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Deutungsansätze

Im Dokument Cy Twombly (Seite 111-114)

Schaffungsabschnitten

2. Cycnus (1978, Rom): Zwischen Mythos und Metamorphose

2.4. Deutungsansätze

einem Kapitell aus einem zusammengebundenen, steil hochragenden und sich oben leicht nach außen neigenden Palmwedel.404

Das palmenblattförmige Ornament, Palmette genannt, findet sich in der bildenden Kunst der griechischen Antike vermutlich seit dem 7. Jahrhundert v. Chr.405 und war als Palme interessanterweise Apollon geweiht. In der römischen Kultur war das Palmblatt Zeichen des Sieges, des Triumphes und der Freude. Über die römische Kultur fanden die Palme und der Palmwedel später Eingang in die christliche, jüdische und islamische Symbolik. Der Palmwedel gilt im Christentum sowie im Judentum als Zeichen des ewigen Lebens und der Auferstehung und ist Attribut zahlreicher Heiliger.406

Auffallend ist der weiße Farbmantel, der die einzelnen Komponenten bzw.

Bausteine der Skulptur umgibt, umwickelt und verhüllt. Dieses Phänomen wird bei Twombly zum Motiv, was sich bis hin zu seinen neuesten Skulpturen wiederholt. Vor dem Hintergrund des Titels Cycnus denkt man besonders an Skulpturen der klassischen Antike, an Tempelbauten und weißen Marmor.

Interessant erscheint darüber hinaus die symbolische Konnotation der Farbe Weiß im Islam. Dort steht Weiß zugleich sowohl für Reinheit als auch für Tod. Leichen werden traditionell vor der Beisetzung in weiße Tücher gehüllt und auf einem sockelartigen Tisch aufgebahrt. Die verhüllten Körper verlieren so ihre ursprünglich menschliche Identität und lösen sich von allen irdischen Verbindungen und werden zu reinen Geistwesen.

Arbeiten sind eng mit antiker Mythologie, Geschichte und Dichtung verbunden, was in der Literatur schon lange gesehen wurde.408

Der Titel verleiht der zunächst rätselhaft anmutenden Arbeit Bedeutung und Identität. Er fordert den Betrachter auf, den Moment zu sehen und man erfährt so eine Fülle von Assoziationen über die Zusammensetzung von Alltagsgegenständen. Durch den Titel wird der Betrachter aufgefordert, über die im Kunstwerk erfolgte Zusammensetzung unterschiedlicher oder gar konträrer Elemente nachzudenken, ferner frei zu assozieren oder mit Vorstellungen zu spielen.

Twombly kombiniert und verschmilzt miteinander Objekte äußerster Banalität mit dem Ziel, etwas Mythologisches zu evozieren. Er besitzt ein großes kunsthistorisches Wissen, auf das er in seinen Arbeiten zurückgreift und beruft sich immer wieder auf klassische Inhalte.

Für das Verständnis der Arbeit reicht das Wissen um die potentielen Quellen jedoch nicht aus. Denn Twombly illustriert mit seiner Arbeit keineswegs einen Mythos, nichts läge ihm ferner. Zwar legt er durch den Titel gewissermaßen eine Denkspur oder gibt eine bestimmte Leserichtung vor, trotzdem muss man sich letzten Endes eingestehen, dass allein das Wissen um die evtl. mythologischen Hintergründe der Skulptur eher mehr Türen öffnet, Wege teilt und Nebenpfade freigibt als Antworten gibt. Eindeutige Erkenntnisse bleiben aus. Vielleicht macht gerade der Titel darauf aufmerksam, dass man die einzelnen Komponenten losgelöst von ihrer ursprünglicher Herkunft und Funktion sehen sollte, als etwas Transformiertes, Verwandeltes. Dies wird im Palmblatt deutlich, welches auch ein Flügel sein könnte und – verstärkt durch die spirituelle Komponente der Nichtfarbe Weiß – bereits Loslösung von jeder Materialität impliziert.

Twombly spielte im Titel auf Ovids Metamorphosen an und gab damit einen weiteren Hinweis zur Deutung: Metamorphose bedeutet Verwandlung, Verformung, Umbildung und Umgestaltung.

Er lieferte selbst eine - wenn auch stille - Leseanleitung für seine Skulptur: diese ist nicht bloß eine Assemblage von Fundstücken, sondern vielmehr eine Figur, die in der Zeit eingefroren zu sein scheint und in einer verordneten Haltung befestigt wurde. Trotzdem behalten verschiedene Komponenten ihre ursprüngliche Identität aus der Alltagswelt ansatzweise bei: hier sind es die schroffe Oberfläche der für

      

408 Vgl. Schmidt 2000 und Varnedoe 1994.

den Sockel verwendeten Kiste und das Palmblatt, die durchaus noch in ihrer ursprünglichen Art zu erahnen sind.

Ganz im Sinne von Ovid scheinen die Elemente der Skulptur Momenten der Transformation unterworfen gewesen zu sein und sind es im Auge des Betrachters immer noch: Zum einen sind es die ursprünglichen Materialien, die durch den Farbauftrag in etwas Neues, Andersartiges verwandelt worden sind, zum anderen sind es die offenen Formen der Skulptur, die fortwährend neue Interpretationsmöglichkeiten und Assoziationen gestatten – wie Ohrmuschel, Fächer, Herz, oder Flügel.

Formell bestehen Ähnlichkeiten zwischen der Struktur des Palmblatts mit seinen Rippen und der eines Flügels mit seinen Knochen. Der Flügel ist eine Metonymie für den Flug des Vogels. So lässt sich durchaus eine Analogie zwischen der Struktur des Palmblattes und dem Vogelflug erkennen, die sich aus den Rippen des Palmblatts ergeben könnte, die einen Fluganstieg markieren und wie Radii um ein festes Zentrum rotieren und sich im Uhrzeigersinn ausbreiten. Die Rippen des Palmblatts verlaufen um ein fixes Zentrum und entfalten sich im Uhrzeigersinn.

Spinnt man den Gedanken weiter, so ähnelt das Palmblatt zudem einer kinetischen Repräsentation, die einen bogenförmigen Vogelflug beschreibt.

Die Skulptur wirkt insgesamt wie ein eingefrorener Moment, vergleichbar etwa mit einem Filmstill oder den verschiedenen Phasen eines Bewegungsablaufes, ähnlich Muybridges Sequenzen. (Abb. 109, 110). Twomblys Skulpturen sind in der Regel jedoch nicht kinetisch und folglich auch nicht als narrative Illustrationen misszuverstehen, allein Cycnus trägt als Ausnahme einen narrativen Aspekt in sich.

Vielleicht ist es der Verlauf eines mythologischen Ereignisses, die Bewegung des von Achilles getöteten Cycnus als Schwan, die Twombly in dem gedrehten Palmfächer umsetzte. Es scheint als hätte Twombly einen bewegten und aufstrebenden Moment festgehalten, möglicherweise eine Apotheose. So könnte Twombly den Augenblick in seiner Skulptur schildern, in dem sich aus dem toten Körper des Cycnus der Schwan herausschält, aufsteigt und wegfliegt.

Das Palmblatt wurde scheinbar – angelehnt an die Form eines aufsteigenden Schwanes – künstlerisch transformiert. Im Gegensatz dazu könnte der grobe hölzerne Block als verlassene Hülle von Cycnus materiellen Überresten gelesen werden.

Wie weit Interpretationen gemäß formalen Analogien gehen dürfen, ist schwer zu sagen, sie müssen immer ein Versuch bleiben – ohne Anspruch auf Endgültigkeit.

Denn es ist immer der Betrachter selbst, der mit seinen eigenen Augen die Skulptur erfasst, sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln wahrnimmt, sich selbst und seine Sichtweise transformiert und erweitert, sich verzaubern lässt und für ein unendlich weites Spektrum von Deutungsmöglichkeiten öffnet.

2.5. Berührungspunkte mit Twomblys Malerei: ein Blick auf die

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