• Keine Ergebnisse gefunden

Berührungspunkte mit Twomblys Malerei: ein Blick auf die Leda- Leda-Serie

Im Dokument Cy Twombly (Seite 114-121)

Schaffungsabschnitten

2. Cycnus (1978, Rom): Zwischen Mythos und Metamorphose

2.5. Berührungspunkte mit Twomblys Malerei: ein Blick auf die Leda- Leda-Serie

Wie weit Interpretationen gemäß formalen Analogien gehen dürfen, ist schwer zu sagen, sie müssen immer ein Versuch bleiben – ohne Anspruch auf Endgültigkeit.

Denn es ist immer der Betrachter selbst, der mit seinen eigenen Augen die Skulptur erfasst, sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln wahrnimmt, sich selbst und seine Sichtweise transformiert und erweitert, sich verzaubern lässt und für ein unendlich weites Spektrum von Deutungsmöglichkeiten öffnet.

2.5. Berührungspunkte mit Twomblys Malerei: ein Blick auf die

Heiner Bastian deutete auf die strukturelle Neuheit des Bildgefüges hin, die aus dieser Arbeit hervorgeht und bringt den Bildinhalt auf den Punkt:

„Lange zurückliegende Fabeln werden noch mal aufgeworfen, als seien sie gestern und hier geschehen.“410

Phänomenologische Bildbeschreibung von Leda and the Swan, 1962

Cy Twomblys 1962411 entstandene Arbeit Leda and the Swan hat die Maße 190,5 x 200 cm und entstand in Mischtechnik - mit Ölfarbe, Kreide und Bleistift - auf Leinwand.

Auf der nahezu quadratischen Leinwand erblickt der Betrachter ein ungestümes Durcheinander von Farbe und Zeichnung, von weißen, roten und schwarzen Elementen.

Der Bildraum erfasst ein orgiastisches Geschehen, das den Augenblick der Verführung Ledas durch Zeus in der Gestalt des Schwanes als eine Symbiose von Leidenschaft und Gewalt feiert. Sinnliches Verlangen und vibrierende Erregung vermischen sich im Bild. Die kalten, harten Graphitschraffuren und das amorphe, Weiß verleihen dem konzentrisch aus der Bildmitte aufbrechenden Motiv eine beinahe physisch fassbare Erscheinung.412

Trotz augenscheinlichem Chaos bildet sich andeutungsweise, von der Bildmitte zu den Rändern hin, eine Art Rautenform aus, die sich in das große Format spannt und den Eindruck von Dynamik und Rotation noch erhöht.

Das Zentrum des Bildes ist durch skizzenhaft erkennbare Formen wie etwa fliegende Herzen, einem Phallus sowie durch die Konzentration von Rot besonders betont. Nebeneinander stehen eine mit roter Wachskreide konturierte phallische Form sowie eine mit Bleistift konturierte und weiß – rosafarben gefüllte Herzform, deren linker ‚Herzflügel‘ von einer wiederum phallusartigen oder aber von einer schwanenhalsigen, nach rechts weisenden, rot konturierten Form berührt und zur rechten Bildseite gezogen wird. Ein wenig unterhalb der rot konturierten Formen des Zentrums und leicht nach links versetzt ist eine größere       

410  Bastian II 1993, S. 17.

411  Bezüglich des Entstehungsdatums tauchen an einigen Stellen Differenzen auf. Im Ausstellungskatalog Kat. Ausst. St. Petersburg – München – Paris – London 2003/2004 wurde die Arbeit auf 1961 datiert. Für die vorliegende Arbeit gilt die Datierung 1962. Diese Angabe ist Bastian II 1993 entnommen.

412  Vgl. Bastian II 1993, S. 17.

weiße Fläche auszumachen. Rechts davon schließt sich ein weiteres dominantes Feld an, das sich diesmal aus diagonalen Bleistiftschraffuren von rechts oben nach links unten zusammensetzt. Dieses kontrastreiche Gegenüber, bestehend aus dem weißen und beinahe schwarzen Farbfeld, erinnert an den leidenschaftlichen Schlag zweier Schwanenflügel. Etwas unterhalb fällt eine durch einen schwarzen und ockerfarbigen Pinselstrich betonte Form auf, die sich im Kontext des weißen und schwarzen Feldes darüber zu einem Schwanenkopf und Hals verfestigt.

Um dieses zeichenhaft betonte Bildzentrum herum explodieren Farbe und Formen, indem das dominante Rot mit den hellen Weiß- und Gelbtönen des Bildgrundes sowie den zum Teil fast gewaltsamen kräftigen, manchmal aber auch verspielten Graphitschraffuren in immer neue Auseinandersetzungen tritt.

In der rechten oberen Bildecke erscheint ein rotes Strichbündel aus ineinander geschachtelten Herzformen, während sich zum rechten Bildrand hin die dichten Schraffuren in losere Kringel langsam auflösen. Nach unten mutieren die auch durch Farbe definierten Formen langsam zu unklaren Gebilden.

Zum linken Bildrand, insbesondere zur linken oberen Bildecke, verliert sich allmählich die Kraft der Farben des Zentrums. Die Formen, wie größere kreisartige Gebilde und oval in die Länge gezogene Formen und Kleckse, scheinen über die Leinwand hinwegzuschweben. Auch zum oberen Bildrand hin werden die noch enger gezogenen Kringel und Kreise, die teilweise in ihrer Anordnung an einen gelockten Haarkranz erinnern, immer schemenhafter.

Besonders auffällig ist das vertikale Rechteck am oberen Bildrand rechts, das in seiner klar definierten Struktur in starkem Kontrast zur restlichen Explosion von Farbe und Form steht. Dem Rechteck, das durch eine nervöse Bleistiftschraffur umrandet ist, ist ein Kreuz einbeschrieben, die Form erinnert daher an ein Fenster.

Die aufwühlenden Energien dieses Bildes erfahren keine Fortsetzung in die Tiefe;

stattdessen kündet das Fenster lakonisch von Ausdünnung, Verlangsamung und Stabilisierung des orgiastischen Geschehens im Bildzentrum. Darüber hinaus verleiht die Fensterform dem hellen Grund den Charakter einer Wand, vor der sich die dichte, gestische Artikulation nach vorn drängt.

Als Gegenstück zur Fensterform gestaltet sich der am rechten unteren Bildrand angebrachte Titel. Der für Titel oder Signaturen gewöhnlicherweise benutzte Ort täuscht, denn obwohl es sich um den Bildtitel handelt, macht das ausgestrichene letzte Wort stutzig, der Betrachter wird aufgefordert, genauer hinzusehen. Dort

steht: „Leda + the SWAN“. Das Wort „SWAN“ ist in Majuskeln geschrieben,

„Leda“ hingegen ganz ‚gewöhnlich‘, als Name mit großem Anfangsbuchstaben.

Das betont großgeschriebene „SWAN“ ist paradoxerweise in seiner oberen Hälfte durch mehrere parallel verlaufende Bleistiftstriche ausgelöscht. Existiert der Schwan nun tatsächlich oder nur zur Hälfte? Das dritte Wort „the“ ist durch einen roten Farbknäuel beinahe unleserlich gemacht. Das, was eindeutig lesbar bleibt, ist „Leda“.

Am linken äußeren Bildrand erkennt man eine weibliche Figur mit großen, rosa-fleischfarben betonten Brüsten und lockigem Haar. Ihr Unterkörper ist von weiß-rosa Gebilden verdeckt, die wiederum an den Schwanenkörper erinnern und unten links durch einen aus grauen Linien gebildeten Hals und Kopf fortgesetzt werden, welche in Richtung Bildzentrum zeigen.

Mit der Zeit werden im Gewirr der Linien immer mehr schwanenähnliche Gebilde und Zeichen für blühende Weiblichkeit und Erotik wahrnehmbar. Sie kommen und gehen ebenso schnell, wie man sie erblickte. Das, was bleibt, ist der Eindruck einer leidenschaftlichen Explosion, mit einzelnen statischen Elementen. Poetische Zartheit und gewalttätige Störungen stehen in einem sich ewig fortsetzenden Spiel.

Kompositorischer Aufbau und Format

Die Komposition des Bildes erinnert nur auf den ersten Blick an die Kritzeleien von Kindern und in der Tat handelt es sich in keiner Weise um eine klassischen Regeln folgende Komposition. Twombly verwendete weder Lineal noch Zirkel oder gar die Regeln des goldenen Schnittes. Dennoch ist in der Komposition auf den zweiten Blick eine geometrische Form erkennbar: das explosive Bildgeschehen spielt sich innerhalb einer Rautenform ab, wobei die einzelnen Elemente, die sich im Bildzentrum ballen, nach außen hin immer mehr an Intensität und Dichte verlieren. Diese Form ist die große kompositorische Ebene des Bildes, in der verschiedenartig positionierte Elemente wiederum als Teilkompositionen gesehen werden können.

Die vier Ecken haben ihrerseits einen wichtigen kompositorischen Aspekt inne.

Sie sind kaum gestaltet und stechen besonders durch ihre relative Transparenz ins Auge. Die rechte obere Bildecke ist am dichtesten bearbeitet. Das rote

Strichbündel, das aus einer herzförmigen Figur herausragt, verbindet unübersehbar die Rautenform mit dem Bildrand. Bis fast in den rechten oberen Winkel hinein wird die Herzform in leichten Bleistiftkonturen fortgeführt, die Leinwand schimmert hindurch. Die rechte untere Bildecke hingegen ist durch weiße Farbakzente besonders betont, einer vollständigen Transparenz steht jedoch das durchgestrichene „SWAN“ entgegen. Die linke untere Bildecke ist von wenigen, beinahe unauffälligen Elementen zerstörerischer Art freigehalten worden. Auch sie ist betont durch blütenweiße Farbakzente. Schließlich bleibt die linke obere Bildecke, deren Weiß am homogensten erscheint. Fünf ovale Gebilde streben in Richtung ihres äußersten oberen Winkels.

Die dritte kompositorische Ebene wird durch das fensterförmige Rechteck am oberen Bildrand definiert. Sie trägt dazu bei, dem Bild eine Art dritte Dimension zu verleihen und nimmt eine Trennung von Innerem und Äußerem vor.

Die Komposition von Leda and the Swan von 1962 besitzt außerdem symbolischen Charakter: das Gemälde funktioniert wie ein Piktogramm, in dem sich die figürlichen Elemente wie Schwanenhälse, Herzen, Phalli und Brüste mit den schriftlichen Elementen „Leda + the SWAN“ ergänzen.

Twombly wählte für seine Arbeit ein fast quadratisches Format (190,5 x 200 cm), das er seit 1962 vorwiegend verwendete. Die überwältigende Größe trägt dazu bei, dass der Betrachter unmittelbar in die kraftvolle Explosion hineingezogen und auf diese Weise Teil ihrer aufwühlenden Geschichte wird.

Technik und Farbwahl

Twombly zeigte in seiner in Mischtechnik gestalteten Arbeit als auffälligstes Charakteristikum die Geste, was Roland Barthes in treffende Worte fasste:

„Es geht nicht darum, das Produkt zu sehen, zu denken, zu kosten, sondern die Bewegung, die es dazu gebracht hat, wiederzusehen, zu identifizieren, oder gar zu genießen.“413

Twombly trug die Farbe als rohe, fast unveränderte Substanz auf die Leinwand auf, sie bleibt dabei in ihrer ursprünglichen Form erkennbar. Er verwendet das

      

413 Barthes 1979, S. 16.

Material nicht als Mittel zum Zweck, sondern – wie Barthes beobachtete – um seiner selbst willen, als „absolute Materie, (…), als materia prima.“414

Noch bevor einzelne Zeichen, Kritzeleien und Klecksereien entschlüsselt, Buchstaben gelesen und als Bildtitel auf das malerische Geschehen bezogen werden, ist zuallererst allein die Farbe sichtbar: der Betrachter stößt auf ein Durcheinander von Ölfarbe und Wachskreide; Farbschichten sind über- und ineinander gearbeitet, Farbspuren mit Wachskreide in die Ölfarbe getrieben, Farbpaste ist von der Tube auf die Leinwand gedrückt, flüssige Farbe an der Leinwand hinabgelaufen, Farbkleckse wurden mit den Fingern verrieben415 und über zeichnerische Partien hinweggezogen.416

Barthes hielt fest, dass von Twomblys Arbeiten eine Atmosphäre des

„Hingeworfenen“417 ausgeht:

„Das Material scheint über die Leinwand hin geschüttet, und schütten ist ein Akt, der zugleich eine anfängliche Entschlossenheit und eine schließliche Unentschlossenheit enthält: indem ich schütte, weiß ich, was ich tue, aber ich weiß nicht, was ich produziere.“418

In den Farbakzenten sind deutliche Pinselspuren zu erkennen, Bleistiftstriche zerkratzen teilweise die Oberfläche der Leinwand. Diese Merkmale verleihen dem Bild einen individuellen Ausdruckswert. Der Arbeitsprozess ist für den Betrachter eindeutig sichtbar und zeigt, wie bereits erwähnt, am allermeisten das Gestische.

Jedoch ist der oft verwendete Ausdruck der écriture automatique419 nicht ganz zutreffend, denn Twombly setzte den nervösen Schwüngen und Strichen ganz bewusst Lesbares entgegen. Das gesamte Werk scheint vielleicht auf den ersten Blick aus einem gewissen Automatismus heraus entstanden zu sein. Lesbares und

      

414 Barthes 1979, S. 66.

415 Varnedoe erklärt diesbezüglich, dass Twombly ab 1962 hauptsächlich seine Hände und den flachen Handballen benützt, Fingerkleckse und verschiedene Spielarten des Kratzens und Streichelns zu den wichtigen technischen Veränderungen zählen. Vgl. Varnedoe 1994, S. 23.

416 Vgl. Dobbe 1999, S. 288.

417 Barthes 1979, S.72.

418 Ibidem.

419 Der Ausdruck écriture automatique (franz. = automatische [Nieder-]schrift) wurde in den 1920er Jahren in der surrealistischen Gruppe (von Breton) entwickelt, um Texte, Zeichnungen, Bilder in unbewußtem, zum Teil trance- oder rauschähnlichem Zustand »niederzuschreiben«.

Breton verstand darunter vor allem den spontanen Ausdruck innerer Erregungsprozesse ohne kontrollierende oder korrigierende Verstandestätigkeit.

Vgl.http://www.prestelkuenstlerlexikon.de/search.php?type=detail&id=367&searchkey=ecriture%

20automatique, (24.03.2006).

klar definierte Zeichen, wenn auch in der Unterzahl, widersprechen jedoch dem Eindruck des von Barthes anschaulich bezeichneten, linkischen Charakters.420 Es scheint, dass Twombly ein Antikolorist ist, aber das trifft nicht ganz zu, vielmehr benutzte er die Farbe genussvoll. Wieder war es Roland Barthes, der die Farbsetzung Twomblys präzise beobachtete:

„Twombly malt nicht die Farbe; höchstens könnte man sagen, daß er koloriert;

aber diese Kolorierung ist rar, unterbrochen und immer frisch, wie wenn man den Stift ausprobiert. Dieses bisschen Farbe gibt nicht eine Wirkung (noch weniger eine Wahrscheinlichkeit) zu lesen, sondern eine Geste, die Lust einer Gebärde:

am Ende seines Fingers, seines Auges etwas entstehen sehen, was zugleich erwartet ist (…) und zugleich unerwartet (…).“421

In Twomblys Leda and the Swan trifft der Betrachter auf eine Art Farberuption, die sich aus einem Durcheinander von Farbe und Zeichnung, von Weiß, Rot und Schwarz und ihren jeweiligen Abstufungen ergibt.

Twomblys Malerei entfaltet sich, so Dobbe „als gestische Verausgabung der Farbe“422.

Stempel betonte in seiner Bildbeschreibung zuallererst diese Verausgabung der Farbe:

„Durch das gelbliche Weiß des Grundes, der bald fettgetränkt, bald feucht schimmernd scheint, treiben milchig weiße Wolken, die im Wechsel von opaken und transparenten Zonen erregte schwarze Strichlagen (sichtbar werden lassen), die […] sich in zeichenhaften Gestalten verdichten, enthüllen und verschleiern.

[…] Kraft und Leidenschaft bis zur Aggressivität gesteigert paart sich mit dem zarten verschwebenden Hauch subtiler Farbnuancen, lustvoll drastische Symbole und Zeichen lösen sich von ihrer Gestalt unter dem leichten Schleier der Transparenz […]. Der Widerstreit sich durchkreuzender Empfindungen nimmt im tändelnden Kampf der gegensätzlichen Energien von Linie und Farbe, die sich umwerben, seinen Lauf als unausgesetzte Metamorphose der Materie.“423

      

420  Diesbezüglich äußerte sich Barthes folgendermaßen:

„Viele haben gesagt: TW, das ist wie mit der linken Hand gezeichnet, gezogen. Linkisch soll verstanden werden im Sinne von ungeschickt, gehemmt. Twombly produziert eine link (oder linkisch) scheinende Schrift, die die Moral des Körpers angreift. Andere Bilder mit einem einzigen geschriebenen Wort als Ereignis. Ein weiterer Aspekt innerhalb dieser beiden Typen wäre die Ungeschicklichkeit der Hand, die eigentlich nur ungeschickt scheint aber gar nicht kindlich ist.

Twombly lässt locker, er lässt schleifen. Diese scheinbare Ungeschicklichkeit hat eine plastische Funktion.“

Barthes 1979, S. 15 f.

421 Barthes 1979, S. 21.

422 Dobbe 1999, S. 289.

423 Stempel: Cy Twombly, in: Dobbe 1999, S. 289.

Twomblys Verwendung der Farbe bezieht sich unmittelbar auf den Kern der mythologischen Erzählung. Farbe, Technik und Komposition unterstreichen den Leda-Mythos auf nicht konforme und antiklassische Art und Weise.

Im Dokument Cy Twombly (Seite 114-121)