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Kapitel 2: Zur Staats- und Ideologietheorie

2. Der Staat – materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses

2.5. Die Materialität des Staates

2.5.2. Staat und Nation

2.5.2.1. Die kapitalistische Raummatrix

Poulantzas spezifiziert die Raummatrix dahingehend, dass das (nationale) Territorium selbstverständlich nicht „natürlich“ gegeben ist, sondern dass es je nach Produktionsweise spezifische Raummatrizes gebe. Diese Matrizes beschreiben nach Poulantzas nicht einfach eine lineare Folge von Aneignungs-formen des Raums, sondern folgen verschiedenen Dispositiven zur Organisa-tion des gesellschaftlichen Raums. Diese Dispositive hätten selbst aber kein

„inneres Wesen“, weshalb in der Untersuchung dieser Dispositive vor allem ihre Diskontinuitäten untersucht werden müssen. Diese Diskontinuitäten dürf-ten allerdings nicht, wie nahe liegt,einfachmit den Produktionsverhältnissen in Verbindung gebracht werden, denn dies würde bedeuten, dass sich die Diskon-tinuitäten/die Transformationen der Dispositive immer auf einen gleichen grundlegenden Gegenstand – den „Raum“ – beziehen würden. Das hieße aber, dass dieser „Raum“ je nach Produktionsweise lediglich unterschiedlich ange-eignet, eingegrenzt oder modifiziert werde. Demgegenüber sei aber vielmehr

163 Dieser theoretische Ansatz wird von Hirsch aufgegriffen, vgl. Hirsch 1994a.

2.5.2. Staat und Nation

anzunehmen, dass die verschiedenen Produktionsweisen den Raum nicht lediglich verschieden „behandeln“ – der gesellschaftliche Raum besteht nicht a priori, sondern wird selbst produziert, die Dispositive zur Aneignung des gesellschaftlichen Raums materialisieren die „differenziellen Raummatrizes [...], die schon in ihrem Aufbau vorhanden sind. Die Genealogie der Produktion des Raumes geht der Geschichte seiner Aneignung voraus“ [St, S.

93; Hervorhebung S.v.B.].

Kennzeichnend für die antike Produktionsweise sei beispielsweise, dass sie einen „kontinuierlichen, homogenen, symmetrischen, reversiblen und offenen Raum“ impliziere. Sie besitze ein Zentrum (die Polis), von dem sich der Raum aus homogen entfalte. Dieser Raum habe keine Grenze und definiere dadurch kein „Außen“, der Raum sei weder differenziert noch hierarchisch. Die antiken Reiche hätten sich demzufolge nicht ausgedehnt, indem sie ihre Grenzen immer weiter verschoben hätten, sondern indem sie sich in einem homogenen Feld ausgedehnt hätten (tendenziell würden diese Eigenschaften des gesellschaftlichen Raums auch für den Feudalismus gelten) [St, S. 93 f.].

Im Gegensatz dazu stehe die Produktion und Aneignung des gesellschaft-lichen Raums im Kapitalismus, denn hier stehe das Territorium in Verbindung mit der Konstitution der modernen Nation – und natürlich mit den spezifischen Merkmalen der kapitalistischen Produktionsweise. Bei der Untersuchung der Rolle des Territoriums sei daher vor allem davon auszugehen, dass die ent-wickelte gesellschaftliche Arbeitsteilung innerhalb dieser Produktionsweise eine völlig neue Raummatrix voraussetzt, einen „seriellen, fraktionierten, dis-kontinuierlichen, parzellierten, zellenförmigen und irreversiblen Raum, der für die tayloristische Teilung der Fließbandarbeit in der Fabrik charakteristisch ist“164 [St, S. 96]. Indem der Raum parzelliert wird, entstehen Poulantzas zufolge nun erstmals Grenzen im modernen Sinn, die ein Innen und Außen definieren und die „auf einem seriellen und diskontinuierlichen Raster verscho-ben werden können“ [ebd.]. Dieses durch die neu entstandene Grenzen abgesteckte Territorium stehe in Beziehung mit den kapitalistischen Produk-tionsverhältnissen, diese

164 Ähnlich formulieren Deleuze/Guattari: „Schließlich hat der Kapitalismus nicht durch die Stadtform, sondern durch die Staatsform triumphiert“ [Deleuze/Guattari 1997b, S. 602].

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implizieren diesen Raum als Zerstückelung des Arbeitsprozesses in kapi-talistische Produktions- und Reproduktionseinheiten. Die ungleiche Ent-wicklung des Kapitalismus ist in seiner verräumlichten Dimension mit dieser diskontinuierlichen Morphologie wesensgleich [...]. Die Anfänge des Territoriums als konstitutives Element der modernen Nation sind in diese Raummatrix eingeschrieben. [St, S. 97]

Das nationale Territorium sei folglich nicht „natürlicher“ Raum, sondern im wesentlichen politisch, da der Staat die Verfahren zur Organisation des Raumes monopolisiert habe und in seinen Apparaten diese Raummatrix materialisiere und die – der Arbeitsteilung und damit verbunden der territorialen Organisation – unterworfenen Individuen beherrscht.

Denn die Individualisierung des politischen Körpers zu identischen, dem Staat gegenüber jedoch getrennten Monaden beruht auf dem Aufbau des Staates, der in die Raummatrix eingeschrieben ist, die der Arbeitsprozess impliziert. Die modernen Individuen sind die Bestandteile der modernen Staaten und Nationen. Volk und Nation des kapitalistischen Staates stellen die Zielscheibe eines Raums dar, dessen Grenzen die passenden Konturen für die materiellen Eroberungen und Verankerungen der Macht bilden. Die segmentiere Kette dieser individualisierten Orte umschließt das Innen des nationalen Territoriums als staatlichen Abschnitt der Machtausübung. [...] Die unmittelbaren Produzenten werden nur vom Boden befreit, um eingerastert zu werden; in den Fabriken natürlich, aber auch in den Familien im modernen Sinne, in den Schulen, der Armee, den Gefängnissen, den Städten und Territorien der Nation. Das bewahr-heitet sich bis hin zu den Modalitäten der Machtausübung im kapita-listischen Ausnahmestaat: Die Konzentrationslager sind auch in dem Sinne eine moderne Erfindung, dass sie dieselbe Raummatrix der Macht materialisieren wie das nationale Territorium. [ebd.]

Das Territorium wie die Grenzen desselben sind nach Poulantzas auch be-züglich der Rolle des Staates zur Organisation der nationalen Einheit von Be-deutung: wenn durch die Territorialisierung Grenzen gezogen werden, vollzieht der Staat eine Homogenisierung des eingeschlossenen Raums und konstituiert mit dieser Vereinheitlichung die moderne Nation, „der Staat setzt die Grenzen dieses seriellen Raumes in demselben Prozess, indem er das eint und homoge-nisiert, was diese Grenzen einschließen“ [St, S. 98]. Hier steht die bereits ange-sprochene Individualisierung im Zusammenhang mit der Gründung der Nation:

Der Staat verwirkliche die Einheit der Individuen als „Volk und Nation“, mit der „politisch-öffentlichen Homogenisierung“ setze er aber mit dieser Bewe-gung gleichzeitig die „private Dissoziation“ durch. Mit der Homogenisierung stehe ebenso der einheitliche nationale Markt in Beziehung: der (abgeschlos-sene) Markt sei nicht vor dem Staat oder der Nation existent, sondern werde in

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dem Homogenisierungsprozess geschaffen, indem erst in diesem Prozess die Grenzen von Innen und Außen gezogen werden [ebd.].

Die Schaffung von nationalen Grenzen im modernen Sinn und der Abgrenzung eines „irreversiblen und begrenzten Raums“ impliziere weiterhin, dass zunehmend die Verschiebung dieser Grenzen im Zentrum steht, also ins-besondere im Imperialismus die Frage der Ausdehnung der Märkte, der Territo-rien und des Kapitals im Zentrum des staatlichen Handelns steht: „Diese Grenzen werden erst von dem Augenblick an [...] gesetzt, indem es [...] darum geht, sie zu überschreiten“ [St, S. 99]. Diese Verschiebung der Grenzen, die tendenziell selbst ohne Grenze ist, bedeute im Gegensatz zur Vergangenheit nicht mehr eine Ausbreitung in einem homogenen Raum, der lediglich angefügt wird, sondern eine „Expansion durch Lücken, die man ausfüllt“. Dieses Aus-füllen werde durch die Homogenisierung der Unterschiede und der Vernich-tung des „Fremdkörpers“ innerhalb der Nation erreicht, nur so sei der Völker-mord als spezifische Erscheinung des modernen Staates zu verstehen: während in der Antike und im Feudalismus sich die Bewegung der territorialen Expan-sion in einen homogenen und offenen Raum ausgebreitet und dort die Bevölke-rung undifferenziert massakriert habe, sei der Völkermord und das Konzentra-tionslager eine Erfindung des modernen Staates, die Identifizierung und die Umschließung des „Fremdkörpers“ sei erst möglich, indem der nationale Raum definiert werde. Die physische Eliminierung des „Fremdkörpers“ sei charakteristisch für den modernen Totalitarismus:

Trennen und teilen um zu vereinigen, zerstückeln um einzurastern, ato-misieren um einzuverleiben, segmentieren um zu totalisieren, einzu-frieden um zu homogenisieren, individualisieren, um die Veränderungen und Unterschiede auszumerzen: die Wurzeln des Totalitarismus sind in die Raummatrix eingeschrieben, die der moderne Nationalstaat materiali-siert und die schon in seinen Produktionsverhältnissen und der kapita-listischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung anwesend sind. [St, S. 100]