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Material und Farbe: Weiße Experimentierfelder

Im Dokument Cy Twombly (Seite 158-162)

Schaffungsabschnitten

4. Untitled (Eros/binder and joiner) (2004, Lexington):

4.2. Material und Farbe: Weiße Experimentierfelder

Seiten des Unterbaus. Auf der Rückseite macht ein mit Bleistift mittig aufgeschriebenes „S“ stutzig (Abb. 4i, 4l). Was verbirgt sich hinter dieser geheimnisvollen Markierung? Will Twombly möglicherweise durch überraschend gesetzte künstlerische Akzente das Wahrnehmungsspektrum des Betrachters flexibel und erweiterungsfähig halten?

Der Blick fällt weiter auf die dahinterliegenden, sehr nüchternen und von Menschenhand zugeschnittenen Holzklötzchen (Abb. 4q, 4r, 4u). Sie wurden ebenfalls weiß bemalt und bilden durch ihre Position sowie vor allem durch ihre besonders markierte Oberseite (Abb. 4z3, 4z4, 4z5) eine weitere, die dritte Bedeutungseinheit.

Jede der neun sichtbaren Flächen offenbart eigene Details. Einmal werden in der Holzstruktur die Jahresringe eines Baumes sichtbar, an anderer Stelle hat es den Anschein, als wäre die Farbe direkt aus dem Kübel darübergeschüttet worden.

Schlieren und Farbrinnsale heben sich in milchigem Weiß ab. Die Holzblöckchen wurden an ihren Sichtseiten genau aufeinandergelegt, doch durch ihre unterschiedlichen Größen ragt der obere Teil nach hinten etwas über den unteren, so dass sich eine Art Dach bildet (Abb. 4q).

sowohl maschinell gefertigtes als auch direkt der Natur entstammendes, unbearbeitetes Holz – verwendete Twombly Schnur, die dazu dient, die beiden Hölzer zusammenzuhalten. Ferner baut er (Zeitungs-)Papier, das unter der weißen Übermalung, vor allem an der unteren Rückseite, sichtbar ist (Abb. 4j), Gips und diverse Farben (s.o.) in seine Komposition mit ein. Der Gips, eine sich beinahe

‚organisch‘ ausbreitende und bisweilen in Schlieren heruntertropfende, fließende Masse, ist ein Charakteristikum der neueren Arbeiten. Holz bleibt jedoch nach wie vor der dominierende Bestandteil Twomblys Skulpturen, der Bindfaden kommt sowohl in der ersten frühen Arbeit der Fünfzigerjahre vor wie auch bei den ganz späten Werken. In beiden Fällen fügt er andere Bestandteile zusammen, hält diese fest, verschnürt sie. Der magische Charakter des zusammengeschnürten Bündels in der Skulptur von 1954 ist jedoch im Falle der Skulptur von 2004 einer beinahe poetisch wirkenden Ausstrahlung gewichen.

Hinsichtlich der Farbe scheint in den neueren Arbeiten ebenfalls eine Veränderung stattgefunden zu haben, da hier – im Unterschied zur Arbeit von 1954 – keine Stelle des Werkes nicht mit Farbe überzogen wurde, alle einzelnen Bestandteile wurden gleichermaßen deckend weiß bemalt. Das Ausgangsmaterial wirkt durch die komplette Übermalung weniger grob und archaisch, sondern eher veredelt, beinahe ‚antikisiert‘.

Auch wenn der Einsatz von Buntfarben in dieser Skulptur viel weniger intensiv, ja beinahe fast schon verhalten erscheinen mag, so gibt es dennoch einige Teile, die – auch wenn nur akzentuiert und zaghaft – ganz gezielt mit Farbe ‚behandelt‘

wurden, denn vor einem weißen Untergrund leuchten die Buntfarben noch stärker, noch intensiver.

Die Grundfarbe der Skulptur ist Weiß, das sich jedoch bei genauerem Hinsehen in viele Schattierungen von Weiß auffächern lässt wie etwa Vanille, Blütenweiß, ein leicht gelbstichiges oder bisweilen sogar grünlich schimmerndes Weiß. Es ist erstaunlich, wie Twombly es schaffte, das Weiß derart vielfältig erscheinen zu lassen. Innerhalb der einzelnen ‚weißen‘ Flächen entstehen ganze Farbräume, die sich im Lauf längerer Beobachtung als immer facetten- und kontrastreicher zeigen. In diesem Zusammenhang entstand die hier erstmals verwendete Bezeichnung Weiße Experimentierfelder, aber es ist nicht nur das Weiß in seinen unzähligen Abtönungen, mit dem Twombly besonders bei dieser Arbeit spielerisch experimentierte, sondern es sind vielmehr auch die unterschiedlichsten

Zeichen, die er darauf ‚streute‘, ein jedes für sich wichtig und einzigartig. Weiß war und bleibt das bestimmende Merkmal seiner Skulpturen und wird zur ‚Bühne‘

oder Folie für seinen ureigenen Kosmos aus Zeichen, Wörtern, Bildern und Anspielungen.

In diesem Zusammenhang bietet sich ein Werkkomplex zum Vergleich an, der von Robert Rauschenberg 1951 konzipiert wurde. Es handelt sich um die sogenannten White Paintings560 (Abb. 130), weiße Bilder, mit denen er den Schritt in die künstlerische Eigenständigkeit vollzog. Die sieben monochrom-weißen Tafeln, die er in seiner ersten Einzelausstellung in der Betty Parson Gallery in New York ausstellte, hatten den Zweck, die Malerei gänzlich auszulöschen. Er benutzte Wandfarbe, die er einfach auf die Leinwand rollte. John Cage verglich Rauschenbergs White Paintings mit der Einfachheit in den Kompositionen von Satie:

„The most subtle things become evident that would not be evident […] in a more complex rhythmic sitation. We have, I belive, many examples in contemporary visual art of things brought to an extraordinary simplicity. I recall, for instance, the white paintings of Robert Rauschenberg, which don’t have any images. It’s in that highly simplified situation that we are able to see such things as dust or shadows carefully painted, [whereas] in Rembrandt, any other shadow entering the situation would be a disturbance and would not be noticeable, or if noticeable, a disturbance.”561

Die ‚Stille‘ wurde hier zum Thema ‚deklariert‘, außerdem sollten der Betrachter des Bildes und dessen Umgebung, wie zum Beispiel die Uhrzeit oder sein Schatten, der sich im Bild spiegelt, Teil der Arbeit werden.

Ein mit Twomblys scheinbar leeren und weißen Experimentierfeldern thematisch vergleichbares Werk ist das Musikstück 4′33″ (Four minutes, thirty-three seconds) des Avantgarde-Komponisten John Cage.562 Der Komponist und der sechzehn Jahre jüngere Twombly lernten sich 1951 am Black Mountain College kennen und besuchten gemeinsam Vorträge des japanischen Philosophen Daisetz Suzuki an der Columbia University über Zen-Buddhismus. Twombly wohnte den legendären Konzerten von Cage bei, wie z. B. Theater Piece #1 im Sommer 1952,

      

560 Z. B. Robert Rauschenberg, White Painting, (3-teilig), 1951, Öl auf Leinwand, 182.88 cm x 274.32 cm, Collection SFMOMA.

561 John Cage in einem Interview mit Alan Gillmor und Roger Shattuck, 1973, zit. in: Kat.

Ausst. Madrid 2002, S. 159.

562 Vgl. auch Hochdörfer 2009, S.12 f.

als er zusammen mit Rauschenberg, Cunningham und Olsen am Black Mountain College simultan eine Performance aufführte.563

Das Orchester spielt während der gesamten Spieldauer von vier Minuten und 33 Sekunden keinen einzigen Ton. John Cage stellte in dieser Arbeit die gängige Auffassung von Musik in Frage. Bei einigen Aufführungen öffnete er die Fenster des Konzertsaals, um die Klänge der Außenwelt einzufangen. 4′33″ wurde zu einem zukunftsweisenden Schlüsselwerk der neuen Musik und inspirierte Zuhörer wie Komponisten zur Reflexion über Musik und Stille. Im Anschluss komponierte Cage das Stück 0′00″, das es den Musikern überlässt, welche Aktionen sie während des Stückes durchführen wollen. Auch wenn der Titel der Arbeit darauf hindeutet, dass das Stück null Minuten und null Sekunden dauert – also gar nicht existiert – so ist die Komposition jedoch nicht zeitlich begrenzt. Sie ist in drei Sätze gegliedert, es existieren jedoch keine Noten. Das Werk ist in gedruckter Form erhältlich, alle Anweißungen beschränken sich auf Tacet:

I TACET II TACET III TACET

Cage hinterließ diesbezüglich eine Anmerkung, dass der Titel die Gesamtdauer der Aufführung in Minuten und Sekunden darstellt und dass die Werkdauer beliebig lang sein könne. Titel des Werks ist somit variierbar und geht in der bekannten Form auf die Uraufführung zurück. Desweiteren ist sowohl Anzahl als auch Kombination der Instrumente variierbar. In einem seiner programmatischen Texte, der der Schallplattenaufnahme seines retrospektiven Konzerts 1958 in der Town Hall in New York beigelegt wurde, heißt es beispielsweise:

„For in this new music nothing takes place but sounds: those are notated and those are not. Those that are not notated appear in the written music as silences, opening the doors of the music to the sounds that happen to be in the environment.

[…]” 564

      

563 Ibidem.

564 Kat. Ausst. Madrid 2002, S. 159.

So haben alle drei Werke eins gemeinsam: Sowohl Twombly als auch Rauschenberg und Cage schufen durch ihre Arbeiten sich öffnende Räume, seien es nun Farb- oder Klangräume – Twombly durch die einzelnen, individuell verschiedenen Flächen seiner Skulpturen, Rauschenberg durch seine weißen Leinwände und Cage durch die Stille seiner Kompositionen. Alle drei Werke sind individuelle und wandelbare Projektionsflächen für persönlich Gesehenes, Gehörtes oder Empfundenes. Sie variieren je nach Tageszeit, Lichtsituation und Geräuschkulisse, sind stets in Bewegung und verändern sich je nach Wahrnehmung der Betrachter oder Zuhörer. Letztlich bringen sie den Rezipienten dazu, in sich selbst zu sehen oder zu hören und so gleicht ein sich Einlassen auf die beschriebenen Werke vor allem einer Auseinandersetzung mit sich selbst und der Existenz an sich. Am eindrücklichsten fasste Twombly selbst die Gedanken in seinem Text Signs von 1957 in Worte:

“The reality of whiteness may exist in the duality of sensation (as the multiple anxiety of desire and fear).

Whiteness can be the classic state of the intellect, or a neo-romantic area of remembrance - or as the symbolic whiteness of Mallarmé.

The exact implication may never be analyzed, but in that it persists as the landscape of my actions, it must imply more than selection.

One is a reflection of meaning. So that the action must continually bear out the realization of existence. Therefore the act is the primary sensation.”565

Im Dokument Cy Twombly (Seite 158-162)