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Phänomenologische Erarbeitung von Cycnus (1978)

Im Dokument Cy Twombly (Seite 102-105)

Schaffungsabschnitten

2. Cycnus (1978, Rom): Zwischen Mythos und Metamorphose

2.1. Phänomenologische Erarbeitung von Cycnus (1978)

Die ursprüngliche Version der Skulptur ist 40,5 cm hoch, 25,6 cm breit, 6 cm tief und setzt sich als Assemblage aus unterschiedlichen Materialien wie Holz, einem Palmblatt, Nägeln und Leim zusammen. Twombly verlieh den einzelnen Komponenten einen einheitlichen Anstrich in weißer Öl- und Wandfarbe. Cycnus befindet sich in der Sammlung des Künstlers in Rom,383 die Skulptur wurde jedoch bereits in zahlreichen Ausstellungen präsentiert.384

Es fällt zunächst nicht leicht, den ersten Eindruck von der Arbeit angemessen zu beschreiben. Betrachtet man die Arbeit, wirkt sie zunächst rätselhaft. Man tendiert dazu, nach bekannten und benennbaren Elementen zu suchen und stößt sogleich auf vertraute Gegenstände wie einen Fächer, ein Holzbrett und einzelne Nägel.

Nach längerer Beobachtung drängen sich Assoziationen, wie die an eine überdimensionale Ohrmuschel oder einen millionenfach vergrößerten Embryo auf. Auch mag man sich an einen Teil einer exotischen Pflanze erinnert fühlen.

Das wohl stärkste Bild, welches beim Anblick des Palmblattes ensteht, ist das eines Flügels. Fast meint man, Luft, Bewegung und die schwingenden Flügel eines Vogels zu erspüren.

Das Gesehene ist nicht eindeutig. Zwar erinnert die herzförmige Pflanzenform bisweilen an ein großes Blatt, dennoch wurde sie durch ihren weißen Farbmantel in etwas anderes, nicht leicht zu Beschreibendes verwandelt. Vor unserem inneren Auge entsteht ein mehrdeutiges Phantasiegebilde, das die unterschiedlichsten Bedeutungsansätze in sich trägt.

Nach den Maßen zu urteilen, ist Cycnus eine verhältnismäßig kleine und kompakte Arbeit (Abb. Kunsthaus Lange, Installationsansicht).385 Zwar wirkt

      

383 Vgl. Del Roscio 1997, Nr. 35, S. 88. und Kat. Ausst. Basel/Houston 2000/2001, S. 198, Anm. 14.

384 Unter anderem 1981 im Museum Haus Lange in Krefeld, 1985 in der Fùndación Caixa de Pensiones in Madrid, im Kunsthaus Zürich 1987, im Kunstmuseum Basel 2000, in der Menil Collection 2001, etc..

385 Dies wird besonders anhand einer frühen Ausstellungsfotografie der Skulptur in der großen Halle des Museum Haus Lange in Krefeld deutlich.

Vgl. Kat. Ausst. Krefeld 1981, Abb. 16.

Hier sieht man im unmittelbaren Vergleich eine schmale aber dafür höhere Skulptur Untitled (1976, Karton, Öl/Wandfarbe, 168 cm hoch und Durchmesser: 21,5 cm unten, 8,5 cm oben, Sammlung des Künstlers, Rom, Del Roscio 23.), die durch die Tür im anschließenden Raum zu sehen ist, eine frühe Arbeit Untitled (1959, Holz, Muschel/Blatt, Pigment, Öl/Wandfarbe, 71 x 34 x 39,5 cm, Sammlung des Künstlers, Rom, Del Roscio 21) auf der linken Seite des Raumes und den überlebensgroßen Zeichnungen von 1979, die unter dem Titel Orpheus (drei Zeichnungen, 1979, Kreide auf Zeichenkarton, je 193 x 151 cm) eine einer dreiteiligen Werkgruppe bilden.

Cycnus im ersten Moment durch den hölzernen, blockhaften Unterbau und den einheitlichen Farbanstrich klein und eher in sich geschlossen, dennoch bildet die von Strahlen durchwirkte, anmontierte Form gewissermaßen eine dynamische Gegenkraft nach außen. Eindeutig definierte Twombly eine Hauptseite.386 Diese zeigt das Palmblatt von vorne und in voller Größe, es überlappt am oberen Rand den Holzblock und bedeckt ihn.

Die Seitenansicht (Abb. 2a) erlaubt einen detaillierteren Zugang. Twombly fügte Cycnus aus verschiedenen Fundobjekten zusammen. Ein schmaler, flacher und hochkant aufgestellter Holzblock dient als Sockel. Die obere Seite ist nicht abgeschliffen und gerade, sondern steigt leicht schräg nach hinten an. Vermutlich handelt es sich um altes Baumaterial oder um die Überreste einer Holzkonstruktion. Die Oberfläche ist von tiefen Kratzern, Schrammen, Absplitterungen und Nagellöchern durchbrochen. Das Holzstück hat den Charakter von etwas Ausrangiertem und Weggeworfenem, ein alter Überrest, der für nichts mehr Verwendung fand. Der Holzblock und das linkerhand mit drei Nägeln montierte, abgerundete Holzstöckchen könnten möglicherweise am selben Ort gefunden worden sein. Vielleicht waren sie einst Fragmente eines zertrümmerten Holzfasses, unbearbeitet und grob in ihrer Beschaffenheit, ähnlich einem an Land gespülten Schwemmholz. Obwohl die ursprüngliche Struktur des Holzes noch deutlich sichtbar ist, wirkt es durch die weiße Übermalung etwas weniger alltäglich. Fast automatisch tendiert man dazu, diesen Baustein im skulpturalen Gesamtzusammenhang als eine Art Sockel zu sehen, der eine ‚Figur‘

präsentieren soll. Doch ist das links befestigte, oben als ‚Holzstöckchen‘

bezeichnete Element der Stengel des sich nach oben hin fortsetzenden, abgeknickten Palmblatts. Prominent in seiner Form und kontrastreich in der Beschaffenheit befindet sich das aufgefächerte Element über dem schmucklosen Sockel. Bei genauerem Hinsehen erinnert seine Form an ein um 90 Grad nach rechts gedrehtes Herz. Wüsste man nicht aus den Werkangaben, dass es sich um ein Palmblatt handele, so könnte man fast meinen, es sei ebenfalls aus Holz. Sieht man noch etwas genauer hin, erkennt man unter der weißen Übermalung an manchen Stellen einen rosa-braunen Untergrund. Die Form mutet dermaßen       

386 Diese These wird auch durch die Anordnung der Skulptur in der Krefelder Ausstellung gestützt. Cycnus wurde mit der Rückseite an die Wand des Ausstellungsraumes platziert. Ein Umrunden der Skulptur ist nicht möglich. Auch zeigen sämtliche Abbildungen der Kataloge lediglich die Frontalansicht der Skulptur, außer der Ausstellungskatalog Basel / Houston 2000 / 2001.

perfekt und vollendet an, dass die Vermutung nahe liegt, sie sei selbst die Konstruktion eines Tischlers oder Handwerkers.

Dennoch handelt es sich um ein Palmblatt, dessen Rippen strahlenförmig um das Zentrum auf der linken Seite angeordnet sind. Sie finden außerhalb der Herzform in der linken v-förmigen Einbuchtung ihre Fortsetzung und treffen sich alle in einem Punkt und zwar am oberen Ende des Holzstöckchens. Eine nur wenige Millimeter schmale Linie begrenzt und rahmt die Herzform ein, entlang dieser Linie verlaufen beidseitig kleine Dreiecke, die sowohl ins ‚Herzinnere‘, als auch nach außen zeigen. Diese Linie ist eine Art Weidenzweig, den Twombly scheinbar durch die Blattstruktur gezogen hat.

Ebenso elegant wie majestätisch und prachtvoll wirkt diese Form im Gegensatz zum unbearbeiteten, rohen Holzsockel darunter, von ihr geht die unberührte Schönheit eines pflanzlichen Wunderwerks aus.

Dann wiederum ähnelt das formvollendete Gebilde einer überdimensionalen Muschel. Betrachtet man die Arbeit von der Seite, wird man sich noch einmal mehr der Fragilität des dünnen Palmenfächers bewusst. In dieser Ansicht ist deutlich der starke Kontrast zwischen dem schroffen unteren Teil und dem Fächer zu erkennen. Wie bereits erwähnt, übermalte Twombly die einzelnen Komponenten seiner Skulptur mit weißer Farbe. So entsteht eine Einheit der sonst so unterschiedlichen Einzelteile. Twombly benutzt die Farbe, als wäre sie ein transparentes Tuch oder ein Schleier, den er über die Skulptur legt, um deren Ursprung zu verhüllen und zu verunklären, ohne ihn jedoch gänzlich auszuradieren.

Auch nach eingehender Beobachtung bleibt der erste Eindruck des rätselhaften Charakters der Skulptur. Geheimnisse scheinen unter einem Mantel verborgen zu sein, nicht ganz sichtbar, Inhalte scheinen verschwommen, nebulös, Gesehenes ist nicht ganz eindeutig zu bestimmen, das Material wurde verwandelt.

Der Betrachter assoziiert Begriffe wie Verwandlung, Transformation und Metamorphose, ursprünglich bekanntes Material wird durch Künstlerhand in Neuartiges und Unbekanntes verwandelt.

Im Dokument Cy Twombly (Seite 102-105)