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Exkurs. Jüdischer Adel

Im Dokument Staat, Adel und Elitenwandel. (Seite 121-129)

3. Innere Struktur des neuen Adels

3.2 Österreich

3.2.4 Exkurs. Jüdischer Adel

Die allgemeine Emanzipation der jüdischen Bevölkerung begann in den böhmischen Ländern im ausgehenden 18. Jahrhundert, und gerade Böhmen wurde innerhalb der Habsburgermonarchie langsam zu einem Zentrum des jüdischen industriellen Aufstiegs.127 Nachdem die aufklärerischen Reformen in der Habsburgermonarchie auch den Juden die Gründung und Verwaltung von industriellen Unternehmen ermöglichten, waren es die in Böhmen ansässigen aschkenasischen Juden, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Prag und Umgebung zu den wichtigsten Trägern der Industrialisierung gehörten und welche die Kernbranche der Prager Industrie – die Bearbeitung der Baumwolle – wesentlich vorantrieben. 128

Schon im Jahre 1807 gehörten 15 der 57 Textilfabriken in Böhmen jüdischen Unternehmern, und dieser Anteil vergröβerte sich nach der Gründung von mehreren neuen, vor allem in Prag gegründeten Werken in den 20er und 30er Jahren noch weiter.129 Im Jahre

127 Tomáš PĚKNÝ, Historie židů v Čechách a na Moravě, Praha 2001, S. 107 – 128. William O.

MCCAGG, A History of Habsburg Jews 1670 – 1918, Bloomington – Indianapolis 1989, S. 65 – 82.

128 Eila HASSENPFLUG-ELZHOLZ, Toleranzedikt und Emanzipation, in: Ferdinand Seibt (Hrsg.), Die Juden in den böhmischen Ländern. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 27. bis 29. November 1981, München – Wien 1983, S. 145 – 159.

129 Gustav OTRUBA, Der Anteil der Juden am Wirtschaftsleben der böhmischen Länder seit dem Beginn der Industrialisierung, in: Ferdinand Seibt (Hrsg.), Die Juden in den böhmischen Ländern.

Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 27. bis 29. November 1981, München – Wien 1983, S. 246 – 250.

1835 wurde schon mehr als die Hälfte aller in Böhmen produzierten Textilien in den Prager jüdischen Fabriken hergestellt.130

Die jüdischen Unternehmen gehörten im Rahmen ihrer Industriebranchen auch zu den wichtigsten Wegbereitern der technischen Innovationen. So führte zum Beispiel die Fabrik von Moses und Juda Porges schon im Jahre 1830 die erste mechanische Baumwolldruckerei ein, im Jahre 1835 beschäftigte sie schon mehr als 560 Leute und wurde zur drittgröβten Fabrik in ganz Böhmen.131

Der beträchtliche Aufschwung der Industrie katapultierte manche jüdischen Unternehmer in die Position der reichsten nicht-adeligen Einwohner des ganzen Landes. Ihre Aktivität beschränkte sich dabei aber nicht nur auf die Baumwolleindustrie. Zum Beispiel gehörte die gröβte Prager Bank vor dem Jahre 1848 der jüdischen Familie Lämmel, und die Familie Hönig war schon im ausgehenden 18. Jahrhundert bei der Gestaltung des österreichischen Tabakmonopols erfolgreich.132

So gerieten viele Juden in den 30er und 40er Jahren in eine gesellschaftliche Position, in der sie nach einer Nobilitierung streben konnten. Ihre wirtschaftlichen Verdienste um die Entwicklung der böhmischen Industrie waren unbestreitbar, und viele konnten auch andere, für die Nobilitierung qualifizierende Tätigkeiten vorweisen.133 Der jüdische Prager Industrielle Leopold Jerusalem gehörte zum Beispiel schon in den 30er Jahren zu den gröβten Unterstützern der Prager öffentlichen Anstalten, und der Gründer des Bankhauses Lämmel war im Vormärz einer der gröβten finanziellen Förderer des Staates, indem er in den sich wiederholenden finanziellen Krisen der Staatskasse immer mit groβen Krediten zur Verfügung stand.134

Dieser gesellschaftliche Aufstieg hat dann tatsächlich auch auf der Seite des Staates eine mehr als breite Anerkennung gefunden. Die Nobilitierung von erfolgreichen Juden schien gar kein Problem zu sein, und Österreich galt in dieser Hinsicht als der wahrscheinlich

130 Zdeněk ŠOLLE, K počátkům dělnického hnutí v Praze, Československý časopis historický 5 (1957), S. 664 – 687, hier vor allem S. 664 – 669.

131 William O. MCCAGG, A History of Habsburg Jews 1670 – 1918, Bloomington – Indianapolis 1989, S. 75.

132 Jan ŽUPANIČ, Nová šlechta Rakouského císařství, Praha 2006, S. 276 – 277. Milan ŠVANKMAJER, Simon Lämmel, Dějiny a současnot 3 (1961), S. 31 – 32.

133 Jan ŽUPANIČ, Židovská šlechta v předbřeznovém Rakousku, Časopis Národního Muzea – řada historická 175 (2006), Nr. 3-4, S. 112.

134 Gustav OTRUBA, Der Anteil der Juden am Wirtschaftsleben der böhmischen Länder seit dem Beginn der Industrialisierung, in: Ferdinand Seibt (Hrsg.), Die Juden in den böhmischen Ländern.

Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 27. bis 29. November 1981, München – Wien 1983, S. 248. Milan ŠVANKMAJER, Simon Lämmel, Dějiny a současnost 3 (1961), S. 31 – 32.

offenste Staat Europas.135 In der gesamten Habsburgmonarchie wurden zwischen den Jahren 1701 und 1918 insgesamt 443 jüdischen Familien nobilitiert,136 in gewissen Branchen, wie zum Beispiel bei den Adelsverleihungen an Vertreter aus dem Bereich des Handels, spielten die Juden sogar eine prominente Rolle. Der berühmte Fall der im Jahr 1817 nobilitierten Familie Rotschild war keine Ausnahme, ungefähr ein Viertel aller österreichischen nobilitierten Händler im 19. Jahrhundert waren Juden.137

Der Staat hat dabei seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kaum Wert auf den Glauben gelegt. Aus den in den Jahren 1800 – 1848 nobilitierten jüdischen Familien war fast die Hälfte nicht konvertiert.138 Der erste nobilitierte und nicht-getaufte Jude ist schon in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts nachzuweisen. Es handelte sich um den Tabakhändler Israel Hönig, dem im Jahr 1789 der österreichische Adelstand verliehen wurde. Dieser Fall ist umso interessanter, weil Hönig zu einer der prominentesten jüdischen Familien Böhmens gehörte, jedoch der einzige seiner Generation war, der sich nicht taufen ließ. Für die erfolgreiche Nobilitierung war diese Tatsache aber nicht hinderlich.

Schon ein Jahr nach seiner Nobilitierung wurde eine andere böhmische jüdische Familie ohne Rücksicht auf ihren Glauben in den Adelstand erhoben - die Familie Popper.139 Die konfessionelle Zugehörigkeit hörte so spätestens im ausgehenden 18. Jahrhundert auf, bei den Adelsverleihungen eine Rolle zu spielen, in den 50er Jahren fiel schon mehr als die Hälfte aller jüdischen Nobilitierungen an die nicht-konvertierten Familien. In den 80er Jahren waren die Adelsverleihungen an Juden sogar so häufig, dass die jüdischen Empfänger des Adels ab und an zu dem offiziellen Zeremoniell bei dem Kaiser im Kaftan erschienen.140

Die Nobilitierungen von jüdischen Familien zeigten dabei während des 19.

Jahrhunderts eine unbestreitbare Dynamik. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt 26 jüdische Familien mit einem Adelstitel ausgezeichnet wurden, stieg diese Zahl in den nächsten 40 Jahren um fast das achtfache. Zwischen den Jahren 1848 und 1884 wurde

135 William O. MCCAGG, Austria´s Jewish Nobles 1740 – 1918, Leo Beck´s Institute Yearbook 34 (1989), S. 163.

136 Hans JÄGER-SUNSTENAU, Die geadelten Judenfamilien im vormärzlichen Wien, Diss. Univ.

Wien 1950, S. 86.

137 Vgl.: Derek WILSON, Rothschild: A Story of Wealth and Power, London 1988, S. 59 – 78. Hans JÄGER-SUNSTENAU, Die geadelten Judenfamilien im vormärzlichen Wien, Diss. Univ. Wien 1950, S. 86. Egon CORTI, Der Aufstieg des Hauses Rotschild 1770 - 1830, Leipzig 1927, S. 188 – 202.

138 William O. MCCAGG, Austria´s Jewish Nobles 1740 – 1918, Leo Beck´s Institute Yearbook 34 (1989), S. 171.

139 Jan ŽUPANIČ, Židovská šlechta v předbřeznovém Rakousku, Časopis Národního Muzea – řada historická 175 (2006), Nr. 3-4, S. 107 – 111.

140 William O. MCCAGG, Austria´s Jewish Nobles 1740 – 1918, Leo Beck´s Institute Yearbook 34 (1989), S. 175. Für weitere Beispiele siehe: Jan ŽUPANIČ, Nová šlechta Rakouského císařství, Praha 2006, S. 270 – 319.

so der österreichische Adel schon um 161 jüdische Familien bereichert. Die geographische Verteilung der jüdischen Nobilitierungen überlappte sich dabei mit den allgemeinen Trends, mit einer groβen Mehrheit der vor allem in Wien und Prag ansässigen Familien.141

Ähnlich wie bei den Nationalbewegungen öffnete also Österreich den Adelstand auch dem Judentum relativ breit. Im Unterschied zu den nationalen Eliten, die sich in der Phase C der Nationalagitation von den Adelsverleihungen eher abzuschotten versuchten, akzeptierten aber die jüdischen Eliten die Einbeziehung in den Adel viel stärker und waren in vielen Fällen eher bereit, durch die Nobilitierung in den Loyalitätspakt mit dem Staat einzutreten. Ähnlich wie die Spitzenvertreter der Nationalbewegungen rekrutierten sich dann die nobilitierten Juden auch fast hundertprozentig aus denjenigen Schichten, die der entstehenden Zivilgesellschaft sehr nah standen. Das eindeutige Übergewicht der Händler und Bankiers unter den jüdischen Nobilitierten führt so zu derselben Annahme wie bei den Spitzenfiguren der Nationalbewegungen: Der Staat nahm gemeinsam mit den Adelsverleihungen der jüdischen Eliten, wenn auch nicht immer absichtlich, auch Vertreter zivilgesellschaftlicher Einstellungen und Handlungsmuster in den Adel auf.

Die Offenheit Österreichs, den Adelstitel breit und ohne Rücksicht auf ethnische oder konfessionelle Hintergründe der Kandidaten zu verleihen, tritt noch deutlicher hervor, wenn der vergleichende Blick auf Preuβen geworfen wird. Das preuβische Judentum wurde in seiner Emanzipation in vieler Hinsicht durch manche Faktoren geprägt, die der Entwicklung in Österreich sehr ähnlich waren.142 Der Kern ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit bestand im Vormärz ebenso im Bankwesen oder Textilien- und Kattunindustrie. Die Kattundruckereien und Textilfabriken der Berliner Familien Wallach, Liebermann oder Reichenheim sind mit den böhmischen Unternehmen der Lämmel oder Porges vergleichbar, in vielen Hinsichten waren sie bei ihrem wirtschaftlichen Aufstieg und der Einführung von technischen Innovationen vielleicht noch dynamischer, trotzdem blieben sie bei den Adelsverleihungen fast völlig unberücksichtigt.143

Ähnlich auch die preuβischen, vor allem jüdischen Berliner Bankiers; sie erfüllten im Verhältnis zum Staat grundsätzlich dieselbe Rolle, wie die reichen böhmischen Familien,

141 William O. MCCAGG, Austria´s Jewish Nobles 1740 – 1918, Leo Beck´s Institute Yearbook 34 (1989), S. 163 – 183.

142Vgl.: Werner Eugen MOSSE, The German-Jewish Economic Elite 1820 – 1935. A Socio-cultural Profile. , Oxford 1989, S. 9 - 36.

143 Nachum T GROSS, Enterpreneurship of Religious and Ethnic Minorities, in: Werner Eugen Mosse – Hans Pohl (Hrsg.), Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 11 – 23.

indem sie zahlreiche Kredite der Staatskasse zur Verfügung stellten.144 Im Jahre 1812 machten zum Beispiel die jüdischen Bankiers über die Hälfte von allen in der Stadt ansässigen Bankiers aus, und sie beteiligten sich im gesamten Vormärz dementsprechend auch bei den Staatsanleihen und entfalteten allgemein eine bisher kaum bekannte öffentliche Wirksamkeit.145

Die staatlichen Belohnungen erfolgten aber nicht in einem vergleichbaren Umfang wie in Österreich. Der Fall von dem im Jahre 1810 nobilitierten Bankier Salomo Moses Levy, welcher den Freiherrenstand gerade für seine finanzielle Unterstützung Preuβens in den napoleonischen Kriegen erhielt, blieb für lange Zeit die einzige Ausnahme, an die erst ab den 70er Jahren angeknüpft wurde. Mit der massiven Zunahme der jüdischen Nobilitierungen in Österreich kann aber die Lage Preuβens nicht verglichen werden.146

Das entspricht auch der Tatsache, dass in Preuβen innerhalb der zivilen Nobilitierten eindeutig Grundbesitzer und Beamten überwogen, während in Österreich die Adelsverleihungen viel breiter verteilt wurden. Die Juden hatten also weitaus gröβere Chancen in den österreichischen Adel nicht nur als Juden aufzusteigen, sondern auch als einige der wichtigsten Vertreter von neuen Handlungsweisen, die etwa mit einem erfolgreichen Unternehmen oder zivilgesellschaftlichem Engagement verbunden waren.

Der Fall des jüdischen neuen Adels bestätigt also die oben aufgestellte Annahme. Der sozialgeschichtliche Blick zeigt, dass die staatliche Verteilung der Adelsverleihungen in den beiden untersuchten Regionen beträchtliche Unterschiede aufwies. Österreich praktizierte bei

144 Boris BARTH, Weder Bürgertum noch Adel – Zwischen Nationalstaat und kosmopolitischem Geschäft. Zur Gesellschaftsgeschichte der deutsch-jüdischen Hochfinanz vor dem Ersten Weltkrieg, Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 104 – 111.

145 Tobias BRINKMANN, Separierung versus Integration: Ein Vergleich der Funktion jüdischer Wohltätigkeit in Deutschland und den USA im 19. Jahrhundert, Comparativ 11 (2001), Heft 5 – 6, S.

81 – 105. Boris BARTH, Weder Bürgertum noch Adel – Zwischen Nationalstaat und kosmopolitischem Geschäft. Zur Gesellschaftsgeschichte der deutsch-jüdischen Hochfinanz vor dem Ersten Weltkrieg, Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 111 – 122. Michael BRENNER – Stefi JERSCH-WESSEL – Michael A. MEYER, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Band. 2.

1780 – 1871, München 1996, S. 84 – 95. Wilhelm TREUE, Jüdisches Mäzenatentum für die Wissenschaft in Deutschland, in: Werner Eugen Mosse – Hans Pohl (Hrsg.), Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 284 – 308.

146 Vgl.: Dieter HERTZ-EICHENRODE, Wilhelminischer Neuadel? Zur Praxis der Adelsverleihung in Preußen vor 1914, Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 645–679. Michael BRENNER – Stefi JERSCH-WESSEL – Michael A. MEYER, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Band. 2.

1780 – 1871, München 1996, S. 309 – 315. Johann Karl SCHROEDER, Standeserhöhungen in Brandenburg – Preuβen 1663 – 1918, Der Herold. Vierteljahrsschrift für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften. Neue Folge der Vierteljahrsschrift des Herold, Band 9, Jahrgänge 21 (1978) – 23 (1980), S. 10. Jacob TOURY, Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847 – 1871, Düsseldorf 1977. Reinhard RÜRUP, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur

„Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 11- 36.

den Nobilitierungen einen viel offeneren Zugang, indem in den böhmischen Adel breitere Gesellschaftsgruppen als in Schlesien einbezogen wurden. Die Nobilitierungen erfüllten somit besser die Rolle eines positiven Anreizes, durch den die Staatsloyalität breiterer Schichten gestärkt werden sollte. Die Ausrichtung der österreichischen Nobilitierungen auch auf die ersten Akteure der aufstrebenden Nationalbewegungen, sowie auf die jüdische ökonomische Elite, hatte zur Folge, dass zusammen mit diesen Gruppen auch Akteure nobilitiert wurden, welche zu den wichtigsten Wegbereitern verschiedener neuer Handlungsmuster gehörten, wie etwa der Unterstützung gesellschaftlicher Selbstorganisation, der über eigenen Profit hinausgehenden Praktiken der öffentlichen Gabe und Karitas oder der Kultivierung freier Diskussionskultur. Der Staat gewährte auf diese Art und Weise solchen Praktiken seine Anerkennung und Unterstützung.

Diese groβzügige Verteilung der Adelstitel stieβ jedoch bei den Nationalbewegungen an seine Grenzen zu der Zeit, als sich diese von dem Staat zu entfernen begannen und somit die staatliche Anerkennung nicht mehr brauchten. Die ursprünglich affirmative Einstellung der Nationalbewegungen zu den seitens des Staates gewährten Adelstiteln verwandelte sich zusammen mit ihrer allgemeinen Emanzipierung von dem Staat in eine prinzipielle Ablehnung. Parallel dazu setzte sich auch die entstehende Zivilgesellschaft von dem Staat ab.

In Schlesien konzentrierte sich man dagegen bei den Nobilitierungen die ganze Zeit vorwiegend auf die Gruppen der Staatsbeamten bzw. der Gutsbesitzer. Andere Gruppen wurden meistens übersehen, und der Adelsaufstieg war ihnen damit versperrt.

Der sozialgeschichtliche Blick lässt also den Schluss zu, dass in Böhmen viel breitere Schichten als in Schlesien in den Adel aufstiegen, was auch die Möglichkeit für die Bereicherung des Adelstugendkatalogs mit neuen Verhaltensweisen öffnete. Ob zusammen mit der gröβeren sozialen Offenheit der böhmischen Nobilitierungen tatsächlich auch die Durchsetzung von breiteren Kulturpraktiken und somit ihre staatliche Anerkennung einherging, soll im nächsten Kapitel überprüft werden.

4. „In Anerkennung der Verdienste…“

Legitimierungsstrategien der Adelszugehörigkeit und ihre Annahme seitens des Staates

Es ist auf diesem Platz angebracht eine kurze Pause zu machen und zu rekapitulieren, wohin uns die bisherige Analyse brachte. Es wurde festgestellt, dass in beiden Vergleichsfällen, sowohl in Breslau als auch in Prag, die Rahmenbedingungen für die Entstehung des neuen Adels grundsätzlich ähnlich waren. Die Aufstiegsarenen waren sehr gleichartig nicht nur bezüglich der rechtlichen Einrahmung, sondern auch hinsichtlich der sozialen Struktur. Sie konzentrierten eine Mehrheit der Adelsadepten aus den beiden Regionen, und der Staat hatte also in beiden Fällen eine ziemlich freie Hand und konnte bei den Adelsverleihungen aus einer bunten Skala von Personen und Verhaltensmustern auswählen.

Die sozialgeschichtliche Analyse der Nobilitierten deutet dann aber darauf, dass die aus diesen Aufstiegsarenen hervorgegangenen Sieger unterschiedlich waren. In Österreich stiegen viel mehr diejenigen Gruppen in den neuen Adel auf, die mit der Kultivierung von neuen Kulturpraktiken zu verknüpfen sind, wie etwa mit der gesellschaftlichen Selbstorganisierung in den neu gegründeten Verbänden, Assoziationen und Vereinen, allgemein mit dem Engagement in der entstehenden öffentlichen Sphäre und mit der Schaffung des sozialen Kapitals. Der gröβere Anteil der Wirtschafts- und Bildungsbürger unter den neuen Adligen in Österreich ist deutlich und unbestreitbar.

Der Blick auf die österreichische Adelsverleihungspraxis hinsichtlich der Nationalitäten und Juden lässt dann schon erste vorläufige Erklärung dieses Unterschieds aufstellen. Der verhältnismäβig tolerante Umgang mit den Nationalitäten und Juden hatte zur Folge, dass in den mit einer Nobilitierung ausgezeichneten Tugendkatalog zusammen mit den nobilitierten Spitzenpersonen gewisser Teile der Nationalbewegungen und der Juden in Österreich auch die Kulturpraktiken der gesellschaftlichen Selbstorganisation in verschiedenen Vereinen und Verbänden oder der sozialen Fürsorge und Karitas ihren Weg fanden. In Preuβen konzentrierte sich man dagegen in einer großen Mehrheit nur auf die Beamten oder Grundbesitzer, welche, schematisch gesehen, der aufstehenden Zivilgesellschaft eher ferner standen.

Diese erste These muss jedoch einer weiteren, gründlichen Überprüfung unterworfen werden. Die statistische Analyse ist nicht immer im Stande, alle dynamisierenden Faktoren zu erfassen1, und die zeitliche Korrelation der ersten Verbreitung von bestimmten Kulturpraktiken im zentralen Europa und des österreichischen und böhmischen Adelsaufstiegs derjenigen Schichten, die als ihre Repräsentanten bezeichnet werden, liefert keinen direkten Beweis dafür, das zwischen diesen beiden Phänomenen tatsächlich ein Kausalzusammenhang besteht.2 Viele Akteure der entstehenden Vereine, freien Assoziationen und Initiativen waren zwar nobilitiert, das heiβt jedoch nicht, dass ihr der Adelstitel gerade aufgrund ihres zivilgesellschaftlichen Engagements erteilt werden musste. Schlieβlich war das zivilgesellschaftliche Engagement nicht die einzige Lebensaktivität der Akteure. Als Akteur der zivilgesellschaftlichen Praktiken handelten sie nur in bestimmten Kontexten, in anderen Situationen kultivierten sie dann aber auch ganz andere Handlungsmuster. Für einen Fabrikanten war es ganz gewöhnlich, sich an einem einzigen Tag als ein aktives Mitglied in einem oder auch in mehreren Vereinen zu betätigen, danach sich aber wieder seinem hierarchisch strukturierten und ganz auf seinen finanziellen Profit ausgerichteten Unternehmen zu widmen.

Das gleiche kann aber auch umgekehrt gesagt werden, und auch die nobilitierten Offiziere, Beamten oder Grundbesitzer sollten nicht automatisch essentialisiert werden. Es war durchaus möglich, dass sich auch der Groβgrundbesitzer oder ein staatlicher Beamter neben seiner Landwirtschafts- oder Verwaltungstätigkeit öffentlich engagierte und auch andere Verhaltensmuster kultivierte, als nur die Verwaltung der Güter oder das hierarchisierte Leben innerhalb der staatlichen Bürokratie. Die zivilgesellschaftlichen Handlungsweisen stellen keine Einbahnstrasse dar, in die man hinein fährt ohne wieder zurückkehren zu können. Es war viel mehr möglich, auf das Feld der entstehenden Zivilgesellschaft durch eine mehr oder weniger geöffnete Drehtür ständig einzutreten und es auch ständig zu verlassen.3

1 Vgl.: Charles C. RAGIN, The Comparative Method. Moving Beyond Qualitative and Quantitative Strategies, Berkeley 1987, S. 82 – 83.

2 Auf der theoretischen Ebene vgl. dazu: Chris LORENZ, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln - Weimar – Wien 1997, S. 274 – 277.

3 Vgl.: Arndt BAUERKÄMPER, Einleitung: Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure und ihr Handeln in historisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive, in: Ders (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich. Frankfurt am Main – New York 2003, S. 9 – 30.

In dem folgenden Kapitel sollte also die sozialgeschichtliche Makroperspektive verlassen werden und der Blick eher auf die konkreten Akteure gerichtet werden. Durch die Analyse der einzelnen Nobilitierungsfälle sollten die oben aufgeworfenen Thesen überprüft werden. Es sollte hintergefragt werden, welche konkreten Argumentationsstrategien den Akteuren aus den jeweiligen Gruppen zu dem Adelstitel verhalfen und wie sie sich entwickelten. Es soll im Folgenden also darum gehen, die konkreten Argumentationsweisen zu überprüfen, welche die einzelnen in dem vorherigen Kapitel aufgestellten Gruppen zur Untermauerung ihres Adelsanspruches instrumentalisierten und somit festzustellen, was tatsächlich die Position der verschiedenen Handlungsmuster innerhalb des Qualifikationenkatalogs war, den der Staat bei den Nobilitierungen applizierte.

Das folgende Kapitel geht also auf die konkreten Handlungsmuster ein, die in dem verfolgten Zeitraum als ein Argument für die Erteilung des Adels benutzt wurden, sowie auf die Frage, wer sie wann benutzt hat und wie sich der Staat zu diesen verschiedenen Argumenten der Adelszugehörigkeit positionierte.

4.1 Schlesien

Im Dokument Staat, Adel und Elitenwandel. (Seite 121-129)