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Phänomenologische Erarbeitung und kompositorischer Aufbau von Untitled (2001)

Im Dokument Cy Twombly (Seite 133-137)

Schaffungsabschnitten

3. Untitled (2001, Lexington): Vergänglichkeit, Riten und verborgene Geschichte(n)

3.2. Phänomenologische Erarbeitung und kompositorischer Aufbau von Untitled (2001)

Twomblys Skulptur Untitled, mit den Maßen 39 x 40 x 29,8 cm, ist 2001 in Lexington entstanden und setzt sich aus unterschiedlichen Materialien wie Holz, Kunststoff, Zellstoff, bedrucktem Papier und Gips zusammen. Der Künstler bearbeitete sie mit Kunstharzfarbe in Weiß und hellen Ockertönen und hinterließ Farbspuren von Gelb-, Grün-, Purpur- und Rottönen in verschiedenen Abstufungen, ferner verwendete er Acrylfarbe in Neongelb und -pink. Die Arbeit befindet sich im Besitz der Sammlung Udo und Anette Brandhorst. Untitled setzt sich aus drei unterschiedlichen Elementen zusammen: Eine rechteckige, an einen Sockel erinnernde Holzkiste trägt einen etwas niedrigeren Aufbau in Form eines Pyramidenstumpfes. Im Verhältnis zum Sockel entspricht der Aufbau etwa einem Drittel des unteren Abschnitts. Beide Elemente sind ruppig weiß gefasst, dadurch miteinander verbunden und bilden ein homogenessehr klassisch anmutendes Ganzes.

Der Aufbau ist mit etwa 25 blütenförmigen Papiertüchern bedeckt, die in Grün, Gelb, Rosa, Rot und dunklem Violett getränkt wurden. Im Unterschied zur homogenen unteren Ebene der Skulptur ist der obere Abschnitt andersartig und bildet einen eigenen Bereich, der jedoch in Kombination mit den unteren Teilen nicht unharmonisch wirkt. Trotz des Kontrastes, der besonders durch die Farbigkeit aber auch durch das Material unterstützt wird, wirken alle drei        

501 Erwähnung des Künstlers bei dem Besuch von Prof. Schulz-Hoffmann in seinem Atelier in Lexington Virginia im Herbst 2004, wo der Lepanto-Zyklus, wie auch die meisten der in der Alten Piankothek, München gezeigten Skulpturen entstanden sind.

Abschnitte als ein harmonisches Ganzes. Dieser Eindruck wird dadurch gestützt, dass alle drei Ebenen der Skulptur durch gewisse ‚Verbindungselemente‘ auch formell miteinander verknüpft sind. Gipstropfen und Spuren der organisch wirkenden Masse, die oben aus dem Inneren des Mittelteils hervorzuquellen scheint, überziehen die gesamte Skulptur. Ähnlich wie die Gipsmasse ist – wenn auch erst auf den zweiten Blick sichtbar – die pinke und gelbe Neonfarbe eine Art Verbindungsmittel, da sie der Künstler auf allen drei Ebenen einsetzte.

Im ersten Moment wirkt die Arbeit - bedingt durch den weißen Unterbau und den darauf niedergelegten Blütengebilde - wie eine Art Denkmal, Grabmaloder wie ein Altar in Miniaturform. Ähnlich wie die anderen bereits beschriebenen Skulpturen Twomblys, verbirgt auch hier jede Seite ihre eigenen Besonderheiten.

Aus diesem Grund kann man durchaus von einer Rundansichtigkeit sprechen, wobei die beiden längeren Seiten als Hauptseiten anzusehen sind. Bei der hier zur Vorderseite erklärten Längsansicht (Abb. 3) stechen die in hellgrünen, orangegelben und violetten Farben leuchtenden Blüten signalartig ins Auge.

Einige erscheinen wie gerade frisch gepflückt und intensiv duftend in voller Blüte, andere mit verblassenden Farben wie im Begriffe zu verwelken. Die Blüten ähneln Pfingstrosen oder Hortensien. Neongelbe Schlieren und Spritzer heben sich stellenweise kontrastreich vor der weißen Oberfläche des oberen Aufsatzes ab. Außerdem setzte Twombly auf der linken Vorderseite des Sockels pinke und tropfenförmige Akzente. Aus dem Inneren der einen Stelle vielleicht aufgebrochen Skulptur scheint eine lavaartige weiße Masse vulkanartig nach außen gequollen zu sein, die bereits erkaltet wirkt. Die Beschaffenheit dieser weißen amorphen Substanz mutet einerseits bröckelig, steinig und erdig, gleichzeitig aber auch weich und organisch an. Der Betrachter mag sich an dieser Stelle nach dem Inhalt der weißen Kisten fragen und nach dem Grund für diese Beschmutzung des doch so sakral anmutenden, skulpturalen Stilllebens. Wem ist dieses Grabmal gewidmet? Für wen wurden hier Blumen niedergelegt. Welcher Gottheit ist dieser Altar geweiht? Betrachtet man die Rückseite (Abb. 3a), so sind es wieder die farbigen Blüten, die den Blick des Betrachters auf sich ziehen. Rosa, orange, rot und dunkelviolett sind sie hier und erinnern, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, auch an die Überreste eines opulenten Festes. Dieser Charakter von Resten oder Übriggebliebenem wird unterstützt durch in den Blumen steckenden, unterschiedlich großen, schwarzweißen und bunten und nicht

lesbaren Papierschnipsel (Abb. 3f), die möglicherweise aus einer Zeitung bzw.

einem Hochglanzmagazin stammen. An manchen Stellen der Blüten ist deutlich die grobporige Struktur des Papiers zu erkennen (Abb. 3c), die sich mal stärker, mal schwächer, mit Farbe vollgesogen hat. Twombly ging hier etwas explosiver mit der Neonfarbe um und besprenkelte neben dem Sockel und dem Aufbau sogar die Blüten mit Neonpink (Abb. 3e). An tropfendes Kerzenwachs erinnern die herablaufenden Spuren am Sockel. Unten links schimmert unter der weißen Oberfläche ein schwarzes Farbband hervor, rechts daneben finden sich Spuren von Neonpink. Ähnlich wie auf der Vorderseite beschmutzt die Gipsmasse die beiden weißen Bauelemente. Unter der weißen Farbe ist eine in das Holz eingeprägte, allerdings auf dem Kopf stehende Beschriftung erkennbar, das Firmenlogo von Berry Bros. & Rudd, Großbritanniens ältester Wein und Spirituosenhandlung502:

„BERRY BROS & RUDD Ltd.

BY APPOINTMENT TO H. M. THE QUEEN WINE & SPIRIT MERCHANTS

CUTTY SARK

SCOTCH WHISKEY“

[letzte Zeile nicht leserlich, evt. „Scotland’s famous Distilleries“]“

Twombly verwendete also eine alte Holzkiste, in der einst schottischer Whiskey transportiert wurde und funktionierte sie zu einem Sockel um. Verändert wurde die Beschaffenheit der Kiste. Die weiße Übermalung überdeckt das Holz und veredelt so seine Oberfläche auf trügerische Art und Weise. Betrachtet man die rechte Schmalseite der Arbeit (Abb. 3e) so fällt vor allem die gestische Bearbeitung mit pinker Neonfarbe auf. Twombly bemalte Teile der weißen Gipsmasse großflächig und satt, das leuchtende Pink tropfte von dort auf die Oberfläche des Aufbaus und bildete auf der Sockeloberfläche kleine pinke Pfützen. An dieser Stelle mutet die Gipsmasse fast organisch oder gar fleischlich an, der Kontrast zwischen pinker Farbe und dem Weiß der Bauelemente und der Masse mag beinahe als schmerzhaft empfunden werden. Des Weiteren fallen auf dieser Seite zwei Zeitungsschnipsel auf, die in den Blüten integriert wurden, nur der Rechte ist lesbar:

      

502 Behilft man sich mit Flaschenetiketten derselben Firma setzt sich recht bald die Prägeschrift zusammen.

„E 14. Col. 1 other computer at 1 pm

com”

Auf dem linken Schnipsel sind lediglich ein paar Buchstaben zu erkennen, scheinbar arbeitete Twombly hier Teile aus einer Fachzeitschrift oder einem technisch-spezifischen Fachteil einer Zeitung in seine Arbeit mit ein. Einen möglichen Zusammenhang mit dem Inhalt der Zeitung und der Skulptur herzustellen, würde jedoch zu weit führen, hier handelt es sich lediglich um Reste, Teile und Fragmente eines einmal Gewesenen. Auffallend auf der gegenüberliegenden linken Schmalseite ist eine auf die Oberfläche aufgetragene Beschriftung in Twomblys eigener Handschrift. Unter der weißen Oberfläche ist ein mit Bleistift bis zur Unleserlichkeit ausgestrichenes Wort erkennbar. Links daneben findet sich – ebenfalls mit Bleistift – ein Kreuz, das in der Form einem Andreaskreuz gleicht. Ähnlich wie bei den anderen Seiten ist hier der Aufbau mit Neonpink und -gelb benetzt worden. Am unteren Ende des Sockels ist das Schwarz der hinteren Längsseite in breiten Strichen fortgesetzt.

Auch in dieser Arbeit fallen starke Kontraste auf: Auf der einen Seite sind es die klaren, genau definierten und geometrisch bestimmbaren Formen des pyramidenstumpfartigen Aufbaus und des quaderförmigen Sockels. Kontrstierend stehen die in ihren Formen unbestimmt wuchernden und nicht klar zu definierenden blütenartigen Elemente, die aber auch Stofffetzen oder Reste eines großen Essens sein könnten und die amorphe weiße Substanz, die aus dem Aufsatz herauszuquellen scheint und sämtliche Bauelemente ‚beschmutzt‘. Soll die Gipsmasse erkaltete Lava, Gedärm oder gar Ausscheidung darstellen oder einfach nur Gips sein, sind die bunten Tücher nur Reste eines großen Malprozesses oder tatsächlich Blüten, benutzte Servietten, Stoffreste?

Im Dokument Cy Twombly (Seite 133-137)