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Die Arena. Breslauer Entwicklung zur Groβstadt

Im Dokument Staat, Adel und Elitenwandel. (Seite 26-36)

2. Arenen des Aufstiegs

2.1 Schlesien

2.1.1 Die Arena. Breslauer Entwicklung zur Groβstadt

Die Wahl der schlesischen Metropole als einer der Vergleichseinheiten ist nicht zufällig. Die Stadt Breslau verkörperte im 19. Jahrhundert den tiefen wirtschaftlichen und sozialen Wandel der ganzen schlesischen Region und bietet eine auβerordentlich geeignete Möglichkeit, die Fragestellungen der Arbeit zu verfolgen. Im Folgenden wird also auf die wichtigsten Merkmale der Stadt und ihrer Umgebung hingewiesen, welche für die Entstehung des neuen Adels von besonderer Wichtigkeit waren und welche daher aus Breslau eine passende geographische und soziale „Aufstiegsarena“ ausmachen.

Trotz der groβen Kriegsbelastungen begann Schlesien am Anfang des 19. Jahrhunderts seinen allmählichen Aufstieg zu einer der wichtigsten Industrieregionen Preuβens. Der

Verlauf der tiefen Veränderungen in der Region ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts grundsätzlich auf zwei Hauptebenen zu beobachten, die die Lage Schlesiens durch das ganze 19. Jahrhundert prägten. Einerseits setzte Schlesien den Weg fort, zu einem der wirtschaftlichen Zentren Preuβens zu werden, andererseits ging dieser Aufstieg mit der vollen Inkorporierung in den preuβischen Staat einher.

Die ersten allgemein bekannten Marksteine, wie etwa der erste Gebrauch der Dampfmaschine auβerhalb Englands im Jahre 1788 oder die Erbauung der ersten Zuckerfabrik für den Rübenzucker im 1801, standen am Anfang eines späteren wirtschaftlichen Aufschwungs, der die spezielle Stellung Schlesiens innerhalb Preuβens über das ganze Jahrhundert wesentlich mit prägte und der auch für den neuen Adel von besonderer Bedeutung war.3 Durch den tiefen wirtschaftlichen und sozialen Wandel entstanden im ganzen Europa neue Eliten mit neuen Verhaltensmustern und Schlesien war dabei keine Ausnahme.4

Die nach der fatalen Kriegsniederlage Preuβens der Jahren 1806 - 1807 eingeführten Stein-Hardenbergschen Reformen setzten sich zum Ziel, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Sphäre von den ständischen Bedingungen der frühen Neuzeit zu entlasten und waren dabei, wenn auch nicht immer völlig, auf vielen Feldern erfolgreich.5 Die relativ weitgehende Freiheit etwa in der Wahl des Berufes, Wohnsitzes und vor allem die Auflösung

3 Vgl.: Rudolf ŽÁČEK, Slezsko, Praha 2005, S. 116 – 120.

4 Vgl. am Beispiel der modernen Intelligenz: Denis SDVIŽKOV, Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa, Göttingen 2006, S. 9 – 30. Anthony D. SMITH, Theories of Nationalism, London 1971, S. 134 – 135. Allgemein: Hartmut KAELBLE, Sozialer Aufstieg in Deutschland 1850 – 1914, Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 60 (1973), S. 41 – 71.

5 Zu der bisherigen historischen Deutung der Reformzeit vgl. z. B.: Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 31 – 82. Helmut BERDING, Zur historischen Einordnung der Reformen im frühen 19. Jahrhundert, in: Hans-Peter Ullmann – Clemens Zimmermann (Hrsg.), Restaurationssystem und Reformpolitik. Süddeutschland und Preußen im Vergleich, München 1996, S. 17 – 24. Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte.

Zweiter Band. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“

1815 – 1848/9, München 1987, S. 297 -322. Marion W. GRAY, Prussia in Transition: Society and Politics under the Stein Reform Ministry of 1808, Philadelphia 1986. Walther HUBATSCH, Die Stein-Hardenbergschen Reformen, Darmstadt 1977, S. 131- 228. Reinhart KOSELLECK, Preuβen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1975, S. 163 – 216. Am neusten dann: Heinz DUCHHARTD, Stein. Eine Biographie, Münster 2007, S. 178 – 235. Christopher CLARK, Preuβen: Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, München 2007, S. 393 – 399. Heinrich August WINKLER, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806 – 1933, Bonn 2006, S. 40 – 78. Stefan HAAS, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preuβischen Reformen 1800 – 1848, Frankfurt am Main 2005.

Thomas WELSKOPP, Sattelzeitgenosse. Freiherr Karl vom Stein zwischen Bergbauverwaltung und gesellschaftlicher Reform in Preuβen, Historische Zeitschrift 271 (2000), Heft 2, S. 347 – 372. Die wichtigsten Quellen siehe in: Von Stein zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsministerium Altenstein/Dohna. Herausgegeben von Heinrich Scheel und Doris Schmidt, Berlin 1986.

der direkten Koppelung vom Recht zum Grundbesitz und der Zugehörigkeit zum Adel einerseits und die Aufhebung des Verbots, wonach die Adligen keine bürgerlichen Berufe ausüben konnten andererseits, stellten die markantesten Phänomene dar, die zusammen mit der ansetzenden Industrialisierung sowohl eine breitere persönliche als auch intergenerationäre soziale Mobilität ermöglichten und somit die Position des Adels, sowie die Möglichkeiten des Adelsaufstiegs wesentlich beeinflussten.6 Einer der wichtigsten Merkmale des sozialen Aufstiegs – der Grundbesitz - hörte de iure auf, unmittelbar mit dem Adel verbunden zu werden. Es öffneten sich daher Möglichkeiten für die neu entstehenden Eliten, Grundbesitz zu erwerben und diesen später für die Begründung ihrer Adelsanspruche zu benutzen.7 Die schwere Agrarkrise der 1820er war dann der erste Zeitpunkt, wo diese Regelung praktisch in signifikanter Zahl umgesetzt wurde: viele Rittergüter fielen in die Hände von verschiedenen Beamten, Kaufleuten, Bankiers oder Industriellen.8

Diese Möglichkeiten wurden noch dadurch gestärkt, dass, obwohl der wirtschaftliche Aufstieg Schlesiens zwar immer noch von früheren, man kann sagen feudalen Wirtschaftsmustern gekennzeichnet war, sich langsam doch ganz neue gesellschaftliche Gruppierungen durchzusetzen begannen, die im Laufe der Zeit aufgrund ihrer Erfolge in verschiedenen Tätigkeitsfelder auch den Anspruch auf die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite erheben konnten und diesen durch eine Nobilitierung zu bestätigen versuchten.9

6 Vgl.: Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 43 – 44. Konrad FUCHS, Die Wirtschaft, in: Johann Joachim Menzel (Hrsg.), Geschichte Schlesiens. Band 3. Preuβisch Schlesien 1740 – 1945, Österreichisch – Schlesien 1740 – 1918/45, Stuttgart 1999, S. 119 - 124

7 Es war auch vor den Reformen den nichtadeligen Personen möglich, ein Grundbesitz zu erwerben, es beruhte jedoch auf einer speziellen königlichen Genehmigung. Die Reformen sanktionierten so nur die schon für längere Zeit stattgefundene Veränderungen der ländlichen Besitzstruktur. Vgl.: René SCHILLER, „Edelleute müssen Güther haben, Bürger müssen die Elle brauchen.“ Friderizianische Adelsschutzpolitik und die Folgen, in: Wolfgang Neubauer – Ralf Pröve (Hrsg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur, Berlin 1998, S. 257 – 286. Reinhart KOSELLECK, Preuβen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1975, S. 82 – 85.

8 Robert M. BERDAHL, The Politics of the Prussian Nobility. The Development of a Conservative Ideology 1770 – 1848, Princeton 1988, S. 198 - 220. Francis L. CARSTEN, Der preuβische Adel und seine Stellung in Staat und Gesellschaft bis 1945, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750 – 1950, Göttingen 1990, S. 114 – 115. Reinhart KOSELLECK, Staat und Gesellschaft in Preuβen 1815 – 1848, in: Werner Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vromärz 1815 – 1848, Stuttgart 1970, S. 79 – 112.

9 Waclaw DLUGOBORSKI, Die schlesischen Magnaten in der frühen Phase der Industrialisierung, in:

Toni Pierenkemper (Hrsg.), Industriegeschichte Oberschlesiens im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1992, S. 107 – 128.Reinhard KRÄMER, Die schlesische Wirtschaft von ihren Anfängen bis zur Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Joachim Bahlcke (Hrsg.), Schlesien und die Schlesier, München 1996, S. 231 – 239.

Der Aufstieg Schlesiens zu einem der wirtschaftlich wichtigsten Gebiete Preuβens im 19. Jahrhundert verlief nicht linear, sondern wurde von vorübergehenden Phasen der Schrumpfung und von Krisen geprägt. Diese waren durch die geographische Lage Schlesiens am Rande des Staates, umgeben von protektionistischen Zollgrenzen von Russland und Österreich, bedingt. Dennoch nahm Schlesien immer mehr die Position eines der wirtschaftlichen Zentren Preußens ein, die es dann mindestens bis in die Vorkriegszeit behielt.10

Auf der anderen Seite wurde Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts völlig in den preuβischen Staat inkorporiert. Die ganze Provinz begann schon in den Zeiten des Ministers für Schlesien, Graf Karl von Hoym, in den Jahren 1770 – 1806 die preuβische Herrschaft allmählich zu akzeptieren, und die seit dem Jahr 1807 praktizierte Nichtbesetzung des Postens des speziellen Ministers für die schlesischen Angelegenheiten demonstrierte ziemlich deutlich das Ende der regionalen Autonomie und die angestrebte vollständige Eingliederung Schlesiens in die preuβischen Verwaltungsmechanismen. Die Stein-Hardenbergschen Reformen, wie zum Beispiel die Einführung von Städte-, Finanz- oder Gewerbeordnungen, banden Schlesien immer mehr mit dem übrigen Preuβen zusammen.11 Spätestens im Jahr 1816, als die Verwaltung des Landes schon endgültig dem Rest des Staates angeglichen wurde, wurde Schlesien zu einer der zehn ordentlichen preuβischen Provinzen mit dem Breslauer provinziellen Oberpräsidium in der Position des Hauptorgans der Provinzverwaltung.12

Diese Einordnung Schlesiens in den preuβischen Staat wurde noch durch die Verflechtung der preuβischen Militär- und Verwaltungselite mit dem schlesischen Bodenbesitz verstärkt, da viele der ehemaligen kirchlichen Güter an die mit Berlin stark verbundenen Personen, wie etwa an den General Blücher, übergangen waren.13 Angesichts dieser verstärkten Verflochtenheit mit verschiedenen Strukturen des preuβischen Staates

10 Vgl.: Toni PIERENKEMPER, Umstrittene Revolutionen. Industrialisierung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1996, S. 96 – 107. Hubert KIESEWETTER, Industrielle Revolution in Deutschland 1815 – 1914, Frankfurt am Main 1989, S. 187 – 188. Gerd HOHORST, Regionale Entwicklungsunterschiede im Industrialisierungsprozess Preußens – ein auf Ungleichgewichten basierendes Entwicklungsmodel, in: Sidney Pollard (Hrsg.) Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, Göttingen 1980, S. 221 -223.11 Joachim BAHLCKE, Schlesien und die Schlesier, München 2000, S. 87.

12 Marek CZAPLIŃKSKI – Elzbieta KASZUBA - Gabriela WAS - Rościslaw ZERELIK, Historia Ślaska, Wroclaw 2002, S. 254 – 257. Matthias WEBER, Das Verhältnis Schlesiens zum Alten Reich in der frühen Neuzeit, Köln – Wien 1992, S. 199.

13 Norman DAVIES – Robert MOORHOUSE, Mikrokosmos. Portrét jednoho středoevropského města, Praha 2006, S. 269.

stellte die Platzierung eines starken Militärkontingents in Breslau im Jahre 1823 nur die letzte Sicherung der vollen Einbeziehung Schlesiens unter normale preuβische Herrschaftsverhältnisse dar. Als sich der erste schlesische Provinziallandtag im Oktober 1825 versammelte, handelte es sich nur um einen von mehreren, in ganz Preuβen verordneten Provinziallandtagen, der mit der ehemaligen Autonomie kaum zu verknüpfen war.14 Schlesien hörte so auf, eine besondere Rolle innerhalb der Organisation Preuβens zu spielen und kann schon als ein integraler Bestandteil des preuβischen Staates betrachtet werden.

Diese beiden Prozesse, sowohl die rapide Industrialisierung als auch die volle Inkorporierung Schlesiens in das preuβischen Regierungssystem, wirkten sich auch auf die Hauptstadt Breslau aus. Die Geschichte der Stadt im 19. Jahrhundert wird spätestens ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts unter der Perspektive der „Entwicklung zur Großstadt“

dargestellt, was sich bis Heute kaum verändert hat.15 Die Industrialisierung der Region veränderte die Gestalt der Stadt erheblich. Obwohl Breslau immer das Zentrum des ganzen Landes darstellte, stieg die Stadt im Laufe der Urbanisierung des 19. Jahrhunderts zu einem wirklichen Kern des schlesischen Geschehens auf.16 Von den großen mit der Urbanisierung und rascher Industrialisierung verbundenen Veränderungen scheinen für die Breslauer Aufstiegsarena vor allem zwei Faktoren von besonderer Wichtigkeit zu sein.

An erster Stelle ist es die Gründung der Breslauer Universität im Jahre 1811, welche die soziale Zusammensetzung der Stadt wesentlich beeinflusste und welche die – im Vergleich zu den früheren Zeiten – sich dynamisierende soziale Mobilität forcierte.17 Die Universitätsgründung, die nicht von den erfolgreichen preuβischen Bemühungen, die ganze Region fest in den Staat einzubinden, zu trennen ist, setzte die Stadt in die Position eines intellektuellen Zentrums Schlesiens. Die festliche Eröffnung der Breslauer Universität im Oktober 1811, die aus dem alten Breslauer Jesuitenkolleg und aus der ehemaligen Universität in Frankfurt an der Oder bestand, welche nach der Entstehung der Berliner Universität im

14 Dazu ausführlicher z. B.: Willy KLAWITTER, Die politische Entwicklung der schlesischen Provinziallandtage, Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Schlesien 59, 1925, S. 1 -28. Roland GEHRKE, Das isolierte Parlament. Zur parlamentarischen Praxis der schlesischen Provinziallandtage zwischen Restauration und Revolution (1825 – 1845), in: Roland Gehrke (Hrsg.), Aufbrüche in die Moderne. Frühparlamentarismus zwischen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus 1750 – 1850. Schlesien – Deutschland – Mitteleuropa, Köln – Weimar – Wien, 2005, S. 205 – 240.

15 Vgl. z. B.: Adolf WEIβ, Chronik der Stadt Breslau von der ältesten bis zur neuesten Zeit, Breslau 1888, S. 1111 – 1168.

16 Manfred HETTLING, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und in der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999, S. 37 – 39.

17 Vgl.: Hartmut KAELBLE, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert.

Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1983, S. 170-176. Für einen allgemeinen Überblick: Hartmut KAELBLE, Historische Mobilitätsforschung, Darmstadt 1978, S. 73 – 136.

Jahr 1810 nach Breslau verlegt wurde, bedeutete für die weitere soziale Entwicklung der Stadt und des ganzen Landes einen wesentlichen Bruchpunkt.18

Der Einfluss der Breslauer Universität auf die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung und damit auch auf die Entstehung von neuen Verhaltensmustern ist kaum zu bestreiten. Die neuen Fakultäten standen Studierenden aller Konfessionen offen, und in den ersten fünfzig Jahren ihrer Existenz besuchten mehr als 14 000 Studenten die Vorlesungen.19 Die verhältnismäβig geringe überregionale Attraktivität der neu gegründeten Universität hatte auf der anderen Seite zur Folge, dass ihre Fakultäten nicht so stark von Studenten außerhalb Schlesiens frequentiert wurden und eine entscheidende Mehrheit der Studenten also konsequenterweise direkt aus Schlesien kam und nach dem Studium in Schlesien blieb.20 Die Universität konnte so zum wirklichen Landeszentrum der akademischen Ausbildung werden, an dem eine künftige regionale Elite ausgebildet wurde.21 Diese universitäre Elite wurde noch durch die Gymnasialabsolventen ergänzt, welche ebenso durch ihre Bildung das Potential erwarben, auf der Gesellschaftsskala schnell aufzusteigen.

Der zweite unübersehbare Punkt, der für die neuen Breslauer Eliten prägend war, ist der demographische Wandel der Stadt. Breslau gehörte in der ersten Hälfte des 19.

Jahrhunderts zu den sich am schnellsten vergröβernden Städten nicht nur in Preuβen, sondern ganz Deutschlands. Wenn wir das Jahrhundert zwischen den Jahren 1750 und 1850 ansehen, kommt der Bruch am Deutlichsten zum Vorschein. Während sich in der ersten Hälfte dieses Zeitraumes, bis etwa 1800, die Einwohnerzahl von etwa 50 000 Einwohner nur gering auf circa 60 000 vergröβerte, was einem Zuwachs von 20 Prozent entspricht, sich die Einwohnerzahl in der zweiten Hälfte der Spannweite faktisch verdoppelte, als die Einwohnerzahl von 60 000 auf fast 120 000 stieg. Der rapide Zuwachs hielt dabei im 1850 nicht an. Nur in den folgenden zwanzig Jahren zwischen 1850 – 1871 verdoppelte sich die

18 Vgl.: Malgorzata MORAWIEC, Kulturschaften und Kulturtransfer. Der Typus des Breslauer Professors im kulturellen Netzwerk der Stadt, in: Anja Victorine Hartmann - Malgorzata Morawiec – Peter Voss (Hrsg.), Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen und Handlungsmöglichkeiten, Mainz 2000, S. 55 – 67. Mieczyslaw PATER, Historia Uniwersytetu Wroclawskiego do roku 1918, Wroclaw 1997, S. 65 – 81.

19 Vgl.: Erich KLEINEIDAM, Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Breslau, Köln 1961, S. 9 – 41.

20 Vgl.: Hugo WECZERKA, Die Herkunft der Studierenden des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau, Zeitschrift für Ostforschung 35 (1986), S. 88 – 139.

21 Arno HERZIG, Die unruhige Provinz Schlesien zwischen 1806 – 1871, in: Norbert Conrads (Hrsg.), Schlesien, Berlin 1994, S. 520.

Einwohnerzahl noch einmal auf mehr als 200 000, und Breslau wurde so zur drittgröβten Stadt ganz Deutschlands.22

Unter diesen Zahlen steckt nicht nur ein quantitativer Wandel, sondern auch ein qualitativer. Im Breslau des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein sehr breites und buntes soziales Milieu, das durch sehr verschiedene Komponenten gekennzeichnet war.

Die wachsende Bedeutung Breslaus unter den Handelsmetropolen Zentraleuropas brachte eine hohe Konzentration von verschiedensten Branchen des Handels verbundenen mit sich, womit ein gewisser Aufstieg des Bankwesens einherging.23 Der seit den 40er Jahren immer schneller fortschreitende Eisenbahnaufbau unterstützte weiter den Zufluss von Kapital und stimulierte die Weiterentwicklung von Groβunternehmern.24

Die Stärkung der prominenten Lage Breslaus innerhalb Schlesiens hatte zur Folge, dass die neuen, sehr oft mit der Universität verknüpften Eliten sich in Breslau oder in der unmittelbaren Umgebung konzentrierten. Die zentrale Position der Stadt für das ganze Leben in Schlesien zwang auch die Eliten des alten Typus, wie etwa die Mitglieder des staatlichen bürokratischen Apparats, dazu, immer mehr Zeit in der Landeshauptstadt zu verbringen. Auch viele Groβgrundbesitzer verlegten ihren Wohnsitz nach Breslau oder zumindest in die unmittelbare Nähe. Die schon oben erwähnte Stationierung einer zahlreichen Armeetruppe bereicherte die soziale Zusammensetzung der Stadt auch um ein Offizierselement. Das im Jahre 1823 in Breslau platzierte sechste preußische Armeekorps hatte etwa 10000 Soldaten, was zusammen mit anderen in Schlesien stationierten Truppen eine beträchtliche Anzahl von niedrigeren und höheren Offizieren bedeutete, die das Bild einer Groβstadt ergänzten.25

Die Eingliederung Schlesiens in den preuβischen Staat hatte zudem eine markante Reorganisierung des Verwaltungsapparates zur Folge. Die verschiedenen Organe der

22 Vgl.: Horst MATZERATH, Urbanisierung in Preuβen 1815 – 1914, Stuttgart 1985, S. 108 – 240.

Julian BARTOSZ – Hannes HOFBAUER, Schlesien. Europäisches Kernland im Schatten von Wien, Berlin und Warschau, Wien 2000, S. 79 – 80. Joachim BAHLCKE, Schlesien und die Schlesier, München 2000, S. 90 – 91.

23 Vgl.: Rolf STRAUBEL, Breslau als Handelsplatz und wirtschaftlicher Vorort Schlesiens (1740 – 1815), Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands. Zeitschrift für vergleichende und preuβische Landesgeschichte 49 (2000), S. 195 – 299. Konrad FUCHS, Die Wirtschaft, in: Johann Joachim Menzel (Hrsg.), Geschichte Schlesiens. Band 3. Preuβisch Schlesien 1740 – 1945, Österreichisch – Schlesien 1740 – 1918/45, Stuttgart 1999, S. 141 - 144.

24 Arno HERZIG, Schlesien und Preuβen im 18. und 19. Jahrhundert, in: „Wach auf mein Herz und denke.“ Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Brandenburg. „Przebudź si eserce moje, i pomyśl.“ Przyczynek do historii stosunków miedzy Ślaskiem a Berlinem-Brandenburgia od 1740 roku do dziś, Berlin – Opole 1995, S. 61 – 66. Norman DAVIES – Robert MOORHOUSE, Mikrokosmos. Portrét jednoho středoevropského města, Praha 2006, S. 237.

25Allgemein vgl.: Bernhard SICKEN, Einleitung, in: Bernard Sicken (Hrsg.), Stadt und Militär 1815 – 1914. Wirtschaftliche Impulse, infrastrukturelle Beziehungen, sicherungspolizeiliche Aspekte, Padeborn 1998, S. 1 – 9.

und Stadtverwaltung, welche teilweise verbunden waren, vervollständigten letztendlich das soziale Bild einer Metropole, in der alle denkbaren alten und neuen Elitetypen vertreten waren. Die Lage Breslaus als das Zentrum einer sich schnell industrialisierenden Region brachte eine hohe Konzentration von neuen, eher auf Leistung und Bildung beruhenden elitären Verhaltensnormen mit sich. Andererseits wäre aber die Position Breslaus im Rahmen des Verwaltungssystems Preuβens ohne eine starke Beamten- und Militärkomponente nicht denkbar gewesen.26 Sowohl die neuen als auch die alten Verhaltensmuster konnten für die Legitimierung der Adelsansprüche instrumentalisiert werden, und der Staat hatte bei den Adelsverleihungen eine sehr breite Auswahl, welche konkrete Verhaltensmuster er durch die Nobilitierung auszeichnen will, und welche für ihn im Gegenteil keine Rolle spielen.

Neben diesen strukturellen Merkmalen, welche die Entstehung einer bunten Schicht potentieller Nobilitierungsanwärter mit sich brachten, wurden die Adelsverleihungen, sowohl von Seite des Staates als auch seitens der einzelnen Bewerber, von bestimmten politischen Schlüsselereignissen mit bestimmt, welche ebenso sehr tiefe und langfristige Folgen hatten.

Die zwei wichtigsten, welche die Adelsverleihungen indirekt auf lange Sicht am meisten beeinflussen konnten, decken sich dabei mit denen, die das ganze Jahrhundert definieren, nämlich mit der Französischen Revolution und den damit verbundenen Napoleonischen Kriegen und mit den revolutionären Ereignissen der Jahre 1848 -1849.

Am Ende der Kriege gegen Napoleon wurde Breslau zu einem der symbolischen Zentren des preuβischen Widerstands. In der Hauptstadt Schlesiens formierten sich zum Beispiel unter der Führung von Lützow oder Petersdorf Freikorpstruppen, die einen der Kerne der zukünftigen Armee bilden sollten. In Breslau wurde ebenfalls eine der höchsten preuβischen Militärauszeichnungen offiziell gegründet – der Orden des eisernen Kreuzes.27

Diese militärische Erfahrung Breslaus und ganz Schlesiens hatte zur Folge, dass der Anteil von - nicht nur mit dem neuen Orden ausgezeichneten - Soldaten stieg, und manche von solchen „Kriegshelden“ sahen sich durch ihre militärische Verdienste für den Adelsstand qualifiziert. Es musste sich dabei nicht nur um Berufssoldaten handeln. Gerade die Beteiligung in den Lützowschen Freikorps konnte sowohl in den Augen des Staates als auch in den Augen der einzelnen Kämpfenden einen Beweis für die auβerordentliche Hingabe an den Staat darstellen. Die konkreten Verdienste auf dem Schlachtfeld konstituierten dann ein

26 Hans-Jakob TEBARTH, Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in deutschen Ostprovinzen.

Ostpreuβen, Westpreuβen und Schlesien im Zeitalter der Industrialisierung, Berlin 1991, S. 17 – 123.

27 Vgl.: Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 82 - 83.

stichhaltiges Argument für die mögliche Nobilitierung, das den gewöhnlichen Militärdienst der Berufssoldaten in der Bedeutung übersteigen konnte.28

Der Krieg gegen Napoleon brachte aber vor allem einen groβen Anstieg der Adelsadepten innerhalb der eigenen Armee mit sich. Eine erfolgreiche militärische Karriere in Preuβen war ohne einen adligen Titel kaum denkbar, und so boten die langen Kriege für viele Berufssoldaten passende Begründungen für den Versuch, einen Adelstitel zu erwerben. Die konkreten Heldentaten in verschiedensten Situationen waren unter anderem bestens geeignet, die Grundlage eines Adelsanspruches zu konstituieren. Auch der Staat hatte selbstverständlich sehr gute Gründe dafür, in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Militärschicht bei den

Der Krieg gegen Napoleon brachte aber vor allem einen groβen Anstieg der Adelsadepten innerhalb der eigenen Armee mit sich. Eine erfolgreiche militärische Karriere in Preuβen war ohne einen adligen Titel kaum denkbar, und so boten die langen Kriege für viele Berufssoldaten passende Begründungen für den Versuch, einen Adelstitel zu erwerben. Die konkreten Heldentaten in verschiedensten Situationen waren unter anderem bestens geeignet, die Grundlage eines Adelsanspruches zu konstituieren. Auch der Staat hatte selbstverständlich sehr gute Gründe dafür, in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Militärschicht bei den

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