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3 Der Produktionsprozess von Konfliktberichterstattung

3.2 Einflussfaktoren des journalistischen Systems

3.2.2 Einflussfaktoren der Mesoebene: Organisationsformen, Struktu- Struktu-ren, Routinen

3.2.2.1 Der Prozess der journalistischen Nachrichtenauswahl und -verarbeitung

Der Gatekeeper-Forschung liegt die Annahme zugrunde, dass der Prozess der Nachrichtenauswahl wesentlich von bestimmten Personen (gatekeeper) gesteuert wird, die innerhalb des Kommunikationsprozesses vom Ereignis bis zur veröffent-lichten Nachricht an bestimmten "Schleusen" oder "Pforten" (gates) sitzen und darüber entscheiden, welche Informationen weitergegeben werden und welche nicht. Solche "Schleusenwärter" im journalistischen Kommunikationsprozess sind z.B. Korrespondenten, journalistische Mitarbeiter und Übersetzer von Agenturen oder Redakteure, die die in einer Redaktion eintreffenden Nachrichten selektieren, gewichten und bearbeiten.

Während der Begründer der Gatekeeper-Forschung, David Manning White (1950), dem individuellen Journalisten eine aktive und sehr bestimmende Rolle im Prozess der Nachrichtenselektion zuwies, kamen darauf folgende Studien zu dem Schluss, dass Journalisten eher passive Informationsvermittler sind. Demnach ist die Nach-richtenauswahl zu großen Teilen organisatorischen Zwängen und Routinen unter-worfen, wesentlich durch die jeweilige redaktionelle Linie beeinflusst und in starkem Maße durch die Vorauswahl der Nachrichtenagenturen geprägt (z.B.

Breed, 1956; Gieber, 1956). In den Blickpunkt rückten damit die institutionellen Faktoren, die den Prozess der Nachrichtenauswahl beeinflussen. Später wurden auch die Einflüsse von außerhalb der Medieninstitutionen verstärkt in die Analyse mit einbezogen. So entwickelt Shoemaker (1991) ein komplexes Gatekeeping-Mo-dell, in dem intraindividuelle Gatekeeping-Prozesse, Charakteristika und Routinen von Organisationen, Kommunikationsprozesse zwischen Organisationen und der Einfluss von Gesellschaft, Politik, Ideologie und Kultur miteinander in Beziehung gesetzt werden. (Ob es allerdings angesichts der vielfältigen Einflussgrößen und -richtungen, die in neueren Modellen zu Recht berücksichtigt werden, noch sinn-voll ist, an der Metapher des Gatekeepers festzuhalten, sei dahingestellt.)

68 3. Der Produktionsprozess von Konfliktberichterstattung

Die Redaktionsforschung wurde in Deutschland wesentlich durch die Arbeit von Manfred Rühl (1979) geprägt, die empirisch auf Beobachtungsstudien in Zeitungs-redaktionen basiert. Theoretisch Bezug nehmend auf Luhmanns Systemtheorie begreift Rühl Redaktionen als organisierte soziale Systeme mit weitgehend forma-lisierten Interaktions- und Kommunikationsmustern. Journalistische Arbeit in Re-daktionen vollzieht sich demnach als durchrationalisierter Produktionsprozess innerhalb ebenso rationalisierter Organisationen. Das elementare Konstrukt zur Analyse und zum Verständnis redaktionellen Handelns ist für Rühl "redaktionelles Entscheiden". Dieses umfasst Recherchieren, Redigieren, Schreiben sowie andere Handlungs- und Kommunikationsprozesse. Entscheidungsprozesse in Redaktio-nen lassen sich als zweistufiges Auswahlverfahren charakterisieren (Rühl, 1989):

1. Aufgrund bestimmter Werte, Normen, Wirkungsabsichten, professioneller Standards und Deutungsmuster und organisatorischer Ressourcen bilden sich in Redaktionen Entscheidungsprogramme heraus. Diese Entscheidungspro-gramme stellen für die Redaktionsmitglieder eine Art generelle Handlungsvor-lage dar.

2. Der situativ zustande kommende Entscheidungs- und Auswahlprozess wird weitgehend durch diese allgemeinen Entscheidungsprogramme gesteuert bzw.

vorprogrammiert. Die individuelle Gestaltungsfreiheit wird dadurch auf ein Mi-nimum reduziert.

Altmeppen (1999), der mittels teilnehmender Beobachtung journalistische Ar-beitsabläufe in Hörfunkredaktionen untersuchte, sieht redaktionelles Handeln nicht ganz so stark durch feste Entscheidungsprogramme determiniert. Er unter-scheidet zwei Arten von journalistischen Programmen:

• Als Organisationsprogramme werden die organisationalen Gliederungsaspekte des Journalismus bezeichnet: die Abteilungs- und Ressortgliederung und die verschiedenen Rollen (Mitglieds-, Berufs- und Arbeitsrollen).

• Arbeitsprogramme beinhalten die Arbeitsweisen und -techniken, die Verfah-rensregelungen und Entscheidungskriterien des Journalismus, zu denen Bear-beitungsprogramme, Themen-, Selektions- und Darstellungsprogramme gehö-ren.

In diesen Programmen verbinden sich allgemeingültige Regelungen (z.B. Rechte und Normen), Verfahrensweisen und Arbeitstechniken (z.B. Recherche, Nachrich-tenauswahl und -schreiben) und Deutungsmuster (Funktionsverständnis, genera-lisierte Verhaltenserwartungen) mit den organisationsspezifischen Zielen und Handlungserwartungen. Journalistisches Handeln wird durch diese Programme zugleich ermöglicht und restringiert. Zwar konstatiert Altmeppen wie Rühl, dass diese Programme "ein Element zur Formalisierung und Routinisierung der journa-listischen Arbeit" darstellen (ebd., S. 177), er betont aber, dass die Arbeit nicht bis ins Detail durch die Programme festgelegt wird, da die Programme

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dig oder nur vage formuliert sind: "Die journalistische Aussagenproduktion lässt sich zeitlich und sachlich nicht präzise planen und regeln, sie ist mit Risiken und Unsicherheiten behaftet und ständigen Umwelteinflüssen ausgesetzt. In diesem Sinne bilden die journalistischen Programme einen Korridor, der Grenzen und Be-dingungen des Handelns festlegt, der aber auch Handlungsspielräume enthält"

(ebd.). Entsprechend besteht nach Altmeppens Beobachtungen ein wesentlicher Teil redaktionellen Handelns in koordinierenden Tätigkeiten, d.h. in Interaktions-und Kommunikationsprozessen Interaktions-und in jeweils situativ neu zu treffenden Abspra-chen und Abstimmungen.

Implikationen für konstruktive Konfliktberichterstattung

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Befunden für die Umset-zungschancen konstruktiver Konfliktberichterstattung? Eine generelle Aussage darüber ist aufgrund der Allgemeinheit der geschilderten Ergebnisse schwerlich zu treffen. Um die Umsetzungschancen im Einzelfall beurteilen zu können, müssten die konkreten Entscheidungsprogramme der jeweiligen Redaktionen identifiziert und auf diesen Gesichtspunkt hin untersucht werden. Dennoch ergeben sich aus den Ergebnissen der Redaktionsforschung und den Ansprüchen konstruktiver Konfliktberichterstattung folgende allgemeine Implikationen:

• Von großer Bedeutung für die Umsetzung konstruktiver Konfliktberichterstat-tung sind redaktionelle Entscheidungsprogramme, in denen sich friedensjour-nalistische Prinzipien niederschlagen bzw. in denen diese nicht von vornherein konterkariert werden. Ist dies nicht der Fall, so bleiben auch die Möglichkeiten des einzelnen Redakteurs, konstruktive Konfliktberichterstattung umzusetzen, begrenzt.

• Kennzeichen von redaktionellen Entscheidungsprogrammen und Organisati-onsstrukturen, die konstruktive Konfliktberichterstattung unterstützen, wären etwa:

– Eine Leitlinie der Redaktion, welche die Absicht beinhaltet, mit der Bericht-erstattung zur Deeskalation von Konflikten bzw. zu Prozessen gewaltfreier Konfliktbearbeitung beitragen zu wollen.

– Verinnerlichung friedensjournalistischer Leitfragen und ihre routinisierte An-wendung bei jedem einzelnen Auswahl- und Entscheidungsprozess, z.B.:

Welches Bild des Konflikts wird mit dieser Nachrichtenauswahl oder -bear-beitung gezeichnet? Wer oder was wird dadurch gestützt? Wer oder was wird damit vernachlässigt? Welche Ursachen und welche Lösungen werden damit nahe gelegt? usw.

– Verinnerlichung dieser Fragestellungen auch in den durch die redaktionellen Entscheidungsprogramme noch nicht im Einzelnen festgelegten Koordinie-rungs- und Kommunikationsprozessen.

70 3. Der Produktionsprozess von Konfliktberichterstattung

– Erarbeitung von Zielsetzungen und Konzeptionen bezüglich der längerfristi-gen Berichterstattung über Konflikte, wodurch sich Medien zugleich ein "un-verwechselbares Profil" (Henze, I 7) erschaffen können.

– Redaktionsstrukturen, die ausreichend finanzielle Ressourcen und Zeit zur Recherche bereitstellen.

– Organisationsstrukturen, die Zeit geben zur Diskussion und zur Reflexion.

Dadurch können auch so genannte Groupthink-Prozesse (Janis, 1982) in-nerhalb der Redaktion vermieden werden (vgl. Kap. 3.5.1.5 für weitere Aus-führungen zum Phänomen Groupthink).

– Eine weniger starke Fixierung auf die Prioritätensetzung der Agenturen, da-für eine stärkere Ausrichtung an den eigenen, vorzugsweise wie in den vo-rigen Punkten genannten Prinzipien.

• Ob und wie derartige Entscheidungsprogramme und Organisationsstrukturen in Redaktionen realisiert werden könnten, kann hier nicht beantwortet werden.

Damit sich friedensjournalistische Prinzipien in redaktionellen Leitlinien und Routinen niederschlagen, bedürfte es jedoch vielerorts wohl erst eines grund-legenden Bewusstseinswandels, innerhalb dessen die besondere Verantwor-tung der Medien in Konflikten anerkannt wird und daraus entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Weiterhin ist zu konstatieren, dass einige ak-tuelle Tendenzen der Redaktionsentwicklung eher gegenläufig wirken: Die Zeit, die Journalisten zur Recherche zur Verfügung steht, nimmt ab (Meckel &

Drath, 2001), aufgrund zunehmender Zeit- und Ressourcenkapazitäten können nur in wenigen Redaktionen Journalisten so recherchieren, wie sie es sich wün-schen würden (Wyss, 2002), aus denselben Gründen sind die Reflexionsmög-lichkeiten – etwa in Form von Sendungs- und Blattkritiken – begrenzt (ebd.).

• Die starke Orientierung an den Schwerpunktsetzungen der Agenturen10 wäre aus friedensjournalistischer Sicht ein weniger großes Problem, wenn Agenturen dieselben eben skizzierten Entscheidungsprogramme und -strukturen aufwei-sen würden und ihre Mitarbeiter bei der Nachrichtenauswahl und -verarbeitung die entsprechenden Fragen und Kriterien anlegten. Fortbildungsmaßnahmen im Bereich konstruktiver Konfliktberichterstattung sollten sich daher insbeson-dere auch auf Redakteure und Mitarbeiter von Agenturen erstrecken. Je weiter vorn in der Kette der Gatekeeper nach friedensjournalistischen Prinzipien ge-handelt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch das journalis-tische Endprodukt den selbigen Kriterien entspricht.

10 Agenturen beeinflussen die Medienagenda nicht nur durch ihre Nachrichtenselektion, sondern auch durch ihren Service der Nachrichtengewichtung: Alle in der Redaktion eintreffenden Agenturmel-dungen sind bereits mit einer Zahl zwischen 1 und 6 versehen, welche die Wichtigkeit der Meldung anzeigen soll (Zielke, R 2).

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