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Raum und Zeit. Zur Anwendung des vergleichenden Ansatzes

Im Dokument Staat, Adel und Elitenwandel. (Seite 17-24)

1. Einleitung

1.2 Raum und Zeit. Zur Anwendung des vergleichenden Ansatzes

DDer Raum und die Zeit sind zentrale Kategorien jeder historischen Untersuchung und auch diese Arbeit kann keine Ausnahme sein. Die zentrale Achse bildet dabei die vergleichende Vorgehensweise, die am Besten ermöglicht, die Forschungsergebnisse für den zentraleuropäischen Kontext angemessen zu erörtern. Als räumlicher Hauptbezugspunkt dient hierbei gerade der Begriff „Zentraleuropa“. Mit dieser räumlichen Kategorie soll die begriffliche Trennung zwischen der deutschen und europäischen, beziehungsweise osteuropäischen Geschichte ersetzt werden, die gröβtenteils von einer strukturellen Typologisierung der europäischen Geschichtsentwicklung entstand.44 Da aber diese Typologisierung in der neueren Forschung zunehmend auf Zweifel stöβt,45 und es sich letzten Endes mehr oder weniger um eine deutsche Besonderheit handelt, wurde gerade der auch in anderen Sprachen üblichere Begriff „Zentraleuropa“ gewählt, der die Gebiete Böhmens, Polens, Ungarns, aber auch gröβere Teile des deutschen Reiches subsumiert, die hier als einheitlicher kultureller, vielfach vernetzter Raum begriffen werden.46 Ganz absichtlich wurde dagegen auf den politisch negativ konnotierten Begriff „Mitteleuropa“ verzichtet.47

44 Einen geeigneten Überblick der Typologisierungen der europäischen Geschichte bietet Jan Křen:

Jan KŘEN, Dvě století střední Evropy, Praha 2005, S. 22 – 28. Für die strukturelle Definition Ostmitteleuropas siehe: Rudolf JAWORSKI, Ostmitteleuropa. Zur Tauglichkeit und Akzeptanz eines historischen Hilfsbegriffes, in: Winfried Eberhard u. a. (Hrsg.), Westmitteleuropa – Ostmitteleuropa.

Vergleiche und Beziehungen, München 1992, S. 37 – 46. Werner CONZE, Ostmitteleuropa. Von der Spätenantike bis zum 18. Jahrhundert, München 1992. Jeno SZÜCS, die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt am Main 1990, S. 13 – 18. Györgi KONRÁD, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen, Frankfurt am Main 1985. Klaus ZERNACK, Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, S. 33 – 41. Oskar HALECKI, The Limits and Divisions of European History, London 1950.

45 Vgl.: Philipp THER, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815 – 1914, Wien – München 2006. S. 20 – 22. Wolfgang SCHMALE, Die Europäizität Ostmitteleuropas, Jahrbuch für Europäische Geschichte 4 (2003), S. 189 – 214. Nicolette MOUT, Does Europe have a Centre? Reflections on the History of Western and Central Europe, in: Gerald Stourzh (Hrsg.), Annäherung an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, S. 1 – 14.

46 Vgl.: Philipp THER, Vom Gegenstand zum Forschungsansatz. Zentraleuropa als kultureller Raum, in: Johannes Feichtinger - Elisabeth Großegger - Gertraud Marinelli – König - Peter Stachem - Heidemarie Uhl (Hrsg.), Schauplatz Kultur - Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Moritz Csáky zum 70. Geburtstag gewidmet, Innsbruck 2006, S. 55 - 63. Moritz Csáky - Astrid Kury - Ulrich Tragatschnig (Hrsg.), Kultur, Identität, Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne.

Innsbruck-Wien-München-Bozen 2004. Moritz Csáky - Jacques Le Doder - Monika Sommer (Hrsg.), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa., Innsbruck 2002. Moritz CSÁKY, Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropas, in: Catherine Bosshart

-Wenn man also im Kontext von zentraleuropäischen staatlichen Organismen des 19.

Jahrhunderts spricht, wurden für den Vergleich die zwei bedeutendsten gewählt - Preuβen und Österreich, wo dann nach bestimmten Kriterien die Vergleichsobjekte gesucht wurden, und die Kriterien für diese Suche sind an diesem Platz erläuternswert.

Der klassische historische Vergleich ist in dem letzten Jahrzehnt durch wesentliche Verwandlungen hindurchgegangen.48 Es wird häufig für einen Verzicht auf die Vergleiche von großen Entitäten wie z. B. Nationen oder Staaten argumentiert, die, so die Kritik, einerseits zu groß angelegt waren, um spezifische Erkenntnisse bezüglich der einzelnen Vergleichsobjekte bringen oder sogar gültige Erklärungsmodelle entwickeln zu können. Beim Vergleich sollte deshalb nicht die Größe der Vergleichsobjekte oder Vergleichsphänomene entscheidend werden, sondern eine Ausrichtung der Analyse auf die sozialen Beziehungen, Strukturen, Interaktionen, Netzwerke oder Erfahrungsräume der historischen Akteure.49

Aufgrund der Probleme, die sich beim Vergleich größerer Einheiten in vielen Hinsichten ergeben, werden dann die vergleichenden Studien auf der so genannten „Meso-Ebene“ bevorzugt. Mit Untersuchungsgegenständen mittlerer Reichweite wie zum Beispiel Institutionen, Städte, Regionen50 oder auch Sozialgruppen soll der historische Vergleich zu valideren, konkreteren und auch mehr objektbezogenen Aussagen führen und eine Verbindung zwischen der Generalisierung und dem konkreten historischen Kontext herstellen.51 Zugleich können die jeweiligen Vergleichsobjekte als keine geschlossenen Pfluger u. a. (Hrsg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten, Frauenfeld 2002, S. 22 – 50.

47 Vgl.: Jürgen ELVERT, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918 – 1945), Stuttgart 1999.

48 Vgl. z. B: Mathias MIDDELL, Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, Comparativ 10 (2000) Heft 1, S. 7 – 41. Hartmut KAELBLE, Der historische Vergleich.

Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main – New York 1999. Heinz Gerhard HAUPT– Jürgen KOCKA, Vergleichende Geschichte: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main – New York 1996, S. 9 – 45.

49 Vgl.: Heinz – Gerhard HAUPT, Die Geschichte Europas als vergleichende Geschichtsschreibung, Comparativ 14 (2004), Heft 3, S. 83 – 97. Thomas WELSKOPP,, Stolpersteine auf dem Königsweg“.

Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 339 – 367.

50 Celia APPELGATE, A Europe of Regions: Reflections on the Historiography of Sub-National Places in Modern Times, The American Historical Review 104 (1999), Nr. 4, S. 1157 – 1182. Im anderen Zusammenhang aber durchaus überzeugend: Nancy GREEN, The Comparative Method and Post-Structuralist Structuralism: New Perspectives for Migration Studies, in: Jan Lucassen – Leo Lucassen (Ed.), Migration, Migration History, History, New York 1999, S. 57 – 92.

51 Vgl.: Philipp THER, Beyond the Nation. The Relational Basis of a Comparative History of Germany and Europe, Central European History 36 (2003), Nr. 1, S. 45 – 73. Ders., Deutsche Geschichte als transnationale Geschichte: Überlegungen zu einer Histoire Croisée Deutschlands und Ostmitteleuropas, Comparativ 13 (2003), Heft 4, S. 174 – 176. Johannes PAULMANN,,

Einheiten betrachtet werden, und der Interpretierungsraum soll auch für mögliche Transfers und Verflechtungen nicht nur zwischen den Objekten selbst, sondern auch mit anderen Einheiten geöffnet werden, die bei der Erörterung der Forschungsergebnisse auch eingebracht werden müssen.52

Der Vergleich der Adelsverleihungen im zentralen Europa sollte sich also, entsprechend der theoretischen Hintergründe, von dem Rahmen des staatlichen Raumes frei machen und konsequenterweise seine Aufmerksamkeit auf die kleineren Regionen richten. In diesem Zusammenhang wurden auch Böhmen und Schlesien für die Suche entsprechender Vergleichsobjekte im Rahmen Österreichs und Preuβens gewählt.

Es sind an diesem Platz nicht alle Grundbedingungen zu erwähnen, die sich generell aus der allgemeinen Geschichte beider Länder ergeben, trotzdem müssen aber die Hauptgründe, die bei der Wahl der Vergleichseinheiten eine wichtige Rolle spielten, näher erklärt werden. Für die Entstehung und Wirkung des neuen Adels ist an diesem Platz die spezifische politisch-wirtschaftliche Lage Böhmens und Schlesiens53 innerhalb ihrer staatlichen Organismen erwähnenswert. Beide Regionen spielten in der Modernisierung54 des 19. Jahrhunderts eine zwiespältige Rolle von politischen Peripherien auf der einer, aber auch von entstehenden wirtschaftlichen Zentren auf der anderen Seite.55 Nicht umsonst wurde zum Beispiel Schlesien in den damaligen Reiseberichten als “das preußische England“

Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, Historische Zeitschrift 267 (1998) S. 669.

52 Michael WERNER - Benedicte ZIMMERMANN, Beyond Comparison: Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity, History and Theory 45 (2006), Nr. 1, S. 39 – 50. Hartmut KAELBLE, Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: Ders. – Jürgen Schriewer (Hrsg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 1003, S. 469 - 493. Johannes PAULMANN, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20.

Jahrhunderts, Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 649 – 685.

53 Unter dem Begriff „Schlesien“ wird für die Zwecke der Arbeit nur sein preuβischer Teil verstanden.

54 Der Begriff wird hier nur deskriptiv verwendet ohne dabei irgendwelchen Anspruch auf Normativität zu erheben. Vgl.: Dipesh CHAKRABARTY, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000, S. 3 – 16. Hans – Ulrich WEHLER,

Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975.

55 Andrea KOMLOSY, Innere Peripherien als Ersatz für Kolonien? Zentrenbildung und

Peripherisierung in der Habsburgermonarchie, in: Endré Hárs – Wolfgang Müller-Funk – Ursula Reber – Clemens Ruthner (Hrsg.), Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich – Ungarn, Tübingen 2006, S. 55 – 78. Otto URBAN, Kapitalismus a česká společnost. K otázkám formování české společnosti v 19. století, Praha 2003, s. 51 – 92. Luďa KLUSÁKOVÁ, The Czech Lands in the Habsburg Empire. Economic centre but political periphery, in: Heinz Heinrich NOLTE, (Hrsg.), Internal Peripheries in European History, Göttingen 1991, S. 169 – 184. Konrad FUCHS, Die Wirtschaft, in: MENZEL Johann Joachim (Hrsg.), Geschichte Schlesiens. Band 3, Stuttgart 1999, S.

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bezeichnet.56 Es ist gerade die schnelle vielfältige Modernisierung, die sich in beiden Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts auswirkte, die für die Entstehung des neuen Adels einen sehr wichtigen Faktor darstellt.

Schon beim flüchtigen Blick auf seine Struktur im 19. Jahrhundert ist es nicht schwer festzustellen, aus welchen Schichten sich seine Angehörigen rekrutieren konnten. Es handelte sich nicht nur um die berühmten „Schlot- und Zahnradbarone“, um einen damaligen Terminus anzuwenden, sondern um ein buntes Konglomerat von verschiedensten Lebenswegen und Herkunftsmilieus, die von den loyalen Staatsbürokraten und Offizieren über Unternehmer bis hin zu erfolgreichen Wissenschaftlern reichten.57 Diese Mischung und die steigenden Zahlen der Neunobilitierten im Vergleich zur früheren Zeit machen es natürlich unmöglich, ein komplexes, typisches „Profil“ eines Adelsneulings zu konstruieren, trotzdem lässt sich aber von einigen gemeinsamen Faktoren sprechen.

Eine entscheidende Mehrheit der Neuadeligen erlangte die Nobilitierung, abgesehen von der selbstverständlichen Staatsloyalität, durch das Wirken auf Posten, die eine höhere Bildung voraussetzten. Die Professionalisierung von Handel, Industrie, Staatsdienst oder Wissenschaft erforderte immer mehr eine langfristige Vorbereitungsperiode in entsprechenden sozialen und geographischen Räumen. Wenn dann noch das Faktum in Kenntnis genommen wird, dass die Majorität der Neuadligen nach der Erhebung mit der ursprünglichen Tätigkeit nicht aufhörte58, sind es die großen Städte, die über eine Form der hohen Bildung und entsprechendes Arbeitsmarktes verfügten, wo man eine höhere Konzentration des neuen Adels beobachten kann. Hier geht es natürlich in erster Reihe um die beiden Hauptstädte Berlin und Wien.

Trotz der großen Anzahl der Neuadligen scheinen aber die beiden Hauptstädte für die Untersuchung nicht sehr repräsentativ zu sein. Die mit der Anwesenheit des Hofes verknüpfte Besonderheit des sozialen Milieus in der Hauptstadt, die vor allem die adlige Gesellschaft prägte,59 macht aus Wien oder Berlin eher einen spezifischen Fall als ein typisches Beispiel.60

56 Hanswalter DOBBELMANN – Volker HUSBERG –Wolfhard WEBER, (Hrsg.), Berichte über die industriellen und sozialen Zustände in Oberschlesien zwischen 1780 – 1876, Wiesbaden 1993.

57 Vgl.: Berthold WALDSTEIN-WARTENBERG,, Österreichisches Adelsrecht 1804 – 1918, Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 1964/1965, Bd. 17/18, s. 135. Hans JÄGER-SUNSTENAU, Statistik der Nobilitierungen in Österreich 1701 – 1918, in: Österreichisches Familienarchiv 1, 1963.

58 Vgl. z. B.: Hans - Peter ULLMANN, Nobilitierte Bankiers in Deutschland 1770 – 1850, in:

Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770 – 1848, München 1994, S.

87.

59 Norbert ELIAS, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königstums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Neuwied 1969.

Die unmittelbare geographische aber auch soziale Nähe der über die Adelsverleihungen entscheidenden Stellen und der Adelsadepten bot in den Hauptstädten viel mehr Möglichkeiten zu heutzutage nur sehr schwer und fragmentarisch rekonstruierbaren gegenseitigen Kontakten und Zwängen, als es in den entfernten Provinzen der Fall war. Die Analyse der Adelsverleihungen in den hauptstädtischen Räumen würde daher drohen, die bestimmenden Faktoren der konkreten Adelsverleihungspraxis nicht völlig erfassen zu können.

Hinsichtlich dieser spezifischen Lage der Hauptstädte muss also die Aufmerksamkeit eher auf die „Zentren der Peripherien“ gerichtet werden, wobei die Fälle Prags für Böhmen und Breslaus für Schlesien eine sinnvolle Wahl darstellen. Beide verfügten über alle Voraussetzungen für die Entstehung des neuen Adels, der sich dort auch in großer Zahl fand.

Die Universitäten und Gymnasien in beiden Städten produzierten eine relativ hohe Anzahl von Personen, aus denen sich die neue Leistungselite rekrutieren konnte, und beide Städte waren groß genug, um diese Bildungselite an sich binden zu können. Die Vergleichsfälle Prags und Breslaus stellen angesichts der Verwandlungen innerhalb des vergleichenden Ansatzes also eine gute Möglichkeit dar, die Fragestellungen auf der Ebene der konkreten Beispiele zu thematisieren und dabei auch genug quellennah zu bleiben.

Solche Wahl der Vergleichsobjekte ermöglicht weiterhin auch den herrschenden historiographischen Blick zu bereichern. Es wurde schon mehrmals konstatiert, dass sich die mit Deutschland beschäftigende Historiographie nur selten Vergleichobjekte in Zentral- und Osteuropa zuwendet, was bedauerlicherweise auch umgekehrt gilt.61 So kann der österreichisch – deutsche Vergleich, der einzelne Regionen in den Mittelpunkt stellt, wie hier Böhmen und Schlesien, dazu beitragen, die gängigen Perspektiven beider Historiographien zu ergänzen.

Was den Zeitraum angeht, wurden die Jahre 1806 und 1871 als Anfangs- und Endpunkte gewählt. Die Entstehung neuer Staaten im zentralen Europa in beiden erwähnten Jahren meinte unter Anderem auch eine wesentliche Veränderung des rechtlichen Rahmens für den Adelsaufstieg, und zwar in solchem Umfang, dass man, zumindest rechtsgeschichtlich, diese Periode als eine homogene Einheit betrachten darf.

60 Vgl. z. B.: Hannes STEKL, Der Wiener Hof in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Karl Möckl (Hrsg.), Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20.

Jahrhundert, Boppard am Rein 1990, S. 40.

61 Vgl.: Jürgen KOCKA, Das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas, Zeitschrift für Ostmitteleuropa Forschung 49 (2000), Heft 2, S. 159 – 174.

Die ersten drei Viertel des 19. Jahrhunderts scheinen aber für die Untersuchung noch aus einem anderen Grund geeignet zu sein. Wie schon oben skizziert, werden die Adelsverleihungen als ein Instrument der staatlichen Gesellschaftspolitik in beiden Staaten aufgefasst, mit dessen Hilfe der Staat einen groβen Teil an symbolischem Kapital in der Gesellschaft verteilte und somit die Beziehungen in der Gesellschaft zu strukturieren versuchte. Diese Funktion konnten die Adelsverleihungen aber vorwiegend gerade nur in den ersten drei Dritteln des 19. Jahrhunderts erfüllen.

Ohne das konkrete Jahr 1871 als eine klare Trennungslinie zu begreifen, verloren die Nobilitierungen in dem späten 19. Jahrhundert in beiden Staaten an Gewicht. Wenn auch nicht immer linear und direkt, fing die aber doch stattfindende Durchsetzung der bürgerlichen Verhaltensweisen, der Arbeiterbewegungen, der Demokratisierungs- und Nationalisierungsprozesse an, die Position des Adels als einer konsensuell wahrgenommenen gesellschaftlichen Elite zu schwächen, sodass die Nobilitierungen an der Fähigkeit verloren, in der Gesellschaft das symbolische Kapital effektiv umzuverteilen,62 und der Staat musste auf die Nobilitierungen als ein effektives Mittel der Gesellschaftspolitik verzichten. Zeitlich sind es daher gerade die ersten drei Viertel des 19. Jahrhunderts, räumlich dann die Städte Prag und Breslau mit ihren Umgebungen, welche die empirische Ausgangsbasis der Arbeit im Groben bestimmen.

Aus so festgesetzten Fragestellungen und definierten Vergleichsobjekten ergibt sich gröβtenteils auch der Aufbau der Arbeit. Zuerst werden die Position des Staates näher erläutert sowie die Rahmenbedingungen für die Entstehung des neuen Adels analysiert. Unter dem Begriff „Arena des Aufstiegs“ werden geographische, rechtliche und soziale Räume definiert, in denen das staatliche Handeln untersucht wird, und es wird analysiert, inwieweit diese „Arenen“ in beiden Vergleichsfällen ähnlich oder unterschiedlich waren, sowie welche individuellen und kollektiven Akteure das staatliche Handeln bestimmten.63

In dem nächsten Abschnitt wird die Aufmerksamkeit auf die Adelsneulinge gelenkt, um zu fragen, welche sozialen und politischen Trennungslinien der Staat bei den

62Christopher CLARK, Preuβen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, München 2007, S. 641 – 647.

Heinrich August WINKLER, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806 – 1933, Bonn 2006, S. 277 – 297. Eagle GLASSHEIM, Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge – Massachusetts 2005, S. 10 – 49. Jan KŘEN, Dvě století střední Evropy, Praha 2005, S. 257 – 285. Jiří KOŘALKA, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 – 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den Böhmischen Ländern, Wien 1991, S. 201 – 257. David BLACKBOURN – Geoff ELEY, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1980, S. 71 – 129.

63 Vgl. klassisch: Georg JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1914, S. 544 – 565.

Nobilitierungen umsetzte. Daher wird analysiert, wie sich der im 19. Jahrhundert entstandene Adel innerlich differenzierte, wie sich seine soziale Zusammensetzung entwickelte und was die Faktoren waren, welche diese Zusammensetzung bestimmten.

Das vierte Kapitel wandelt dann die Perspektive von der groβen Gruppe des neuen Adels zu den konkreten Akteuren. Es wird anhand von konkreten Nobilitierungsbeispielen analysiert, was die konkreten Kulturpraktiken waren, die der Staat im Untersuchungszeitraum bei den Nobilitierungen bevorzugte, welchen er auf der anderen Seite seine Anerkennung nicht gönnte, und inwieweit sich die dadurch entstandenen Adelstugendkataloge mit der sozialen Verankerung der Nobilitierten tatsächlich überlappten.

Die dadurch gewonnenen Ergebnisse werden dann in dem fünften Kapitel präzisiert, indem die festgestellten Ähnlichkeiten und Unterschiede auf die Ebene der Akteure zurückbezogen werden, und es wird untersucht, ob diese ausschlieβlich nur auf die staatlichen Handlungen zurückzuführen sind. Das so gewonnene Bild verspricht dann eine nähere Einsicht in die Art und Weise, wie im Zentraleuropa die Staaten während der Wandlungsprozesse des 19. Jahrhunderts die Gesellschaften umzustrukturieren versuchten, welche Faktoren dabei das staatliche Handeln bestimmten sowie wie sich das Verständnis von der Kategorie „Adel“ entwickelte.

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