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Die Arena. Prag als die gebliebene Landesmetropole

Im Dokument Staat, Adel und Elitenwandel. (Seite 49-72)

2. Arenen des Aufstiegs

2.2 Böhmen

2.2.1 Die Arena. Prag als die gebliebene Landesmetropole

Prag bietet sich, ähnlich wie Breslau, als das traditionelle Zentrum Böhmens im Kontext dieser Arbeit als Untersuchungsgegenstand an. Böhmen, und damit auch seine Landesmetropole, erlebten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Entwicklungen, die für die Formierung der Prager Aufstiegsarena von besonderem Einfluss waren und die in vielen Hinsichten als parallel zu Breslau angesehen werden können. Es handelt sich in erster Linie um die Position Böhmens innerhalb der österreichischen Industrialisierung und um die Zentralisierung der österreichischen Verwaltung, welche das ehemalige böhmische Kronland in eine der vielen habsburgischen Provinzen verwandelten.

Obwohl die Ansichten über das Wesen, das Tempo und den Umfang der Industrialisierung Österreichs immer noch sehr differieren, scheint die These breit akzeptiert zu sein, dass der erste Beginn der Industrialisierungsprozesse spätestens in der zweite Hälfte der 1820er Jahren zu suchen sei.68 Es war so schon die österreichische Gesellschaft des Vormärzes, die mit einem zwar noch langsamen, doch aber deutlichen Wandel konfrontiert war und durch ihn verändert wurde.69 Wie Ernst Bruckmüller bemerkt, war die vormärzliche Alltagskultur des Biedermeiers eigentlich die erste industrielle Kultur Österreichs.70

Böhmen spielte dabei innerhalb Österreichs eine sehr ähnliche Rolle wie Schlesien im preußischen Kontext. Als traditionelle Gewerbelandschaft verfügte Böhmen im zentraleuropäischen Kontext über außerordentlich günstige Voraussetzungen, welche es zu einem der wichtigsten wirtschaftlichen Zentren der Monarchie erhoben. Im Vergleich zu anderen Regionen war Böhmen durch ein relativ gutes Verkehrsnetzwerk, ein progressives demographisches Wachstum und durch ein wesentlich über den Durchschnitt liegendes

68 Vgl.: Roman SANDGRUBER, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 2005, S. 176 – 179. Otto URBAN, Die tschechische Gesellschaft 1848 – 1918, Bd. I., Wien – Köln – Weimar 1994, S. 34 – 35. John KOMLOS, Die Habsburgermonarchie als Zollunion. Die Wirtschaftsentwicklung Österreich-Ungarns im 19.

Jahrhundert, Wien 1986, S. 64 – 139. David F. GOOD, The Economic Rise of the Habsburg Empire 1750 - 1914, Los Angeles – London 1984, S. 11 – 37.

69 Roman SANDGRUBER, Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, Wien 1982, S. 97 – 98.

Ders., Lebensstandard und wirtschaftliche Entwicklung im österreichischen Neoabsolutismus (1848-1859), in: Herbert Knittler (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge. Festschrift für Alfred Hoffmann, Wien 1979, S. 372 - 394.

70 Ernst BRUCKMÜLLER, Sozialgeschichte Österreichs, Wien – München 2001, S. 200.

Bildungsniveau gekennzeichnet.71 Dieses Potential war dann konsequenterweise am meisten in den größeren Städten zu finden, wo sich während des 19. Jahrhunderts sowohl eine beträchtliche Menge von technischen und ökonomischen „know how“, als auch qualifizierte Arbeitskräfte ansammelten.72

Die Grundlagen der späteren wirtschaftlichen Dynamik Böhmens wurden schon in der ersten Jahrhunderthälfte gelegt. Die sich verbreitende Kapitalmobilität ermöglichte einen Aufstieg von neuen Formen des Bank- und Sparkassenwesens, und schon vor dem Jahre 1848 formierte sich hier eine Schicht von Industrieunternehmern, Groβhändlern oder Bankiers, die zusammen mit der sich gestaltenden institutionellen Basis eine unumgängliche Grundlage des ansetzenden Aufschwungs darstellten. Spätestens ab den 40er Jahren begannen die böhmischen Länder den Weg, eines der Zentren der österreichischen Industrie zu werden.

Dass sich diese Entwicklung besonders deutlich in Prag ausprägte, liegt auf der Hand.73 Ebenso wie die preußischen Reformen des Jahrhundertbeginns, waren es in Österreich schon die Verfassungs- und Verwaltungsreformen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich die Entmachung und Zerschlagung der alten ständischen Strukturen zum Ziel setzten.

Die weitgehende Zentralisierung der Monarchie verwandelte die früheren, in vielen Hinsichten noch selbständigen Länder in Provinzen eines integralen Staatsorganismus.74 Die ständischen Privilegien wurden durch zentrale Ämter, Dienste, freie Berufe oder durch Geschäftsleute und Unternehmer ersetzt, und die Städte wurden so zu einem Kernpunkt des Lebens in dem breiten Umland.75

Auch der traditionelle Grundstein des Adelsstatus – der Grundbesitz – erfuhr während der Reformen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wesentliche Veränderungen. Waren es in Preußen die Stein-Hardenbergschen Reformen, welche die direkte Koppelung der Adelszugehörigkeit und des Grundbesitzes auflösten, ist in Österreich ein ähnlicher Verlauf schon in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts zu beobachten. Auch in Böhmen ist die Grundherrschaft aus der engen Verbindung zur Adelszugehörigkeit gelöst worden. Schon im Jahre 1782 dispensierte Joseph II. zum Beispiel für Böhmen die unadeligen Käufer von Staatsgütern von dem Erfordernis der Adelserlangung. Und wenngleich die gründliche

71 Pavla HORSKÁ – Eduard MAUR – Jiří MUSIL, Zrod velkoměsta. Urbanizace českých zemí a Evropa, Praha – Litomyšl 2002, S. 130 – 142.

72 Jan KŘEN, Dvě století střední Evropy, Praha 2006, S. 195.

73 Vgl.: Otto URBAN, Kapitalismus a česká společnost. K otázkám formování české společnosti v 19.století, Praha 2004, S. 63 – 69..

74 Zdeňka HLEDÍKOVÁ – Jan JANÁK – Jan DOBEŠ, Dějiny správy v Českých zemích od počátku státu po současnost, Praha 2005, S. 136 – 169.

75 Roman SANDGRUBER, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 2005, S. 228 – 229.

Veränderung des rechtlichen Rahmens für den Grundbesitzerwerb auf einen großen adligen Widerstand stieß: zur Rückkehr zum Adelsprivileg des Grundbesitzes kam es nie.76 Es eröffnete sich so den neuen bürgerlichen Gruppierungen eine klare Möglichkeit, Grundbesitz noch als Nichtadlige zu erwerben, diesen aber später als eines der Argumente für ihre Adelsansprüche zu verwenden.

Für die Prager Aufstiegsarena waren weiter die Industrialisierungs- und Zentralisierungsprozesse von besonderer Bedeutung. Im Jahr 1784 wurden die ursprünglichen vier Stadtteile in einer Verwaltungseinheit vereint. Prag begann so zum ersten Male in seiner Stadtgeschichte die Rolle einer völlig zentralisierten Stadt zu spielen.77 Die Vereinigung der ursprünglich selbstständigen Stadtteile hatte zur Folge, dass sich die zentrale Rolle Prags innerhalb Böhmens nicht nur bestätigte, sondern noch mehr verdeutlichte. Die während des ganzen 19. Jahrhunderts rasant steigende geographische Mobilität der Bevölkerung in Böhmen, sowie ihr Wachstum, machten aus Prag den mit Abstand gröβten Mittelpunkt des Landes.

Die Böhmische Hauptstadt wurde so schon am Ende des 18. Jahrhunderts mit mehr als 70 000 Einwohnern zur zweitgröβten Stadt der Habsburger Monarchie, wobei der Populationszuwachs seine Dynamik erst allmählich entwickelte.78 So überstieg Prag die symbolische Grenze von 100 000 Einwohnern schon in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, um in den 60er Jahren mehr als 150 000 Einwohner zu verzeichnen.79 Prag und Breslau reihten sich so von der Einwohnerzahl her in der Rangliste der europäischen Groβstädte im Jahre 1850 gleich nebeneinander ein, auf den fünfunddreißigsten, respektive sechsunddreißigsten Platz.80 Auch in Prag verbirgt sich hinter den demographischen Angaben ein wesentlicher qualitativer Wandel.81

Die soziale Struktur Prags wurde sehr stark von der dortigen Universität geprägt.

Obwohl die alte und traditionsreiche Karlsuniversität auf den ersten Blick mit der neu

76 Ernst BRUCKMÜLLER, Sozialgeschichte Österreichs, Wien – München 2001, S. 211 – 212.

77 Ondřej BASTL, Spojení pražských měst v roce 1784, Praha 2003, S. 33 – 52. Pavel BĚLINA, První půlstoletí měst pražských 1784 – 1848, in: Dějiny Prahy II., Praha – Litomyšl 1998, S. 15 – 16.

78 Vgl.: Elizabeth LICHTENBERGER, Wien – Prag: Metropolenforschung, Wien – Köln – Weimar 1993, S. 70. Franz BALTZAREK – Alfred HOFFMANN – Hannes STEKL, Wirtschaft und Gesellschaft der Wiener Stadterweiterung, Wiesbaden 1975, S. 62 – 69.

79 Vgl.: Jiří PEŠEK Od aglomerace k velkoměstu. Praha a středoevropské metropole 1850 – 1920, Praha 1999, S. 137. Ludmila FIALOVÁ – Pavla HORSKÁ – Milan KUČERA – Eduard MAUR – Jiří MUSIL – Milan STLOUKAL, Dějiny obyvatelstva českých zemí, Praha 1998, S. 150 – 151. Josef JANÁČEK a kol., Dějiny Prahy, Praha 1964, S. 412 – 415.

80 Paul M. HOHENBERG – Lynn Hollen LEES, The Making of Urban Europe 1000 – 1950, Cambridge - London 1985, S. 227.

81 Jan HAVRÁNEK, Demografický vývoj Prahy v druhé polovině 19. století, in: Pražský sborník historický 1969 – 1970, S. 70 - 105.

gegründeten und viel bescheideneren Breslauer Leopoldina kaum vergleichbar scheint, waren die Einflüsse auf die Prager Aufstiegsarena sehr ähnlich.

Verfügte die neue Breslauer Universität zu Beginn ihrer Existenz über eine nur sehr beschränkte Attraktivität für Studenten auβerhalb der eigenen Region, war das auch für die Karlsuniversität während des 18. und 19. Jahrhunderts der Fall. Ihre ehemalige prominente Position hatte sie langsam, zusammen mit den anderen Universitäten der Habsburger Monarchie, in der indirekten Konkurrenz mit den progressiven deutschen Universitäten (wie etwa in Göttingen oder Halle) verloren. Das hatte zu Folge, dass eine Mehrheit der Studenten direkt aus Böhmen kam und nach der Absolvierung des Studiums in Böhmen blieb.82

In Folge der Aufklärungsreformen des späten 18. Jahrhunderts, vor allem des Toleranzpatentes aus dem Jahr 1781, öffnete sich die Prager Universität den nichtkatholischen Konfessionen, einschlieβlich der Juden.83 Die der Universität entstammende Bildungselite konnte so während des 19. Jahrhunderts eine verhältnismäβig groβe innere Vielfalt aufweisen und die Prager Aufstiegsarena um neue soziale und konfessionelle Attribute bereichern.

Für diese Auswirkungen sind noch die inneren Entwicklungen innerhalb der Studienfächer von besonderer Bedeutung, welche die sich allmählich verändernden Präferenzen der Studenten widerspiegelten. Wie einer der gröβten Kenner der Prager Universitätsgeschichte, Jan Havránek, anführt, verlor die mit der Kirche verknüpfte Laufbahn allmählich an Attraktivität und wurde durch die juristische, medizinische und später noch technische Karriere ersetzt.84 Sowohl die immer steigende Zahl der aus der Universität hervorgegangenen Juristen, Ärzte oder der neuen technischen Intelligenz, als auch die veränderte rechtliche und soziale Stellung der Universitätsprofessoren brachten ganz neue Verhaltensmuster mit sich, die für die Adelsansprüche instrumentalisiert werden konnten und instrumentalisiert wurden.85 Mit einer geringeren, doch aber deutlichen Aufstiegschance wurden auch die Gymnasialabsolventen ausgestattet. Die Prager Gymnasien gehörten im böhmischen und vielleicht auch im österreichischen Kontext zu denjenigen, deren

82 Jan HAVRÁNEK, Univerzita, její zřízení, správa a studentstvo, in: Jan Havránek (red.), Dějiny Univerzity Karlovy 1802 – 1918, sv. III., Praha 1997, S. 19.

83 Vgl.: Eva MELMUKOVÁ, Patent zvaný toleranční, Praha 1999, S. 28 – 41.

84 Jan HAVRÁNEK, Univerzita, její zřízení, správa a studentstvo, in: Jan Havránek (red.), Dějiny Univerzity Karlovy 1802 – 1918, sv. III., Praha 1997, S. 21.

85 Vgl.: Gary B. COHEN, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria 1848 – 1918, West Lafayette 1996, S. 1 - 94.

Absolventen ganz häufig ihren Weg in die oberen Stufen der Staatsverwaltung oder des Handels fanden.86

Die Prager Aufstiegsarena wurde weiterhin, obwohl ein bisschen später, auch durch einen sehr starken kommerziellen Faktor geprägt. Die Stadt wurde im Kontext der Industrialisierung zum wichtigsten Zentrum des sich dynamisierenden Handels und der Industrie. Nach dem staatlichen Bankrott 1811 begann die österreichische Wirtschaft ungefähr ab den 20er Jahren wieder zu wachsen, wobei Prag vor allem durch die hohe Konzentration der Textilindustrie gekennzeichnet war.87 Unter den verschiedenen Sparten wurde die Kattunweberei berühmt, die im Ruf der modernsten Branche stand. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts existierten in Prag und in der unmittelbaren Umgebung schon 15 Kattunfabriken, welche mehr als sechzig Prozent der ganzen böhmischen Produktion darstellten, und auch andere Gebiete verzeichneten ab den 20er Jahren einen deutlichen Aufschwung.88

Mit dem industriellen Aufstieg ging eine - obwohl begrenzte - Entwicklung des Bankwesens einher.89 Prag konnte sich darin vor allem mit Wien kaum messen: Die Prager Bankhäuser waren eher lokaler Art. Trotzdem entstanden hier schon im Vormärz mindestens zwei gröβere Bankhäuser, deren Bedeutung die regionalen Grenzen klar überragte. Die Bankhäuser Lämmel und Zdekauer haben im 19. Jahrhundert ihre Tätigkeit auf die ganze Monarchie erweitert, ohne dabei aber die feste Verankerung in den Prager Verhältnissen zu verlieren. Die Eröffnung der Prager Filiale der österreichischen Nationalbank im Jahre 1847 krönte diese Tendenzen und bestätigte die wirtschaftliche Stellung nicht nur Böhmens, sondern auch Prags, das schon deutlich zur drittgrößten Handelsmetropole Österreichs wurde.90

86 Vgl.: Jan ŠAFRÁNEK, Školy České. Obraz jejich vývoje a osudů II., Praha 1918, S. 130 – 138.

Týž, Školy České. Obraz jejich vývoje a osudů I., Praha 1913, S. 233 – 247. Gustav STRAKOSCH-GRAβMANN, Geschichte des österreichischen Unterrichtswesens, Wien 1905, S. 201 – 209.

87 Vgl.: Zdeněk MÍKA, Počátky průmyslové výroby v Praze, in: Pražský sborník historický 12 (1980) S. 85 – 169 und 13 (1981), S. 50 – 123. Josef JANÁČEK a kol., Dějiny prahy, Praha 1964, S. 427 – 430.88 Vgl.: Zdeněk MÍKA, K průmyslovému vývoji Prahy v 19. a na počátku 20. století, in: Documenta Pragensia V/1 (1985), S. 12 – 26. Zu der allgemeinen industriellen Entwicklung Prags im 19.

Jahrhundert vgl. konkret und ausführlich: Pavel BĚLINA, První půlstoletí měst pražských 1784 – 1848, in: Dějiny Prahy II., Praha – Litomyšl 1998, S. 38 - 52.

89 Allgemein vgl.: Richard LAWTON, Aspects of the development and role of great cities in the Western World in the nineteenth and twentieth centuries, in: Richard Lawton (ed.), The Rise and Fall of Great Cities, London – New York 1989, S. 1 – 18.

90 Ivan JAKUBEC – Zdeněk JINDRA, Dějiny hospodářství českých zemí. Od počátku industrializace do konce Habsburské monarchie, Praha 2006, S. 16 – 17.

Das Verbleiben des Hauptsitzes der zwei gröβeren Bankhäuser in Prag illustriert aber, was für die Prager Wirtschaftseliten typisch war: Es handelte sich in der Mehrheit um Eliten mit einer nur regionalen Reichweite. Wenn sie gelegentlich den regionalen Kontext Böhmens übergingen, blieben sie in der Regel fest in Prag verankert und dürfen deswegen der Prager Aufstiegsarena zugerechnet werden.91

Um eine Aussage über alle möglichen sozialen Segmente der Prager Aufstiegsarena treffen zu können, können wir uns noch einmal auf Ernst Bruckmüller berufen, der in seiner exzellenten „Sozialgeschichte Österreichs“ die soziale Schichtung Wiens aufgrund einer Verordnung schilderte, die alle jene Gruppierungen nannte, die von der Einholung des Ehekonsenses beim Wiener Magistrate befreit wurden. Es handelt sich also gerade um die ausschließlich höheren sozialen Schichten, aus denen sich die Adelsadepten rekrutierten.

Bruckmüller führt folgende Kategorien in der genauen Reihenfolge an: 1. der Adel, 2. alle landesfürstlichen, ständischen, städtischen und herrschaftlichen Beamten, 3. Doktoren, Magister, Professoren und Lehrer der öffentlichen Schulen und Erziehungsanstalten, 4.

Advokaten und Agenten, 5. alle Bürger, 6. alle Haus- und Gutsbesitzer, 7. alle Personen, welche mit einem Meisterrechte, Landesfabriks-, Fabriks- oder einem so genannten Regierungsbefugnis (Schutzdekret) versehen werden.92

Wenn man diese Kategorien noch mit konkreten Zahlenangaben zu untermauern sucht, kann man sich auf die eben von Ernst Bruckmüller erwähnten Daten der in Wien heimatberechtigten Männer berufen. Wie Bruckmüller angibt, gab es im Jahre 1840 in Wien mehr als 90 000 Heimatberechtigte, von denen ungefähr 700 auf die Kategorie Geistliche entfielen, 3340 auf den Adel, 5453 waren Beamte und Angehörige des Bildungsbürgertums, mehr als 10 500 waren Gewerbeinhaber, Akademiker und Künstler.93

Es gibt keinen wesentlichen Grund, um anzunehmen, dass sich die Prager Aufstiegsarena von der Wiener qualitativ wesentlich unterschied. Obwohl Prag kleiner war und nicht eine so groβe Attraktivität wie Wien aufweisen konnte, wurde es schon vor dem Jahre 1850 zu einem der wichtigsten Zentren der innerstaatlichen Migration Österreichs.94 Obgleich die massivsten Migrationswellen erst mit den ersten Agrarabsatzkrisen der 70er und 90er Jahren verbunden waren, wurde die soziale Struktur der Stadt schon vor dem Jahr 1850

91 Vgl.: Jiří KUDĚLA, Prager jüdische Eliten von 1780 bis in die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in:

Judaica Bohemiae 28, 1992, S. 22 – 34.

92 Ernst BRUCKMÜLLER, Sozialgeschichte Österreichs, Wien – München 2001, S. 218-219.

93 Ebenda, S. 212, 248.

94 Heinz FASSMANN, Migration in Österreich 1850 – 1900. Migrationsströme innerhalb der Monarchie und Struktur der Zuwanderung nach Wien, in: Demographische Informationen, Wien 1986, S. 22 – 36.

durch einen Wandel geprägt, welcher die Aufstiegsarena um neue Verhaltensmuster bereicherte.95 Während der Zentralisierung des Staates blieb Prag immer noch das erste Verwaltungszentrum der Landesverwaltung. Dort siedelten die wichtigsten Organe der Landesverwaltung, zuvorderst mit dem Landesgubernium, dann das Militärkommando für ganz Böhmen. Die sich seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts kontinuierlich ausbreitende Tätigkeit der Verwaltungsbehörden auf der Landesebene erweiterte auch die Zahl der Beamten beträchtlich.96 In die Stadt zogen viele, deren Geschäfte eng mit den Stellen der Landesverwaltung zusammenhingen. Es handelte sich in erster Linie um höhere Staatsbürokraten und Offiziere, welche eben eine der wichtigen Milieus für die Adelsverleihungen bildeten.97

Mit der Ausnahme der großen Anzahl der landesfürstlichen Beamten und des mit der Anwesendheit des Hofes verknüpften hohen Adels kann man wohl vermuten, dass die oben erwähnte soziale Zusammensetzung der potentiellen Adelsadepten in Wien sich von Prag nicht allzu viel unterschied. So wurden die wesentlichsten Teile der potentiellen Adelsanwärter sowohl in Prag als auch in Breslau durch die mit dem Staat unmittelbar verbundenen Schichten des höheren Militärs und der Bürokratie konstituiert, ergänzt entweder durch die Repräsentanten der ganz neuen Verhaltensmuster, wie etwa die Industriellen, Bankiers oder Kaufleute, oder durch diejenigen der schon älteren Verhaltensmuster, die aber im 19. Jahrhundert wesentlich an Gewicht gewannen, wie etwa bestimmte Teile des Bildungsbürgertums. 98

Auch in Prag stand dem Staate also eine ziemlich bunte Skala von Personen und Verhaltensnormen zur Auswahl, die als nobilitierungswürdig betrachtet werden konnten.

Ähnlich wie die Breslauer, war eben die Prager Aufstiegsarena aber nicht nur von solchen groβen strukturellen Veränderungen der Region und Stadt geprägt, sondern auch durch unmittelbare politische Ereignisse, die ebenso ein groβes Potential hatten, staatliche Präferenzen bei den Nobilitierungen zu bewirken. Es handelt sich vor allem um die direkte Erfahrung der Napoleonischen Kriege und der Revolution 1848 und 1849.

95 Pavla HORSKÁ, Hlavní problémy demografického vývoje Prahy ve 2. polovině 19. století, in:

Documenta Pragensia V/1 (1985), S. 31 – 38.

96 So wuchs zum Beispiel allein zwischen den Jahren 1848 - 1855 die Zahl der Staatsbeamten auf das Sechsfache. Otto URBAN, Die tschechische Gesellschaft 1848 – 1918, Bd. I., Wien – Köln – Weimar 1994, S. 141.

97 Vgl.: Waltraud HEINDL, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 – 1848, Wien – Köln -Graz 1991, S. 21 – 89.

98 Vgl.: Karel LITSCH, Zur Rechtsstellung der Prager Universitätsprofessoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hans Lemberg – Karel Litsch – Richard Georg Plaschka – Györgi Ránki (Hrsg.), Bildungsgeschichte, Bevölkerungsgeschichte, Gesellschaftsgeschichte in den Böhmischen Ländern und in Europa. Festschrift für Jan Havránek zum 60. Geburtstag, Wien – München 1988, S. 3 – 16.

Böhmen geriet während der langen Kriegsperiode des Jahrhundertanfangs, ähnlich wie Schlesien, mehrmals in die Nähe oder gerade in den Kern von Kriegsoperationen.99 Die sich immer wiederholende unmittelbare Gefahr und Realität der militärischen Niederlage zwangen die Regierung zu bisher unbekannten Maβnahmen in Bezug auf die Gewährleistung einer kampffähigen Armee. Schon der Krieg im Jahre 1809 war mit deutlich patriotischer Agitation begleitet, und obwohl die Frage ihres breiten Erfolgs umstritten bleibt, waren die Fälle von

„patriotischen Opfern“ einzelner Personen nicht vernachlässigbar.100 Es handelte sich um eine bunte Skala von Möglichkeiten: Beginnend mit einer freiwilligen Spende zugunsten der Armee, über die Übernahme der durch die Bezahlung und materielle Verpflegung der Truppen entstandenen Kosten, bis hin zu direktem persönlichem Engagement, als einzelne Personen nicht nur auf eigene Kosten kleine Kohorten bereitstellten, sondern dann tatsächlich mit diesen auch persönlich an den militärischen Operationen teilnahmen.101

Gerade die vielfältige Förderung von solchen „Freikorps“ konnte später als ein willkommenes Argument bei den Ersuchen um Adelsverleihung dienen und die Begründungsargumente vieler vorwiegend ziviler Personen um eine militärische Komponente bereichern. Das war in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht unwichtig. Die allgemeine gesellschaftliche Position der Armee stieg nach den Kriegen deutlich. Es waren vor allem die verschiedensten Heldentaten auf dem Schlachtfeld oder die militärischen Verdienste allgemein, die bei den staatlichen Auszeichnungen gegenüber anderen ein unübersehbares Gewicht erwerben konnten. Ähnlich wie in Preuβen in den Jahren 1806 – 1807, war es die österreichische Niederlage im Jahr 1809, die eine weitgehende Reform der Armee veranlasste, und es war eines der höchsten staatlichen Interessen, für die neue Armeekonzeption möglichst qualifizierte Kräfte zu gewinnen. Die Adelsverleihungen, verstanden als die höchste staatliche Auszeichnung, boten sich an, für solche Zwecke instrumentalisiert zu werden.

Die Auswirkungen der Kriege gegen Frankreich waren also sowohl in der Prager als auch in der Breslauer Aufstiegsarena sehr ähnlich, indem sie das Potential hatten, einem der möglichen Verhaltensmuster mehr Gewicht zu geben. Etwas andere, dem Schlesischen Fall aber fast identische Auswirkungen hatten auch die Ereignisse der Jahre 1848/9, als auch die

99 Dazu ausführlich.: Josef POLIŠENSKÝ, Napoleon a srdce Evropy, Praha 1971.

100 Vgl.: Milan ŠVANKMAJER, Čechy na sklonku napoleonských válek 1810 – 1815, Praha 2004, S.

100 Vgl.: Milan ŠVANKMAJER, Čechy na sklonku napoleonských válek 1810 – 1815, Praha 2004, S.

Im Dokument Staat, Adel und Elitenwandel. (Seite 49-72)