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Autoritärer Etatismus, Totalitarismus, Faschismus

Kapitel 2: Zur Staats- und Ideologietheorie

2. Der Staat – materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses

2.6. Der moderne Staat – Autoritärer Etatismus

2.6.1. Autoritärer Etatismus, Totalitarismus, Faschismus

a) Poulantzas bringt den modernen kapitalistischen Staat mit dem Totalita-rismus in Verbindung, setzt die beiden Begriffe aber nicht gleich, sondern begrenzt den Begriff des Totalitarismus, um nicht (wie beispielsweise Maoisten in den 70er Jahren) die bürgerlich-parlamentarische Staatsform mit dem Faschismus gleichzusetzen. Die moderne bürgerlich-parlamentarische Staats-form bezeichnet Poulantzas als autoritären Etatismus, dieser zeichne sich dadurch aus, das einhergehend mit dem zunehmenden Eingreifen des Staates in alle gesellschaftlichen Bereiche die formalen demokratischen Rechte der Individuen als auch die demokratischen politischen Institutionen zusehends eingeschränkt und beschnitten werden [St, S. 185 f.]. Wie der liberale Staat offensichtlich den Produktionsverhältnissen und der Arbeitsteilung des Kon-kurrenzkapitalismus und der Interventionsstaat den Produktionsverhältnissen des Imperialismus und Monopolkapitalismus „entsprochen“ habe, scheine der moderne Etatismus wiederum auf massive strukturelle Verschiebungen in den Produktionsverhältnissen, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Arbeitsprozesse – national wie international – hinzudeuten. Ebenso verweise das Entstehen des autoritären Etatismus auf die weltweit stattfindenden Transformationen in den Klassen und Klassenkämpfen. Das bedeute aber nicht, diese Staatsform als bloßes „Oberflächenphänomen“ zu begreifen, das sich aus einer kurzfristigen politischen Konstellation ergebe, sondern es sei zu ver-muten, dass die bisher gekannten politischen Formen des Repräsentativstaates offensichtlich überholt seien [St, S. 186 f.]. Dies sei darauf zurückzuführen, dass der autoritäre Etatismus sowohl mit einer politischen Krise als auch mit einer Krise des Staates in Zusammenhang stehe. Die sich entwickelnde

2.6.1. Autoritärer Etatismus, Totalitarismus, Faschismus

Staatsform sei weder als moderner totalitärer Staat zu bezeichnen, der durch einen manipulativen Kapitalismus die Klassenkämpfe durch Integration „still-gelegt“ hätte, noch, wie in funktionalistischen oder systemtheoretischen Ansätzen, als selbstregulierendes System, in dem ebenso die Klassenkämpfe verschwunden seien – genauer: in diesen Theorien politische Krisen überhaupt undenkbar seien202. Die politische Krise wie die Krise des Staates hätten nicht eine unmittelbare Stärkung des Staates zur Folge, sondern die Auswirkungen auf die Stärke des Staates seien durchaus ambivalent; der Staat sei, „obwohl sein autoritärer Etatismus erschreckend real ist, ein Koloss auf tönernen Füßen, der sich bei seiner Flucht auf schwankendem Boden bewegt“ [St, S. 187].

Die politische Krise, die die entwickelten kapitalistischen Länder erfasst habe, sei aber nicht auf eine ökonomische Krise reduzierbar, ebenso wenig könne die Krise des Staates auf die politische Krise reduziert werden, denn gerade der kapitalistische Staat zeichne sich dadurch aus, politische Krisen

„managen“ zu können, so dass diese Krisen nicht zu politischen Staatskrisen (sprich: revolutionären Situationen) wachsen würden. Weiterhin sei für diesen Staat charakteristisch, dass diese Krisen beständig in ihm anwesend seien und zu seinen generischen Elementen gehören würden (ebenso wie die ökonomi-sche Krise generisch zur Ökonomie gehört). Die politiökonomi-sche Krise sei dabei mit der ökonomischen Krise verbunden, die Häufung der generischen Elemente sei ein strukturelles Merkmal des Staates, „der autoritäre Etatismus scheint zu-gleich ein Resultat des Anwachsens dieser Krisenelemente, als auch eine Antwort darauf zu sein“ [St, S. 188 f.].

Die politische Krise, die sich in einer Staatskrise niederschlägt, könne aber nicht a priori mit einem Faschisierungsprozess gleichgesetzt werden.

202 Sicherlich gibt es zwischen dem strukturalistischen Marxismus und der Systemtheorie Ähnlichkeiten, insbesondere in der Annahme der Gliederung der Gesellschaft in verschie-dene Instanzen (Subsysteme) und der Determinierung dieser Instanzen untereinander.

Allerdings hat Poulantzas darauf hingewiesen, dass in der Systemtheorie (insbesondere in der Konzeptionen Luhmanns und Parsons) Widerspruch in starkem Sinn (als selbst-negatorische Tendenz des gesamten Systems) nicht denkbar ist. Die Abgrenzung von (strukturalistischem) Marxismus und Systemtheorie kann in diesem Zusammenhang erweitert werden: für eine marxistische Theorie der kapitalistischen Gesellschaft sind bestimmte Widersprüche für diese Gesellschaft konstitutiv, die Gesellschaft befindet sich daher immer in einer potenziell krisenhaften Situation. Ebenso hat Offe angemerkt, dass bei Luhmann der Begriff derHerrschaftüberhaupt nicht vorkommen kann. Schließlich ist auch anzumerken, dass das Konzept Luhmanns wiederum monistisch aufgebaut ist, indem ein „Prinzip“ (Kommunikation) herangezogen wird, um das theoretische Objekt „Gesell-schaft“ zu konstituieren. Dadurch ist Luhmann gezwungen, die Begrifflichkeiten so auszuweiten (vgl. Offe 1973, S. 82), dass sie schließlich alles beschreibt.

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Sicherlich seien die Grundzüge des Totalitarismus in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zu suchen (vgl. dazu oben die Ausführungen zur Individualisierung und Gesetz), diese Elemente würden sich aber nicht expressiv entfalten, um sich „den Weg zu ihrer endlichen Verwirklichung im universellen Totalitarismus [zu] bahnen“ [St, S. 189], das Entstehen einer totalitären Staatsform sei immer auch mit den konkreten Klassenbeziehungen verbunden203. Aus diesem Grunde könne auch der bürgerliche „Ausnahmestaat“

– der bonapartistische, faschistische oder militärdiktatorische Staat – nicht als für eine bestimmte kapitalistische Phase notwendige Staatsform anerkannt werden204. Der Ausnahmestaat erscheine nur, wenn ein spezielle Krise vorliegt:

eine Krise, die den Staat durch den Bruch „mit den regulären Formen der Reproduktion der bürgerlichen politischen Herrschaft“ zu überwinden versucht [St, S. 190].

Von den genannten bürgerlichen Ausnahmestaaten sei der autoritäre Etatismus zu unterscheiden, denn ist die ihm eigene politische Krise qualitativ verschieden, er sei weiterhin „eine 'demokratische' Form der bürgerlichen Republik“ [St, S. 191]. Im Gegensatz zum faschistischen Staat, der immer einen echten Bruch innerhalb des Staates impliziere und auf einer historischen Niederlage der Arbeiterklasse basiere205, existiere bei der Durchsetzung des autoritären Etatismus eine solche Niederlage nicht. Dennoch sei auch das Gegenüberstellen „Liberaler Staat“ – „Ausnahmestaat“ nicht aufrechtzuerhal-ten. Entgegen den Apologeten des „liberalen“ Staates insistiert Poulantzas auf die Gemeinsamkeiten der bürgerlichen Demokratie/des autoritären Etatismus und dem Totalitarismus. Hierbei sei insbesondere festzuhalten, dass beide Staatsformen zu der selben Phase der kapitalistischen Entwicklung gehören würden und jede kapitalistische demokratische Staatsform totalitäre Tendenzen enthalte [St, S. 191]. Ein Merkmal des autoritären Etatismus sei, dass sich

203 Bei allen Vorbehalten gegenüber sogenannter Totalitarismustheorien: werden die Staaten des ehemaligen „realexistierenden Sozialismus“ als genealogisch mit dem Kapitalismus verbunden eingeordnet (Trennung in Klassen, tayloristische Produktionsorganisation etc.), können so immerhin die „totalitären“ Staatsformen auf einer theoretischen Basis analysiert werden, die nicht auf einem Merkmalskatalog [Friedrich 1957] oder dem Vergleich von Opferzahlen (so z. B. die „neuen Philosophen“ in Frankreich, vgl. Courtois/Werth/Panne 1999) beruht.

204 Zu Analyse des „Ausnahmestaates“ vgl. Poulantzas 1973d sowie Poulantzas 1977.

205 Der Faschismus sei folglich nicht als Reaktion auf eine Zunahme der Volksbewegungen zu begreifen (wie im Marxismus-Leninismus oft behauptet), sondern sei im Gegenteil Resultat des Scheiterns dieser Bewegungen [St, S. 191].

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angesichts der Klassenkämpfe ein „institutionelles Präventiv-Dispositiv“ [St, S.

192] aufbaue, ein „Arsenal“, das „nicht immer an vorderster Front der Macht-ausübung eingesetzt“ werde, aber ständig für den Faschisierungsprozess bereit-stehen würde [ebd.]. Denn, anders als bei den historischen Faschismen, die den Staat „auf kaltem Wege“ übernommen hätten, würde ein neuer Faschismus in den westlichen Staaten aus dem Staat selbst heraus entstehen, er wäre ein

„Bruch im Inneren des Staates“ entlang von Nahtlinien, „die in seiner gegen-wärtigen Konfiguration längst vorgezeichnet sind“ [ebd.].

Der autoritäre Etatismus sei als Staatsform des kapitalistischen Systems natürlich auch nur eine Scheinlösung für die Widersprüche bürgerlicher Herr-schaft und kapitalistischer Produktion206, den dieser sei ebenso wenig in der Lage, die Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft zu lösen. Dies zeige sich beispielsweise anhand der Rolle, die der Staat in der Ökonomie zunehmend ausübe. Hierbei seien die Handlungen des Staates zwar Antworten auf bestimmte ökonomische Krisen, zugleich selbst aber ursächlich für weitere Krisen. Das Eingreifen des Staates zugunsten des Kapitals würde dabei aber, insbesondere in der Sozialpolitik, zunehmend ein „beachtliches Legitimations-defizit gegenüber den Volksmassen“ [St, S. 195] erkennen lassen, dies könne zu ideologischen Krisen führen, die, soweit sie sich in der Politik als Regionalismus oder Partikularismus äußern, selbst die Einheit des bürgerlichen Staates in Frage stellen können [ebd.].