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L’objet ambigu: Cy Twombly und Paul Valéry

Im Dokument Cy Twombly (Seite 169-173)

Schaffungsabschnitten

4. Untitled (Eros/binder and joiner) (2004, Lexington):

4.6. L’objet ambigu: Cy Twombly und Paul Valéry

Obwohl sich Twomblys Skulpturen durch ihre klare Form und die genau bestimmbaren Materialien charakterisieren lassen, inszeniert der Künstler vor allem das Rätselhafte und Unbestimmbare.

„Was gibt es Geheimnisvolleres als die Klarheit? … Was ist launischer als die Verteilung von Lichtern und Schatten über die Stunden und Menschen?“576

Cy Twombly widmete dem französischen Dichter-Philosophen Paul Valéry im Jahr 1973 eine seiner Collagen und nannte sie To Valéry577. Es ist nicht nur diese Arbeit, mit der Twombly direkt – einer Widmung gleich – auf eine gewisse Nähe oder sogar Verehrung seines Gedankengutes anspielte, viel mehr ist es der oftmals rätselhafte Charakter seiner Arbeiten, die einem Konzept von Paul Valéry nahe stehen.

Es handelt sich hierbei um das objet ambigu, eine Denkfigur von Paul Valéry, die für das rätselhafte Unbestimmte steht, das dennoch beharrlich unsere Aufmerksamkeit beansprucht.

In seinem in Dialogform geschriebenem berühmt gewordenen Text Eupalinos ou l'architecte von 1923, der in seiner Form an ein Gleichnis erinnern mag, schildert Valéry eine Begebenheit zwischen Sokrates und Phaidros, die man mit der Situation der Begegnung des Betrachters mit den Skulpturen von Twombly oder deren Bestandteile vergleichen könnte.

Als 18-jähriger fand Sokrates einst, am Strand des Meeres, ein seltsames Ding:

      

576 Valéry 1927, S. 79.

577 Cy Twombly, To Valéry, 1973, Collage: Öl und Kreide auf Papier, 76,4 x 55,5 cm, Privatbesitz.

„Ein armseliger Gegenstand. Ein gewisses Ding, das ich fand im Herumwandern.

Es wurde zum Ursprung eines Gedankens, der sich von selbst spaltete in Bauen und Erkennen.“578

Und weiter beschreibt Sokrates:

„Ich habe eines dieser Dinge gefunden, die das Meer ausgeworfen hat; eine weiße Sache von der reinsten Weiße; geglättet, hart, zart und leicht. Sie glänzte in der Sonne auf dem geleckten Sand, der dunkel scheint, übersät mit Funken. Ich nahm sie; ich blies sie an; ich rieb sie gegen meinen Mantel, und ihre eigentümliche Form unterbrach alle meine übrigen Gedanken. Wer hat dich gemacht, dachte ich. Du erinnerst an nichts, gleichwohl bist du nicht gestaltlos. Bist du ein Spiel der Natur, oh, du Namenloses, das mir zugekommen ist durch die Götter mitten unter den Abfällen, die das Meer diese Nacht zurückgestoßen hat?“579

Er hob es auf, sah es an und warf es ins Meer. Wiewohl es sich um den mehrdeutigen Gegenstand – das objet ambigu – handelte, das ihn zu unendlichen Überlegungen angeregt hatte, konnte er nicht entscheiden, was es mit ihm auf sich hatte. Es war faustgroß, weiß, rein, hart, glatt und leicht.580 Es konnte ein Knochen sein oder eine Muschel, organisch oder anorganisch, etwas Tierisches, Pflanzliches oder Menschliches. Es wirkte ebenso natürlich wie künstlich, gleichermaßen absichtslos geworden wie bewußt gemacht, genauso bedeutsam wie bedeutungslos, gänzlich bestimmt und doch vollkommen unbestimmbar, irgendwie unvollständig und doch vollkommen:581

„…was das Ding selber angeht, so wäre für es das geheiligte Gesicht nichts als eine vorübergehende Form in der Familie der Formen, die die Handlung des Meeres ihm auferlegen sollte.“582

Kurz, Sokrates fand keine Erklärung dafür. Das Ding bot Stoff für Zweifel, doch der angehende Philosoph suchte Gewissheit. Was er nicht erkennen konnte, entzog sich dem Genuss. Also warf er es weg, und damit, wie er nun wußte, die Chance, ein Künstler zu werden:

„Ich verharrte einige Zeit und die Hälfte einer Zeit, indem ich es von allen Seiten betrachtete. Ich fragte es aus, ohne mich bei einer Antwort aufzuhalten…Ob       

578 Valéry 1927, S. 139f.

579 Ibidem, S. 145f.

580 Vgl. Valéry 1927, S. 146

581 Ibidem, S. 147f.

582 Valéry 1927, S. 148.

dieses eigentümliche Ding das Werk des Lebens sei oder das Werk der Kunst oder eines der Zeit, oder ein Spiel der Natur, ich konnte es nicht entscheiden…und dann auf einmal warf ich es zurück ins Meer.“583

Die Begegnung mit dem objet ambigu hat in Valérys Dialog Eupalinos oder der Architekt für das weitere Leben seines literarischen Sokrates eine entscheidende Bedeutung: Sie machte ihn zwar zum Philosophen, ließ aber eine künstlerische Existenz im Bereich des Möglichen.

Der von Paul Valéry geprägte Begriff Objet ambigu trifft in Bezug auf Twomblys Skulptur Untitled (Eros/binder and joiner) das Wesen bzw. kann als die ihr zu Grunde liegende Eigenschaft beschrieben werden, ganz allgemein stellt es aber auch eine Art Leitmotiv für das Gesamtwerk von Twombly dar.

Es ist die erste Begegnung mit der Skulptur im Ganzen, die vergleichbar ist mit der an früherer Stelle beschriebenen, anfänglichen Auseinandersetzung von Sokrates mit dem gefundenen, rätselhaften Gegenstand, der nur schwerlich treffend zu beschreiben ist. Ähnliches gilt für die Details, auf die sich der Blick richtet. Als Beispiel hierfür mögen die zwei aneinander gebundenen weißen Hölzer der Skulptur Untitled (Eros/binder and joiner) dienen. Die Schilderung von Valéry kann auch hierauf bezogen werden:

Es konnte ein Knochen sein oder eine Muschel, organisch oder anorganisch, etwas Tierisches oder Pflanzliches oder Menschliches. Es wirkte ebenso natürlich wie künstlich, gleichermaßen absichtslos geworden wie bewußt gemacht, genauso bedeutsam wie bedeutungslos, gänzlich bestimmt und doch vollkommen unbestimmbar, irgendwie unvollständig und doch vollkommen.584

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Bleistiftmarkierung auf der Rückseite der Skulptur. Sie gibt dem Betrachter Rätsel auf, stellt ihn vor eine Reihe von Fragen:

Handelt es sich nun um eine Ziffer oder um einen Buchstaben, um eine 5 oder aber ein S – oder trifft keiner dieser Deutungsversuche zu? Wollte Twombly etwas Besonders kennzeichnen oder handelt es sich allein um ein schlangenförmiges Zeichen und dient ‚nur‘ einem gestalterischen Zweck oder ist es schlichtweg eine Nummerierung?

Eines ist unübersehbar: Skulptur wie zusammengeschnürte Hölzer, Ziffern wie Zeichen, alle stehen sie im Zusammenhang mit dem mehrdeutigen Gegenstand,

      

583 Valéry 1927, S. 149.

584 Vgl. Valéry 1927, S. 146ff.

dem objet ambigu, Sinnbild für die Unbestimmbarkeit jeglicher Form von Existenz.

Im Dokument Cy Twombly (Seite 169-173)