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Neuere Ansätze in der Filmwissenschaft: Konstruktivismus und Cultural Studies

In der Dokumentarfilmdebatte ist die Frage nach der Realität und der Konstruktion von Realität durch Massenmedien entscheidend. Neuere Ansätze in der Filmwissenschaft greifen diese Frage auf. Werner Faul-stich untersucht in „Die Filminterpretation“, welcher „Zugriff“, welcher

„Ansatz“, welche „Methode“, welche „Instrumente“ bei der „Analyse“

und „Interpretation“ von Filmen Aufschluß geben können über den

„Sinn“ eines Films. Daß die entscheidenden Begriffe in Anführungs-zeichen gesetzt sind, deutet auf die Schwierigkeiten, die bis heute mit der - gar wissenschaftlichen - Analyse eines Kunstwerks verbunden sind.

Faulstich umschreibt vorsichtig: „Die Instrumente der Filmanalyse sind bestimmte Techniken, einzelne Arbeitsschritte, bestimmte Versuchs-anordnungen, detaillierte Zugriffe. Sie können zu den unterschied-lichsten Zwecken und Zielen herangezogen werden und lassen sich prin-zipiell bei jedem Film - mehr oder weniger erfolgreich - anwenden, einsetzen, nutzen.“98 Folgende „Interpretationsmethoden“ stellt er vor: 1.

der strukturalistische Zugriff, der der Theorie des „Spielfilms als auto-nomen Werkes“ folgt, 2. die biographische Filminterpretation, bei der der Film insbesondere als Teil des Gesamtwerks des Regisseurs betrachtet wird, 3. die literatur-/filmhistorische Interpretation, die den Film, seine Personen, Handlung und Motive bestimmten Traditionen verhaftet sieht, 4. die soziologische Filminterpretation, der gemäß Film als Manifestation von Gesellschaft zu begreifen ist, 5. die psychologisch-psychoanalytische Filminterpretation, wonach im Film wie im Traum individuelle und kollektive Bedürfnisse ausgelebt und verarbeitet

97 Kosellek, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frank-furt/M., 1989, S. 153.

98 Faulstich, Werner: Die Filminterpretation. Göttingen, 1988, S. 11.

den, 6. die genrespezifische Filminterpretation, die den Film in konven-tionelle Muster eingewoben sieht.99

Diese verschiedenen Ansätze verweisen auf die Erkenntnis, daß es die eine Methode zur Interpretation von Filmen, eine Art „Meta-Film-Theo-rie“ nicht geben kann, weil sich Sinn, Bedeutung und Qualität eines künstlerischen Werkes nicht erschöpfend und übereinstimmend beschreiben lassen. Der Sinn eines Films kann auch dann nicht befriedi-gend erfaßt werden, wenn nacheinander alle verschiedenen Interpreta-tionsmethoden angewandt werden. Vielmehr gibt es für jeden Film eine adäquate oder weniger adäquate Methodenkombination. Das ist nicht als Hinwendung zum Eklektizismus aus Ratlosigkeit zu verstehen. Es regiert nicht das Prinzip der Beliebigkeit, sondern im Gegenteil das der Ergie-bigkeit der Interpretation.

Helmut Korte definiert Filmanalyse als „... Versuch, das eigene sub-jektiv-objektiv determinierte Filmerlebnis durch Untersuchung der rezeptionsleitenden Signale, durch Datensammlung, Datenvergleich am Film und den filmischen Kontextfaktoren, durch Beobachtung und Inter-pretation schrittweise zu objektivieren“. Klaus Kanzog hält dieser Idee der „schrittweisen Objektivierung“ jedoch entgegen, daß sie die An-nahme suggeriere, irgendwann könnte der letzte Schritt getan, der Film analysiert sein.100 Lothar Mikoš hat ebenfalls etwas gegen Objektivie-rungsversuche: „Das Problem der Filminterpretationen ist, daß sie außer-filmische Kategorien an die Filme herantragen und damit Bedeutungen des Films konstruieren, ohne sich dieses Konstruktionsprozesses bewußt zu sein oder ihn selbstreflektiv zu thematisieren. ... Filminterpretationen sind Bestandteil des Diskurses über Filme in den jeweiligen Gesell-schaften, sie sind selbst Ausdruck einer Ideologie, die sie vermeintlich im Film untersucht haben. Das gilt letztlich auch für methodische Zugänge wie die objektive Hermeneutik (vgl. Oevermann et al. 1979;

Oevermann 1993), die ganz im Sinne des Strukturalismus bestrebt ist, einen Text zwar extensiv auszulegen, die Abhängigkeit der Auslegung von der eigenen Diskurspraxis aber nicht thematisiert.“101

99 Vgl. A.a.O., S. 14.

100 Vgl. Kanzog, Klaus: Konstruktivistische Probleme der Filmwahrnehmung und Film-protokollierung. In: Filmanalyse interdisziplinär. Beiträge zu einem Symposium an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Mit einem Vorwort von Helmut Kreu-zer. Hrsg. von Helmut Korte und Werner Faulstich. 2. Aufl. Göttingen, 1991, (= Zeit-schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 15), S. 24.

101 Mikoš, Lothar: Filmverstehen. Annäherung an ein Problem der Medienforschung. In:

Texte Nr. 1, Oktober 1998. Sonderheft der Zeitschrift medien praktisch. Hrsg. vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e.V. S. 3-8.

Korte spricht aber vom Versuch der schrittweisen Objektivierung. Ihm ist bewußt, daß Film von der Produktion bis zur Rezeption und von der Rezeption zur Analyse subjektgebunden ist: der Autor eines Films setzt Ideen in Bilder um, verfolgt damit bestimmte Absichten und hat Erwar-tungen an die Rezipienten seiner Bilder. Sie sollen sie in seinem Sinne entschlüsseln, die Bilder lesen können. Voraussetzung dafür ist die visu-elle Kompetenz der Betrachter. Sie müssen das Sehen gelernt haben und in der Lage sein, filmische Konventionen bzw. den Bruch mit diesen zu erkennen. Während der Entschlüsselung der Bilder – die nie vollständig und nie den Absichten des Autors entsprechend gelingen kann – wirken verschiedene Faktoren auf den Betrachter ein, sogenannte „mediating factors“102, auch „intervenierende Variablen“ genannt. Wie nun ein Film als endliche Abfolge von Bildern auf den jeweiligen Betrachter wirkt, ist nicht vorhersagbar. Denn schon der Akt der Wahrnehmung ist ein Akt der Interpretation.

Fortschritte auf dem Gebiet der Filmanalyse gibt es dennoch. Einen Fort-schritt stellt allein schon das Problembewußtsein dar, das in den Über-legungen der oben genannten Filmwissenschaftler zur Wahrnehmung von Filmen und zur Konstruktion von Realität durch Film zum Ausdruck kommt. Diese Positionen sind fundiert durch neuere Ansätze in der Filmwissenschaft, wie den Konstruktivismus und die Cultural Studies, die im folgenden vorgestellt werden sollen.

Auf der nicht neuen Erkenntnis, daß das Verstehen von Bildern und Sprache prinzipiell subjektabhängig ist, basiert der konstruktivistische Ansatz zur Analyse von Filmen. Die eigenen Erfahrungen entscheiden im wesentlichen darüber, wie etwas wahrgenommen und interpretiert wird. Daher hat der Konstruktivist die Vorstellung vom Film als einen Bereich objektiver Erkenntnis aufgegeben, er plädiert stattdessen für Methodenpluralismus.

Konstruktivisten gehen davon aus, daß wir alle an der Konstruktion von Realität beteiligt sind. Demnach gibt es so viele Realitäten wie

102 Laut Joseph T. Klapper sind das „... (1) predispositions and the related processes of selective exposure, selective perception, and selective retention; (2) the groups, and the norms of groups, to which the audience members belong; (3) interpersonal dissemina-tion of the content of communicadissemina-tions, (4) the exercise of opinion leadership; and (5) the nature of mass media in a free enterprise society. Klapper, Joseph T.: The Effects of Mass Communication. 2. Aufl. Glencoe, 1961 (1960), S. 19. Elisabeth Noelle-Neumann nennt: Alter, Geschlecht, Intelligenz, psychische Anlagen, soziale Situationen. Noelle-Neumann, Elisabeth: Wirkung der Massenmedien auf die Meinungsbildung. In:

Fischer-Lexikon Publizistik Massenkommunikation. Hrsg. von Elisabeth Noelle-Neu-mann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke. Akt., vollst. überarb. Neuausgabe. Frankfurt/M., 1994, S. 535.

duen. Definiert wird Realität als ein soziales Phänomen, das durch Kommunikation zwischen den Menschen entsteht. Konstruktivisten un-terscheiden zwischen einer Wirklichkeit 1. Ordnung und einer Wirklich-keit 2. Ordnung. Die WirklichWirklich-keit 1. Ordnung entspricht der Welt, wie sie uns naturwissenschaftlich meßbar gegenübertritt. Die Wirklichkeit 2.

Ordnung ist die Welt, in der wir Objekte subjektiv bewerten.

Eine konstruktivistische Medientheorie begreift Massenmedien nicht als Vermittler oder Spiegel der Realität. Vielmehr sind Massenmedien an der Konstruktion von Realität und damit an der Schaffung einer gemein-samen Basis für soziales Handeln beteiligt, sie werden „... als aktives Element in dem sozialen Prozeß begriffen, aus dem eine Vorstellung von Wirklichkeit erst hervorgeht. Ihre Aufgabe besteht darin, die Stimuli und Ereignisse in der sozialen Umwelt zu selektieren, zu verarbeiten, zu in-terpretieren.“103 Aufgabe der Medien ist demnach, sinnvolle Wirklich-keitskonstruktionen zu entwickeln, die handlungsfähig machen. Sieg-fried Weischenberg präzisiert: „Es geht um Kriterien für ‚erfolgreiche Wirklichkeitskonstruktion‘ (Viabilität) im Rahmen von Massenkommu-nikation und hier um operationalisierbare Größen, die die absoluten Maßstäbe ‚Wahrheit‘ und ‚Realität‘ ersetzen. Solche Begriffe können auf der Macroebene (Mediensystem) Vielfalt, bezogen auf die Kommuni-katoren Glaubwürdigkeit und bezogen auf die Rezipienten Nützlichkeit sein.“104

Der Konstruktivismus ist hier vor allem eine pragmatische Position. Es geht nicht um eine letzte Begründung oder Objektivität, die sowieso nur angestrebt, aber nie vollständig erreicht werden kann.105 Die momentan

„passendste“ Theorie, die also in Bezug auf Konsistenz, Effektivität und Relevanz einen Wirklichkeitsbereich am sinnvollsten beschreibt und ordnet, wird akzeptiert. Das hat wenig mit Beliebigkeit oder Relativis-mus zu tun, vielmehr mit der Bereitschaft, Verantwortung zu über-nehmen, handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben bei gleich-zeitiger Offenheit für bessere Lösungen.

103 Schulz, Winfried: Massenmedien und Realität. Die „ptolemäische“ und die „kopernika-nische“ Auffassung. In: Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Hrsg.

von Max Kaase und Winfried Schulz. Opladen, 1989, (= Kölner Zeitschrift für Sozio-logie und SozialpsychoSozio-logie. Sonderheft 30), S. 142.

104 Weischenberg, Siegfried: Die Medien und die Köpfe. In: Theorien öffentlicher Kommunikation. Hrsg. von Günter Bentele und Manfred Rühl. München, 1993, (=

Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissen-schaft, Bd. 19), S. 128.

105 Von Heinz von Foerster, einem der Hauptvertreter des radikalen Konstruktivismus, stammt der Satz: „Objektivität ist die Selbsttäuschung des Subjekts, Beobachtung sei ohne es möglich“.

Während konstruktivistische Positionen in der Publizistik- und Kommu-nikationswissenschaft weit verbreitet sind, finden sie im praktischen Journalismus wenig Anhänger. Begriffe wie „Objektivität“, „Ausgewo-genheit“ und „Wahrheit“ beschreiben eine Norm und lassen sich nach-weisen in den Rundfunkstaatsverträgen, den Landespressegesetzen oder im Pressecodex des Deutschen Presserats, einem Organ der Freiwilligen Selbstkontrolle. Michael Haller sieht in der Objektivitätsgläubigkeit mancher Journalisten eine Gefahr, denn „... noch immer ordnen sich die Medien, zumal die elektronischen, unter die Ausgewogenheitsdoktrin der politischen Parteien, die den objektivistischen Wirklichkeitsbegriff als Leine nutzen, um die faktengläubigen Journalisten besser gängeln zu können.“106

Zentrales Thema der Cultural Studies ist das Verhältnis von Kultur, Macht und Medien. Sie integrieren verschiedene Ansätze und Methoden der Kultur- und Sozialwissenschaften. Ihr Kulturbegriff ist weit gefaßt, unter Kultur werden sowohl die kulturellen Praktiken als auch die Pro-dukte verstanden. Das Hauptinteresse liegt auf Phänomenen der Massen-, Populär- und Subkultur. Entstanden sind die Cultural Studies in den fünfziger Jahren in Großbritannien als Reaktion auf die anhaltende Pro-pagierung eines elitären Kulturbegriffes, der Massenkultur, wie sie Film, Rundfunk, Trivialliteratur und Boulevardpresse verbreiteten, mit Kultur-verfall gleichsetzte. Die Debatte über die Qualität unterschiedlicher kul-tureller Produkte führte dazu, daß Populärkultur überhaupt in den Blick genommen wurde - wenn auch zunächst mit dem Ziel, ihre Minder-wertigkeit mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Verfahren herauszu-arbeiten. Die Feststellung aber, daß für weite Teile der Bevölkerung massenmedial vermittelte Kultur prägend ist, veranlaßte Forscher wie Richard Hoggart, Lebens-, Arbeits- und Freizeitrituale der Arbeiter- und Mittelschicht zu untersuchen. Hoggart, der lange Zeit in der Erwachse-nenbildung tätig war, wurde der erste Leiter des 1964 in Birmingham gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies, CCCS.

Verbunden war und ist mit der Analyse von Kultur eine gesellschafts-kritische Haltung, denn gerade die Kultur spiegelt soziale Ungleichheit am deutlichsten wider. Politische und soziale Konflikte deuten Kultura-listen im Sinne Antonio Gramscis als Kämpfe um „kulturelle Hegemo-nie“107. Die Bedeutung der Massenmedien in den Auseinandersetzungen um kulturelle Deutungsmacht wurde von der Birmingham-School von

106 Haller, Michael: Journalistisches Handeln: Vermittlung oder Konstruktion von Wirk-lichkeit. In: Bentele, Günther/Rühl, Manfred (Hg.): Theorien öffentlicher Kommuni-kation. München, 1993, (= Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 19), S. 151.

107 Vgl. Anmerkung 26.

Anfang an erkannt. Massenmedien sind die Vermittlungsinstanzen moderner Populärkultur. Ein jeder ist gleichzeitig Konsument und Pro-duzent von Kultur. Stuart Hall, von 1968 bis 1979 Leiter des CCCS, hat deshalb 1973 ein Kommunikationsmodell vorgelegt, das als Vorläufer integrierender Modelle wie dem dynamisch-transaktionalen von Früh/Schönbach gelten kann. Halls „encoding/decoding“-Modell be-schreibt einerseits die Macht der Kommunikatoren und Medieninstitu-tionen, grenzt sich andererseits aber von der Gleichsetzung ökonomische Macht = kulturelle Macht ab. Denn darüber entscheidet ebenfalls der Rezipient/die Rezipientin. Was diese mit den ihnen zur Verfügung ste-henden Medienangeboten machen, steht im Mittelpunkt kulturwissen-schaftlicher Analysen. Texte werden daraufhin untersucht, welche Mög-lichkeiten der Aneignung sie verschiedenen Bevölkerungsgruppen eröff-nen. Hall beschreibt drei idealtypische Positionen, von denen aus mediale Texte decodiert werden können. Da sind 1. die Vorzugslesart, die mit dem herrschenden ideologischen System übereinstimmt („domi-nant-hegemonic position“), 2. die ausgehandelte Lesart („negotiated po-sition“), 3. die oppositionelle Lesart („oppositional position“).108 Über-nehmen die Zuschauer nahezu vollständig die konnotative Bedeutung eines medialen Textes, wird also die Botschaft im Sinne des Referenz-codes, mit dem sie codiert wurde, auch decodiert, so handelt es sich um die Vorzugslesart (1.). Bei der ausgehandelten Lesart akzeptieren die Zuschauer die Vorgaben des medialen Textes, beispielsweise seinen Nachrichtenwert (der kulturell determiniert ist). Gleichzeitig enthält diese Lesart aber auch oppositionelle Elemente, da die Zuschauer den Text in ihrem Sinne bearbeiten, indem sie die vorgegebene Interpretation ihrer spezifischen Situation anpassen (2.). Die oppositionelle, subversive Lesart pflegen Zuschauer, die sich in direkter Opposition zum hegemo-nialen Code befinden. Sie verstehen zwar die Vorzugslesart eines medialen Textes, lehnen sie aber ab und deuten die ihnen angetragenen Botschaften in ihrem Sinne und entsprechend ihrer sozialen Situation (3).109

Zu diskutieren ist, inwiefern sich Halls „encoding/decoding“-Modell mit den drei genannten „reading positions“ von anderen Ansätzen und Modellen der Kommunikationswissenschaft unterscheidet. Daß jeder Leser eines Textes Produzent eines Textes ist, entspricht dem Leitsatz aus Bertolt Brechts später so genanntem „Radio-Theorie“, wonach jeder Empfänger ein potentieller Sender ist oder Bela Balazs’ Filmtheorie,

108 Vgl. Hall, Stuart: Encoding/Decoding. In: ders. et al.: Culture, Media, Language.

London, 1980, S. 128-138. Zit. nach Winter, Rainer: Cultural Studies als kritische Medienanalyse. In: Hepp, Andreas/Winter, Rainer (Hg.): Kultur, Medien, Macht.

Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen, 1997, S. 50.

109 Vgl. Winter, Rainer: Cultural Studies als kritische Medienanalyse. A.a.O.

wonach jeder Filme machen soll, um eine von der herrschenden Klasse unabhängige Massenkultur zu schaffen. Hans Magnus Enzensberger hat diese Ideen von der schrittweisen Vergesellschaftung der Massen-kommunikationsmittel aufgegriffen. In seinem 1970 im Kursbuch Nr. 20 publizierten „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ unterscheidet er zwischen „bürgerlicher“ und „proletarischer“ Öffentlichkeit, zwischen

„repressivem“ und „emanzipatorischem“ Mediengebrauch.110 Damit ver-sucht er Anfang der siebziger Jahre, in Weiterentwicklung der Kritischen Theorie ein neues Öffentlichkeitsverständnis zu etablieren.

Vertreter der Kritischen Theorie wie Theodor W. Adorno, Max Hork-heimer, Walter Benjamin, Herbert Marcuse u.a. verurteilen die in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften entstandene „Kulturindustrie“.

Sie zwinge, so Theodor W. Adorno, „zu ihrer beider Schaden“ die jahr-tausendelang getrennten Bereiche hoher und niederer Kultur zusam-men.111 Was an der Kulturindustrie als Fortschritt auftrete, das unab-lässig Neue, das sie offeriere, bleibe die Umkleidung eines Immer-gleichen.112 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Phänomenen der Massenkultur betrachtet Adorno mit Skepsis: „Die Wichtigkeit der Kulturindustrie im seelischen Haushalt der Massen dispensiert nicht, und am letzten eine pragmatisch sich dünkende Wissenschaft davon, über ihre objektive Legitimation, ihr An-Sich nachzudenken; vielmehr nötigt sie eben dazu. So ernst sie nehmen, wie es ihrer fraglosen Rolle ent-spricht, heißt, sie kritisch ernst nehmen, nicht vor ihrem Monopol sich ducken.“113 Damit nimmt Adorno eine Kritik vorweg, der sich die Cultu-ral Studies stets ausgesetzt sehen. Marxistische und in der Tradition der Frankfurter Schule stehende Kritiker unterstellen den Cultural Studies die unreflektierte Identifikation mit den Produkten der Kulturindustrie und daß sie von einer Rezipientenmacht ausgingen, die aber den tatsäch-lichen Gegebenheiten nicht entspräche.

Tatsächlich relativieren die Cultural Studies die von der Kritischen Theorie beschriebene allumfassende Macht der Kultur- und Bewußt-seinsindustrie, die zwangsläufig zu Gleichförmigkeit und politischer Lethargie führt. Zwar bestimmt die Kulturindustrie weitgehend das An-gebot und die Distribution kultureller Güter, in geringerem Maße jedoch die individuelle Rezeption. So sehen im Gegensatz zur Kritischen

110 Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit. Hrsg. und eingeleitet von Peter Glotz. München, 1997. (=

Ex libris Kommunikation ; 8), S. 97-132.

111 Vgl. Adorno, Theodor W.: Résumé über Kulturindustrie. In: Medienforschung. Bd. 1.

Konzerne, Macher, Kontrolleure. Hrsg. von Dieter Prokop. Frankfurt/M., 1985, S. 476.

112 Vgl. A.a.O., S. 478.

113 A.a.O., S. 480.

rie Vertreter der Cultural Studies das Publikum nicht als permanent manipulierte Masse, die statt ihrer wahren Bedürfnisse nur durch das kapitalistische Wirtschaften erzeugte Scheinbedürfnisse („Warenbedürf-nisse“) befriedigt. Sie gehen vom aktiven Publikum aus, genauer von unterschiedlichen Publika. Diese rezipieren und interpretieren Medien-inhalte autonom. Jeder Leser eines (medialen) Textes ist Produzent eines (medialen) Textes.

Die starke Ausrichtung auf die Rezipienten und die Berücksichtigung solcher „mediating factors“ wie Geschlecht, Alter, Schichtzugehörigkeit, Ethnie, Einkommen, Wohnort etc. finden wir allerdings schon in der Lazarsfeld-Schule, so in Herta Herzogs Studie „What do we really know about daytime serial listeners?“ von 1944. Der daraus abgeleitete und später als „Nutzenansatz“ differenzierte „uses and gratifications ap-proach“ orientiert sich an den Bedürfnissen der Rezipienten.114 Die bis dahin die Medienwirkungsforschung bestimmende Frage „Was machen die Medien mit den Menschen?“ wird umgekehrt in die Frage „Was machen die Menschen mit den Medien?“. Den kommunikatorzentrierten Ansätzen in der Massenkommunikationsforschung folgten also seit den vierziger Jahren die rezipientenorientierten Ansätze.

Cultural Studies nehmen statt der Masse einzelne Gruppen und ihre jeweiligen Kulturen in den Blick. Im Zuge der fortschreitenden Desinte-gration und Fragmentierung der Gesellschaft bestimmt in den achtziger Jahren nicht mehr allein der Klassengegensatz die forschungsleitenden Fragen. Hinzu kommen Untersuchungen zum Einfluß der Kategorien Geschlecht, Ethnie, Alter, Wohnort u.a., die zum Teil als Markt-forschungs- und Lifestyle-Analysen den universitären Bereich über-schreiten. Cultural Studies sind schon lange keine rein britische Angele-genheit mehr; sie werden als Kulturwissenschaften (so unpassend diese Übersetzung auch sein mag) in der ganzen Welt betrieben.115 Zu den wichtigen Vertretern der Cultural Studies in den achtziger und neunziger Jahren zählt John Fiske, der an zahlreichen medialen Ereignissen - beispielsweise dem Phänomen „Madonna“ - zeigt, welche spezifischen Formen der Konsumption möglich sind. Unterhaltung wird hier nicht

114 Vgl. Renckstorf, Karsten: Neue Perspektiven in der Massenkommunikationsforschung.

Beiträge zur Begründung eines alternativen Forschungsansatzes. Berlin (West), 1977 (=

Beiträge zur Medientheorie und Kommunikationsforschung; 16).

115 Vgl. z.B. Mikoš, Lothar: Die Rezeption des Cultural Studies Approach im deutsch-sprachigen Raum. In: Kultur, Medien, Macht. Cultural Studies und Medienanalyse.

Hrsg. von Andreas Hepp und Rainer Winter. Opladen, 1997, S. 159-169.

mehr als minderwertig oder als Gegensatz zu Information betrachtet.116 Stattdessen gilt es entsprechend dem Konzept einer „semiotic democracy“117 zu untersuchen, wie Texte individuell interpretiert und welche oppositionellen Lesarten angewandt werden. Dieser Ansatz hat zu einem Boom in der Medienanalyse und Rezipientenforschung geführt, verstärkt durch das größere Angebot neuer TV-Kanäle. Die privat-kommerziellen Sender, die ihr Programm via Satellit in die ganze Welt senden und damit an der Ausweitung einer Einheitskultur beteiligt sind, setzen vor allem auf ein massenattraktives Programm, senden Spielfilme, Sport, Talk- und Gewinn-Shows und Serien, die sogenannten Soap Operas. Erforscht wird, welche Bedürfnisse Rezipientinnen und Rezi-pienten dieser Sendeformen befriedigen, was z.B. Männer und Frauen oder Menschen in entwickelten oder weniger entwickelten Regionen der Welt vor dem Bildschirm erleben.

Großen Einfluß auf die theoretische Fundierung der Cultural Studies haben die poststrukturalistische Wissenschaftstheorie und Kulturkritik, wonach es „... die Große Erzählung, den alles zusammenfassenden Meta-Narrativ“118 nicht mehr gibt. Von den postmodernen Theoretikern und radikalen Konstruktivisten und Dekonstruktivisten unterscheiden sich die Positionen der Kulturalisten jedoch insofern, als nicht alle möglichen Deutungen gleichberechtigt nebeneinander stehen, ein Text nicht gänz-lich offen ist. Grenzen der Interpretation seien sowohl durch die struktu-rierte Polysemie der Texte bedingt als auch durch historische und soziale Faktoren. So warnt Mario Vargas Llosa, „... den Holocaust zu dekon-struieren.“ Wenn Auschwitz irgendein Ort in Polen ist, sei man nicht weit entfernt von den Positionen der Revisionisten und

Großen Einfluß auf die theoretische Fundierung der Cultural Studies haben die poststrukturalistische Wissenschaftstheorie und Kulturkritik, wonach es „... die Große Erzählung, den alles zusammenfassenden Meta-Narrativ“118 nicht mehr gibt. Von den postmodernen Theoretikern und radikalen Konstruktivisten und Dekonstruktivisten unterscheiden sich die Positionen der Kulturalisten jedoch insofern, als nicht alle möglichen Deutungen gleichberechtigt nebeneinander stehen, ein Text nicht gänz-lich offen ist. Grenzen der Interpretation seien sowohl durch die struktu-rierte Polysemie der Texte bedingt als auch durch historische und soziale Faktoren. So warnt Mario Vargas Llosa, „... den Holocaust zu dekon-struieren.“ Wenn Auschwitz irgendein Ort in Polen ist, sei man nicht weit entfernt von den Positionen der Revisionisten und