichst eng fassen, um – basie-rend auf den sozialen Bedingungen desselben – mögliche Bündnispartner der Arbeiterbewegung zu entdecken, versuchte Gramsci, den Begriff des Intellektuellen aus einer politisch-funktionalen Sicht zu entwickeln [Priester 1981, S. 91].

Unter Intellektuellen darf man nicht nur jene allgemein mit dieser Be-zeichnung erfassten Schichten verstehen, sondern im allgemeinen die gesamte soziale Schicht, die organisatorische Funktionen im weiten Sinne ausübt, sei es auf dem Gebiet der Produktion, auf kulturellem wie auf politisch-administrativen Gebiet: sie entsprechen den Unteroffizieren in der Armee und teilweise auch den höheren Offizieren subalternen Ursprungs. Um die politisch-soziale Funktion der Intellektuellen zu analysieren, muss man ihre psychologische Haltung zu den Grundklassen untersuchen. [zit. nach Priester 1981, S. 91]

Die Arbeitsfelder der Intellektuellen werden hier bereits angedeutet: Ökono-mie, Kultur, Politik. Allerdings definiert Gramsci die Intellektuellen nicht über den Inhalt ihrer Tätigkeit, sondern aus ihrer gesellschaftlichen Stellung bezüg-lich der Klassenverhältnisse [Gh, Bd. 7, S. 1499]. Innerhalb der Analyse Gramscis stellen die Intellektuellen zwar eine soziale Schicht, aber keine eige-ne Klasse dar. Vielmehr bringe jede (fortschrittliche) Klasse eigeeige-ne Intellektu-elle hervor, die im Interesse der jeweiligen Klasse eine Vermittlungsfunktion zwischen den ökonomischen, kulturellen und politischen Strukturen wahr-nehmen.

Jede gesellschaftliche Gruppe schafft sich, während sie auf dem originären Boden einer wesentlichen Funktion in der Welt der ökonomischen Produktion entsteht, zugleich organisch eine oder mehrere Schichten von Intellektuellen, die ihr Homogenität und Bewusstsein der eigenen Funktion nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich geben. [ebd., S. 1497]

Die Entwicklung dieser „organischen Intellektuellen“ ist für Gramsci somit von der ökonomischen Basis der jeweiligen Klasse abhängig, der sie entwachsen.

Am Beispiel der besitzenden Klasse konkretisiert Gramsci diese historische Herausbildung der Intellektuellen und entwickelt die ökonomische und gesell-schaftliche Funktion der Intellektuellen in Bezug auf die Ökonomie, „der kapi-talistische Unternehmer schafft mit sich den Techniker der Industrie, den Wissenschaftler der politischen Ökonomie, den Organisator einer neuen Kultur,

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eines neuen Rechts usw. usf.“ [ebd.]. Dieser Herausbildungsprozess auf ökonomischem, juristischem und kulturellem ist eine für die jeweilige Klasse notwendige (intellektuelle) Aufgabe, die wiederum selbst von Repräsentanten oder „Spezialisten“ derselben durchgeführt wird.

Wenn nicht alle Unternehmer, so muss doch zumindest eine Elite derselben eine Fähigkeit als Organisator der Gesellschaft im allgemeinen haben, in ihrem ganzen komplexen Organismus von Dienstleistungen bis hin zum staatlichen Organismus, wegen der Notwendigkeit, die günstigsten Bedingungen für die Ausdehnung der eigenen Klasse zu schaffen; beziehungsweise muss sie zumindest die Fähigkeit besitzen, die

„Gehilfen“ (spezialisierte Angestellte) auszuwählen, denen diese Tätigkeit des Organisierens der außerbetrieblichen allgemeinen Verhältnisse anvertraut werden kann. [ebd.]

Zum einen vollzieht sich die Herausbildung von Intellektuellen immer vor dem historischen Hintergrund der Entwicklung der Produktionsverhältnisse, zum anderen findet jede sich entwickelnde Klasse bereits Gruppen von Intellektu-ellen vor, die „traditionIntellektu-ellen IntellektuIntellektu-ellen“:

Aber jede „wesentliche“ gesellschaftliche Gruppe, die aus der vorhergehenden ökonomischen Struktur und als Ausdruck einer Entwicklung derselben (dieser Struktur) in der Geschichte auftaucht, hat, zumindest im bisherigen Verlauf der Geschichte, bereits bestehende Gesellschaftskategorien vorgefunden, die geradezu als Repräsentanten einer selbst durch die komplexesten und radikalsten Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Formen nicht unterbrochenen geschichtlichen Kontinuität erschienen. [ebd., S. 1498]

Diese „traditionellen Intellektuellen“ seien vor allem die Personen, die in dem

„Überbau“ der alten Gesellschaft tätig sind, welcher von der neu entstehenden Gesellschaftsformation vorgefunden wird, also vor allem Richter, Verwal-tungsbeamte usw.; als Vertreter der traditionellen Mittelklassen kommt ihnen erheblicher politischer Einfluss zu [Bischoff 1981, S. 111]. Mitentscheidend für den Erfolg einer Klasse, die versucht, selbst herrschende Klasse zu werden,

ist ihr Kampf um die Assimilierung und „ideologische“ Eroberung der traditionellen Intellektuellen, eine Assimilierung und Eroberung, die um so schneller und wirksamer ist, je mehr die gegebene Gruppe gleichzeitig ihre eigenen organischen Intellektuellen heranbildet. [Gh, Bd. 7, S. 1500]

Diese Assimilierung oder dieses Bündnis mit den traditionellen Intellektuellen [Kebir 1980, S. 86] sei u.a. dadurch möglich, dass die organischen, fortschritt-lichen Intellektuellen eine „Ausstrahlung“ auf die traditionellen Intellektuellen haben würden. Zum anderen herrsche innerhalb der Gruppe der Intellektuellen

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ein ausgeprägtes Standesdünkel, das durch die eigene (falsche) Annahme, von den anderen gesellschaftlichen Klassen unabhängig zu sein, verursacht sei:

Es gibt keine unabhängige Klasse von Intellektuellen, sondern jede soziale Gruppe besitzt eine eigene Schicht von Intellektuellen oder ist bestrebt, sie sich zu schaffen; aber die Intellektuellen der geschichtlich (und tatsächlich) fortschrittlichen Klassen üben unter den jeweiligen Bedingungen eine solche Anziehungskraft aus, dass sie sich schließlich die Intellektuellen der anderen sozialen Gruppen unterordnen und auf diese Weise ein System der Solidarität aller Intellektuellen herbeiführen, deren Bindemittel psychologischer (Eitelkeit usw.) und häufig kastenmäßiger (technisch-juristischer, ständischer usw.) Art sind. [Gh, Bd. 2, S. 279]

Als für Italien prägende Gruppe traditioneller Intellektueller erkannte Gramsci die Kirche. Im Feudalismus habe die Priesterkaste

einige wichtige Dienstleistungen monopolisiert [...]: die religiöse Ideologie, das heißt die Philosophie und die Wissenschaft der Epoche, einschließlich der Schule, des Bildungswesens, der Moral, der Justiz, der Wohltätigkeit, der Fürsorge usw. Die Kategorie der Kirchenmänner kann als die organisch an die grundbesitzende Aristokratie gebundene Intellektuellenkategorie betrachtet werden: sie war juristisch der Aristokratie gleichgestellt, mit der sie sich in die Ausübung des feudalen Eigentums am Boden und in den Genuss der an das Eigentum gebundenen staatlichen Privilegien teilte. [Gh, Bd. 7, S. 1498]

Die historische Entwicklung vom feudalistischen zum bürgerlichen Staat habe in der Folge bewirkt, dass zum einen die Mehrzahl der ehemals durch die Kirche wahrgenommenen Funktionen (Bildung, Justiz usw.) nun vom bürgerli-chen Staat wahrgenommen und die „Ideologie“ im engeren Sinn (Philosophie, Wissenschaft) innerhalb der „Zivilgesellschaft“ (also spezifischer Staatsappa-rate) entwickelt und verbreitet werde. Dieser Entwicklung entsprechend haben sich neue Schichten von Intellektuellen innerhalb der Staatsapparate gebildet.

Gleichzeitig würden aber die traditionellen Intellektuellen und ihre Institutio-nen fortbestehen, wobei sie nicht unbedingt eiInstitutio-nen Anachronismus darstellen, sondern durch ihre Assimilierung in der Gesellschaftsformation weiterhin eine hegemoniale Funktion ausüben. Vor dem Hintergrund seiner Staatstheorie kann Gramsci auch bezüglich der politischen Herrschaft des Bürgertums die Funktionen der Intellektuellen innerhalb der beiden Sphären des integralen Staates konkret benennen:

Vorläufig lassen sich zwei große superstrukturelle „Ebenen“ festlegen – diejenige, die man die Ebene der „Zivilgesellschaft“ nennen kann, d. h.

des Ensembles der gemeinhin „privat“ genannten Organismen, und diejenige der „politischen Gesellschaft oder des Staates“ –, die der

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Funktion der „Hegemonie“, welche die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft ausübt, und der Funktion der „direkten Herr-schaft“ oder des Kommandos, die sich im Staat und in der „formellen“

Regierung ausdrückt, entsprechen. Diese Funktionen sind eben organisierend und verbindend. Die Intellektuellen sind die „Gehilfen“ der herrschenden Gruppe bei der Ausübung der subalternen Funktionen der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung, nämlich:

1. des „spontanen“ Konsenses, den die großen Massen der Bevölkerung der von der herrschenden grundlegenden Gruppe geprägten Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens geben, eines Konsenses, der „historisch“

aus dem Prestige (und folglich aus dem Vertrauen) hervorgeht, das der herrschenden Gruppe aus ihrer Stellung und ihrer Funktion in der Welt der Produktion erwächst;

2. des staatlichen Zwangsapparats, der „legal“ die Disziplin derjenigen Gruppen gewährleistet, die weder aktiv noch passiv „zustimmen“, der aber für die gesamte Gesellschaft in der Voraussicht von Krisenmomenten im Kommando und in der Führung, in denen der spontane Konsens schwindet, eingerichtet ist. [ebd., S. 1502]

Somit muss in der Konzeption Gramscis jede Klasse, die die Hegemonie erlangen will, neben den Intellektuellen, die sie zur Organisierung der ökono-mischen Struktur braucht, zwei weitere Typen von Intellektuellen hervorbring-en: zum einen die Schicht der Intellektuellen, die den politisch-administrativen Apparat bedient, also vor allem Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, zum anderen die Intellektuellen, die den Konsens der beherrschten Massen organisieren: Journalisten, Künstler, Lehrer usw.159 Gleichzeitig muss sie versu-chen, die traditionellen Intellektuellen zu gewinnen und in die neuen Apparate einzubinden. Die Organisation in den hegemonialen wie den administrativen Apparaten

führt zwar zu einer gewissen Arbeitsteilung und folglich zu einer ganzen Abstufung von Qualifikationen, von denen einige keinerlei Merkmale leitender oder organisierender Art mehr aufweisen: im gesellschaftlichen und staatlichen Führungsapparat gibt es eine ganze Reihe von Beschäftigungen manuellen und instrumentellen Charakters. [...] In der Tat muss die intellektuelle Tätigkeit auch von innen her in Stufen unter-schieden werden, Stufen, die in ihren extrem entgegengesetzten Momenten einen regelrechten qualitativen Unterschied ausmachen: auf die höchste Stufe wären die Schöpfer der verschiedenen Wissenschaften, der Philosophie, der Kunst usw. zu stellen; auf die niedrigste die beschei-densten „Verwalter“ und Popularisatoren des bereits vorhandenen, traditionellen, angehäuften intellektuellen Reichtums. [ebd., S. 1502 f.]

159 Der Wirkungsbereich der Intellektuellen ist somit nicht allein auf die Zivilgesellschaft beschränkt, wie von Roth behauptet [Roth 1972, S. 110]

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Die politischen und hegemonialen Aufgaben der Intellektuellen bedingen somit, dass sich die Anzahl derselben nicht mehr allein aus den ökonomischen Bedingungen ergibt, sondern ebenso durch die Notwendigkeit der Besetzung des Staatsapparates wie durch die hegemonialen Funktion der Intellektuellen bestimmt wird. Je mehr die Hegemonie zu schwinden beginnt, um so mehr müssen durch die herrschende Klasse die administrativen und hegemonialen Apparate ausgebaut, neue Intellektuelle herangezogen werden.