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Deutsche Nachkriegsfilme zu Nationalsozialismus und Holocaust bis 1949

Nach der Kapitulation im Mai 1945 ist auch der Nazi-Film am Ende.

Produktionsstätten, Archive, Technik, Verleihfirmen und die Kinotheater selbst unterstehen der Aufsicht der Alliierten. Wie die anderen Massen-medien, Presse und Rundfunk, brauchen die Sieger aber den Film, um die deutsche Bevölkerung im Sinne ihres reeducation-Konzepts zu informieren – und eben umzuerziehen. Die vor Kriegsende entstandenen Filme werden streng daraufhin überprüft, ob sie nationalsozialistische Ideologie verbreiten, militaristische, imperialistische, rassistische und geschichtsverfälschende Tendenzen aufweisen, und ob bekennende Nazis an ihrer Herstellung beteiligt gewesen sind. D.h. alle Filme, deren Produzent, Regisseur, Produktionsleiter, Drehbuchautor, Darsteller aner-kanntes Parteimitglied oder Förderer der NSDAP war, werden nicht auf-geführt. Die Anzahl der deutschen Produktionen im Kino der Nach-kriegszeit ist deshalb gering. Nur einige sogenannte „Überläuferfilme“ - das sind vor 1945 entstandene, aber als politisch unbedenklich einge-stufte Filme - kommen in die Kinos.169 Stattdessen sehen die Sieger in West und Ost Deutschland zunächst als Absatzmarkt für ihre eigenen Produktionen.

Ebenso strenge Richtlinien wie für die vor 1945 entstandenen Filme gelten für Neuproduktionen. Wer in den vier Besatzungszonen einen Film herstellen will, braucht eine Lizenz der Alliierten. Die Ansprüche an die Lizenz-Bewerber sind hoch. Nur politisch unbelastete Personen, die als Privatunternehmer oder als Beauftragte einer Gemeinde oder nichtgewerblichen Vereinigung auftreten, kommen in Frage. Das Prü-fungsverfahren ist aufwendig, und selbst nach Erteilung einer Lizenz muß ihr Inhaber beispielsweise in der amerikanischen Zone von der Information Control Division jedes einzelne Filmprojekt prüfen und ge-nehmigen lassen. Der fertige Filme ist den Nachrichten-Kontrollbehör-den noch einmal vorzulegen, um eine endgültige Aufführungsgenehmi-gung zu erhalten.

Vor– und Nachzensur übt auch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). Und wie die westlichen Alliierten sieht sie in Deutschland zunächst einen Absatzmarkt für eigene Filme. Doch begin-nen in der Sowjetzone die verantwortlichen Stellen sehr viel schneller

169 Z.B. Via Mala, Große Freiheit Nr. 7. Siehe auch Claudius Seidl, der sarkastisch behauptet: „Der deutsche Film ergab sich nicht, er lief zum Gegner über.“ Seidl, Clau-dius: Die große Lüge. Das deutsche Kino im Jahre Null. In: Spiegel-Spezial. 1945-1948. Die Deutschen und die Stunde Null. H. 4/1995, S. 72.

mit Deutschen - selbstverständlich im Sinne der kommunistischen Ideologie politisch zuverlässigen Deutschen - zusammenzuarbeiten. Im August 1945 entsteht mit Hilfe der SMAD eine Gruppe namens

„Filmaktiv“, die eine neue deutsche Filmproduktion ins Leben rufen soll.

Sie besteht aus fünf Mitgliedern, die während des Nationalsozialismus im Moskauer Exil gewesen sind, dementsprechend eng sind die Kontakte zu den sowjetischen Behörden und dem Sachbearbeiter für das Film-wesen in der sowjetzonalen Zentralverwaltung für Volksbildung. Man beschließt den Aufbau eines neuen deutschen Filmunternehmens und formuliert als Ziel des neuen deutschen Films, daß er „... antifaschistisch und frei von nazistischer Lüge und Völkerverhetzung sein müsse. Er müsse durchdrungen sein von dem Geiste des Humanismus, der Völker-verständigung und der wahren Demokratie.“170

1946 entstehen in der sowjetischen Besatzungszone die ersten deutschen Filme, Dokumentar- und Lehrfilme171 sowie Spielfilme. Im Mai erhält die aus dem „Filmaktiv“ hervorgegangene Produktionsgesellschaft DEFA (Deutsche Film-AG) vom politischen Berater der SMAD, Oberst Tulpanov, die sowjetische Lizenz. Tulpanov nennt als wichtigste Auf-gaben der Filmgesellschaft den demokratischen Aufbau Deutschlands und die Erziehung zur Völkerfreundschaft. Die DEFA bleibt die einzige Filmgesellschaft in der Sowjetzone. Bis 1990 behält sie ihre Monopol-stellung.

Im Herbst 1946 wird als erster DEFA-Film Wolfgang Staudtes Die Mörder sind unter uns in Berlin uraufgeführt. Millionen Menschen in allen vier Besatzungszonen und im Ausland sehen diesen Film, in dem ein ehemaliger Soldat auf Rache an seinem Vorgesetzten sinnt, der im Krieg den Befehl zum Morden erteilt und selbst ohne Skrupel Zivilisten hingerichtet hat. Eine junge Frau, die das KZ überlebt hat, hindert den Soldaten an der Selbstjustiz. Die Mörder sind unter uns markiert den Beginn einer Reihe von Filmen, die aufgrund der in ihnen vorherrschen-den Szenerie als „Trümmerfilme“ bezeichnet wurvorherrschen-den. Entscheivorherrschen-dend für die Bewertung des Films aber ist, daß er zu den wenigen deutschen Nachkriegsproduktionen zählt, die die unmittelbare Vergangenheit und die Verbrechen der Deutschen thematisieren.

Aufgrund der restriktiven Lizenzierungspolitik, eigener ökonomischer Interessen der Alliierten und allgemeinen Mangels (so fehlt

170 Klering, Hans: Als wir neu begannen. In: Auf neuen Wegen – 5 Jahre fortschrittlicher deutscher Film. Berlin (Ost), 1951, S. 61. Zit. nach: Pleyer, Peter: Deutscher Nach-kriegsfilm 1946-1948. Münster, 1965, (= Studien zur Publizistik, Bd. 4), S. 32.

171 Z.B. Berlin im Aufbau, Der Gewerkschaftskongreß, Einheit (gemeint ist die Zwangs-vereinigung von SPD und KPD zur SED) und Der 1. Mai 1946.

material) dauert es in den westlichen Besatzungszonen bis Dezember 1946, daß deutsche Filme aufgeführt werden können. Die erste britische Lizenz geht an die Hamburger „Camera“-Filmproduktion. Unter der Regie Helmut Käutners entsteht daraufhin In jenen Tagen. Haupt“figur“

dieses Episodenfilms ist ein PKW, der zwischen 1933 und 1945 mehr-fach die Besitzer wechselt, am Ende als Militärwagen den Krieg knapp übersteht und schließlich den Mechanikern, die ihn noch einmal flott machen wollen, - und den Zuschauern - seine Geschichte erzählt. In diesem Film ist die unmittelbare Vergangenheit der Deutschen wie in Staudtes Die Mörder sind unter uns präsent.

Eine britische Lizenz erhält auch die Berliner „Studio 45-Film GmbH“.

Sie produziert das Lustspiel Sag die Wahrheit. Die ebenfalls in Berlin neugegründete CCC-Filmgesellschaft Artur Brauners haben die franzö-sischen Alliierten lizenziert. Brauners erster Film heißt Herzkönig, wie Sag die Wahrheit ein Lustspiel. Brauner investiert die Gewinne aus Herzkönig in den Film, der ihm wichtig ist, weil er die Geschichte seines Überlebens erzählt: Morituri.172

Mehrere US-amerikanische Lizenzen gehen an deutsche Filmemacher nach der Rückkehr Erich Pommers aus den USA.173 Pommer, von den Amerikanern als Verantwortlicher für den Wiederaufbau der deutschen Filmproduktion eingesetzt, spricht sich dafür aus, die Deutschen alsbald an der Filmproduktion zu beteiligen: „Eine geeignete Geschichte, aus der ein guter und unterhaltsamer Film gemacht wird, von deutschen Schau-spielern vor deutschem Hintergrund gespielt, kann unseren Zielen mehr dienen als der beste Propaganda- oder Dokumentarfilm.“174

Denn um die Deutschen aufzuklären und umzuerziehen, setzen die Siegermächte in den ersten Jahren der Besatzung vor allem auf Doku-mentarfilme. Zunächst sollen die Deutschen mit ihren Verbrechen kon-frontiert werden. Dazu werden Filme wie Die Todesmühlen eingesetzt,

172 Ausführlich dazu in Kapitel II. 1.

173 So bspw. an Joseph von Baky und Richard König (Und über uns der Himmel) oder Harald Braun und Jacob Geis (Zwischen gestern und morgen), u.a. In der zweiten Hälfte des Jahres 1947 und besonders 1948 steigt die Zahl der Produktionen in den westlichen Besatzungszonen deutlich an, von sechs Filmen 1947 auf neunzehn 1948, die zudem von elf verschiedenen Produktionsfirmen hergestellt worden sind. Bis Ende 1948 entstehen vierzehn Filme in der sowjetisch besetzten Zone, sechsundzwanzig in den westlichen Besatzungszonen. Ein Austausch findet statt, aber nicht alle Filme wer-den in allen Zonen gezeigt. Vgl. Pleyer, Peter: Deutscher Nachkriegsfilm 1946-1948.

A.a.O., S. 31-45.

174 Pommer, Erich, zit. nach Göttler, Fritz: Westdeutscher Nachkriegsfilm. Land der Väter.

In: Geschichte des deutschen Films. Hrsg. von Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek Berlin.

Stuttgart, Weimar, 1993, S. 177.

die unmittelbar nach der Befreiung der Konzentrationslager entstanden sind und die Opfer der Nazi-Diktatur in den Lagern zeigen. An Die Todesmühlen ist neben dem Exiltschechen Hans Burger Billy Wilder beteiligt. Wilder plädiert dafür, einen kürzeren Kompilationsfilm aus dem nach der Befreiung der Lager gedrehten Material herzustellen. Eine kollektive Schuldzuweisung im Film soll vermieden werden, denn er hat bei der Vorführung einer vorläufigen Filmfassung in einem Kriegs-gefangenenlager beobachtet, wie die Deutschen darauf reagieren:

„Nearly no man agreed, either before or after the film, to the charge that German people were responsible for the atrocities ... Little effect was observed on the acceptance of personal responsibility by the prisoners ...

But almost no one ... would admit that the majoritiy of German people were NOT responsible.“175 Wegen dieser Reaktionen und weil auch maßgebliche Stellen in Washington ihm zu verstehen gegeben haben, daß man „unsere logischen Verbündeten von morgen“ nicht vor den Kopf stoßen dürfe, ist Wilder für eine gemäßigte Version. Daß die Deut-schen aber die Verfolgung, Inhaftierung und Ermordung unschuldiger Menschen organisiert und durchgeführt bzw. geduldet haben, spart der Film nicht aus. Er zeigt die erschütternden Bilder der Toten und gerade noch Geretteten, erklärt allerdings nicht, welche Ursachen der Aufstieg der Nationalsozialisten hatte und wer von der Ausbeutung der Millionen Arbeitskräfte profitierte. Auch unterscheidet er nicht zwischen den ein-zelnen Opfergruppen und vermeidet das Stichwort Antisemitismus. Eine über Jahre vorherrschende Perspektive im Umgang der US-Amerikaner (und anderer!, z.B. der Sowjets) mit dem Holocaust.

Doch auch die gemäßigte Version der Todesmühlen, die im Herbst 1945 aufgeführt wird, lehnen die Zuschauer ab. Sie weisen auf ihr eigenes schweres Schicksal und äußern die Vermutung, daß es sich „wiederum um Propaganda“ handelt. Davon hätten sie allmählich genug. Brigitte J.

Hahn stellt in ihrer Studie zur Filmpolitik der US-Amerikaner fest: „Der Film war also insgesamt in re-edukationspolitischer Hinsicht ein Fehl-schlag. Zu diesem Ergebnis kommt nicht nur die heutige Forschung, sondern bereits damals hat dies die Militärregierung selbst erkannt und auch zugegeben.“176

Die zentrale Filmproduktion am Ende der Konfrontations- und Bestra-fungsphase ist laut Hahn der Dokumentarfilm Nürnberg und seine Leh-ren. Wie Todesmühlen scheint er zu spät zu kommen. Zweieinhalb Jahre

175 Billy Wilder, zit. nach Hahn, Brigitte J: Umerziehung durch Dokumentarfilm? Ein Instrument amerikanischer Kulturpolitik im Nachkriegsdeutschland (1945-1953). Mün-ster, Hamburg, 1997, (= Reihe Kommunikationsgeschichte, Bd. 4, hrsg. von Walter Hömberg und Arnulf Kutsch), S. 101f.

176 Hahn, Brigitte J.: Umerziehung durch Dokumentarfilm? A.a.O., S. 112.

nach Kriegsende ist das Interesse am Kriegsverbrecherprozeß nicht sehr groß. Das müssen auch die Filmpolitiker feststellen, die mit Hilfe von Meinungsumfragen den Erfolg der Dokumentarfilme überprüfen. Im Jahr 1947 ändert sich die Haltung gegenüber den besiegten Deutschen.

Sie gelten nun als zukünftiger Partner der USA, und es beginnt eine Phase der Pragmatik - was zählt ist die Gegenwart - und der Propagie-rung des westlichen kapitalistischen Modells („american way of life“) in Abgrenzung zum Kommunismus.

Die Alliierten stimmen darin überein, daß der deutsche Film nicht noch einmal zur Propagierung nationalsozialistischer Ideologie mißbraucht werden darf und eine Machtanhäufung innerhalb der deutschen Wirt-schaft vermieden werden muß. Sie wollen einen personellen Neuanfang, müssen aber erkennen, daß es kaum Regisseure, Dramaturgen oder Kameraleute gibt, die nicht Mitglieder der Reichsfilmkammer gewesen waren.

Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung wird bald offensichtlich, daß die Amerikaner, Briten und Franzosen einerseits und die Sowjets andererseits unterschiedliche politische Ziele verfolgen und dies Einfluß hat auf den Film, seine Inhalte, die Produktion, den Verleih und die Auf-führung. Nach der Währungsreform in den Westzonen im Juni 1948 und der Blockade Berlins, spätestens dann mit der Konstituierung zweier deutscher Staaten 1949, ist der deutsche Film getrennt in BRD- und DDR-Film.

Insgesamt läßt sich das Bemühen um Auseinandersetzung mit der natio-nalsozialistischen Vergangenheit und dem Holocaust in den zwischen 1945 und 1949 entstandenen deutschen Filmen durchaus erkennen, so-wohl in den DEFA-Filmen als auch in den westlichen Produktionen. Die Neue Zeit initiiert 1948 eine Debatte über Formen und Inhalte des deut-schen Films, auch im Vergleich zum ausländideut-schen Film, beispielsweise dem italienischen Neorealismus mit Filmen wie Rossellinis Rom - offene Stadt, Paisa, Deutschland im Jahre Null oder de Sicas Schuhputzer und Fahrraddiebe. Gefordert wird, daß der deutsche Film nicht länger der Gegenwart ausweicht. Als „Gegenwart“ definiert Bruno E. Werner den

„lebendigen Bewußtseinsraum, der rund zwanzig Jahre umspanne“ und als wichtige Gegenwartsfilme nennt er Die Mörder sind unter uns, Ehe im Schatten, In jenen Tagen, Über uns der Himmel und Zwischen Gestern und Morgen.177

177 Werner, Bruno E., zit. nach Glaser, Hermann: Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945-1948. München, Wien, 1985, S. 279.

Eine genaue Analyse der insgesamt vierzig zwischen Kriegsende und Ende 1948 produzierten deutschen Spielfilme liefert Peter Pleyer. Er unterscheidet, ob es in den Filmen um Probleme der Gegenwart (1945-1948), der Zeit zwischen 1933 und 1945 als unmittelbare Vergangenheit oder der Zeit vor 1933 geht. Eine inhaltliche Unterscheidung trifft er zwischen Filmen, in denen Probleme behandelt werden, die den privaten oder aber den wirtschaftlichen, politischen, sozialen Bereich betreffen.

Pleyers Inhaltsanalysen ergeben, „... daß die Mehrzahl der dargestellten Probleme und Geschehensmotive mit politischer Relevanz in direkter oder indirekter Beziehung zur nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland (steht).“178 Zwei Drittel aller im Film gezeigten Probleme betreffen aber den privaten Bereich der Menschen. Dieser erscheint trotz aller Schwierigkeiten, z.B. der Heimkehrerproblematik, als Zufluchtsort.

Auffällig ist der Optimismus, den die Filme verbreiten, vermutlich ge-speist aus der Einsicht, daß es schlimmer nicht mehr kommen kann. Der Film Berliner Ballade mit dem damals noch schlanken Gert Fröbe in der Rolle des „Otto Normalverbraucher“ veranlaßt den Filmkritiker Gunter Groll zu folgender Unterscheidung: „Es gab bislang, drei Jahre lang, drei Arten deutscher Nachkriegsfilme. Die einen spiegeln die Zeit und sind infolgedessen traurig. Die anderen fliehen aus der Zeit in weniger trau-rige Zeiten und sind, infolge künstlicher Heiterkeit, auch sehr traurig.

Die dritten entschweben dieser Zeit in ein Traumland jenseits aller Zeiten und sind, weil sie meist nur mit schlechtem Gewissen schweben (als sei das filmische Fahnenflucht) viel trauriger als sie tun.“179

Nationalsozialismus, Krieg und Massenmord werden trotz der Flucht-bewegungen ins Private thematisiert, doch vermitteln die Filme vor allem ein Bild von den Deutschen als Schicksalsgemeinschaft. Das, was wir heute Holocaust nennen, also der staatlich organisierte und von Deutschen ausgeführte bzw. akzeptierte Mord an den Juden, wird in diesen Filmen zwar erwähnt, allerdings nicht erklärt und nicht darge-stellt. In manchen Filmen erscheinen Nazi-Diktatur, Krieg und Holo-caust als Gesamtkatastrophe, die über die Menschheit gekommen ist. Die Unterschiede zwischen Tätern, Opfern und Mitläufern verschwimmen.

Tim Gallwitz hat sich in seiner Arbeit über die Darstellung von Jüdinnen und Juden im deutschen Nachkriegsfilm indirekt mit der Bedeutung des Holocaust für die Stoffauswahl beschäftigt.180 Bei den in die

178 Pleyer, Peter: Deutscher Nachkriegsfilm 1946-1948. A.a.O., S. 149.

179 Groll, Gunter, zit. nach Spiess, Eberhard: Betrachtungen über die erste Dekade des deutschen Nachkriegsfilms. In: Deutscher Spielfilmalmanach. Bd. 2, 1946-1955. Hrsg.

von Alfred Bauer. München, 1981, S. XXVII.

180 Vgl. Gallwitz, Tim: Strategien im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangen-heit. Die Darstellung von Juden und Jüdinnen im deutschen Nachkriegsfilm vor dem

suchung einbezogenen Filmen In jenen Tagen, Ehe im Schatten, Zwischen gestern und morgen, Lang ist der Weg, Morituri, Affaire Blum, Der Ruf, Die Buntkarierten und Rotation handelt es sich sowohl um DEFA-Produktionen als auch um in den westlichen Besatzungszonen hergestellte Filme. Der Autor ordnet die neun Filme u.a. nach inhalt-lichen Kriterien:

In der dritten Episode von In jenen Tagen, in Ehe im Schatten und in Zwischen gestern und morgen geht es um sog. „Mischehen“.181 Die Variante Trennung kam zwar in der Realität häufiger vor (auch in Zwischen gestern und morgen), in Ehe im Schatten und In jenen Tagen entscheidet sich das Paar aber aufgrund des zunehmenden Verfolgungs-drucks für den gemeinsamen Selbstmord. Gallwitz sieht in dieser

„Lösung“, dem Sich-Selbst-Opfern des nichtjüdischen Ehepartners ein Entlastungsangebot an die nichtjüdischen Zuschauer. Denn sie sehen sich bestätigt, daß Widerstand nur geleistet werden konnte, wenn man bereit war, sich selbst zu opfern. Und kann man das verlangen?

Lang ist der Weg, Der Ruf und Morituri sind Versuche, Verfolgung, Massenmord und das „Weiter Leben“ zu thematisieren. Erfolgreich waren diese von Überlebenden des Nazi-Terrors initiierten Filme beim Publikum nicht, trotz der Versöhnungsbereitschaft, die in allen drei Produktionen sehr deutlich artikuliert wurde.182

In den DEFA-Filmen Affaire Blum, Die Buntkarierten und Rotation werden Antisemitismus und Judenverfolgung zum einen als Folge deutschnationaler und antidemokratischer Gesinnung weiter Teile der Bevölkerung in der Weimarer Republik interpretiert, zum anderen als unmittelbare Folge kapitalistischen Wirtschaftens, deutlich herausge-arbeitet in der Szene der Versteigerung des Levinschen Mobiliars in Die Buntkarierten und in der Darstellung des deutschnationalen Abgeord-neten Hinkeldey in Affaire Blum, der als Unternehmer ein Konkurrent des zu Unrecht angeklagten Blum ist. Identifikationsangebote an die Zuschauer gehen in Die Buntkarierten und Rotation vor allem von den

Hintergrund der Judenvernichtung. Magisterarbeit an der Universität Hamburg. Ham-burg, 1996.

181 Dem Film Ehe im Schatten liegt der authentische Fall des Künstlerehepaares Gottschalk zugrunde.

182 Die genaue Analyse von Morituri erfolgt in Kap. II.1; die Produktions- und Rezep-tionsgeschichte von Lang ist der Weg hat Cilly Kugelmann recherchiert: Kugelmann, Cilly: Lang ist der Weg. Eine jüdisch-deutsche Film-Kooperation. In: Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Hrsg. vom Fritz-Bauer-Institut. Frank-furt/M., 1996, S. 353-370. Mit Der Ruf beschäftigt sich Tim Gallwitz u.a. in dem Auf-satz „Was vergangen ist, muß vergangen sein“. In: Die Vergangenheit in der Gegen-wart. Konfrontationen mit den Folgen des deutschen Nachkriegsfilm. Hrsg. vom Deut-schen Filminstitut. Frankfurt/M., 2001, S. 12f.

proletarischen Figuren aus. Die antifaschistische Tradition der Arbeiter-bewegung, als deren Nachfolgerin sich die SED sieht, steht hier im Mittelpunkt.

In immerhin neun Nachkriegsfilmen von insgesamt siebenundvierzig zwischen Mai 1945 und Dezember 1948 entstandenen Produktionen gibt es jüdische Figuren und werden Antisemitismus und Verfolgung thema-tisiert. Zu einem großen Teil ist das auf die Initiative jüdischer Über-lebender wie Israel Becker, Artur Brauner oder Fritz Kortner zurückzu-führen oder auf die besondere Förderung dieser Projekte durch enga-gierte Filmpolitiker unter den Alliierten. Erfolgreich waren diese Filme um so mehr, als sie eindeutige Identifikationsangebote mit den unschul-digen Opfern oder heldenhaft Widerstand Leistenden anboten. Die noch so vorsichtig gestellten Fragen nach Schuld und Verantwortung aber wollten die meisten Zuschauer nicht hören. Sie störten wie im Fall von Morituri die Aufführung – oder gingen gar nicht erst ins Kino.

Der „kalte Krieg“ und die sich seit 1947 abzeichnende Spaltung Deutschlands führten dazu, daß die Schuld an Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust nicht mehr als eine gemeinsame begriffen wurde. In der Bundesrepublik nahm die Zahl der Filme mit Bezug auf das „Dritte Reich“ in den fünfziger Jahren kontinuierlich ab. Die Zuschauer, die sich überwiegend selbst als Opfer sahen, wollten mit dem Leid der Juden nicht konfrontiert werden. Der westdeutsche Film, marktwirtschaftlich orientiert, reagierte entsprechend. In der DDR, die sich als das andere und bessere Deutschland sah, entstanden zwar „anti-faschistische“ Filme, in denen der Klassenstandpunkt deutlich werden mußte, jedoch kaum Filme, die explizit das Leiden der Juden während des Nationalsozialismus thematisierten.

I.8.3. DDR-Filme zu Nationalsozialismus und Holocaust