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Befürworten Sie die Aufführung dieses Films

II. Analysen der publizistischen Kontroversen über den Holocaust im Film

II.1.6. Morituri und das Gesamtwerk Artur Brauners

4. Befürworten Sie die Aufführung dieses Films

a. vor möglichst breiten Schichten des deutschen Volkes – besonders der Jugend?

b. nur vor besonders Interessierten, geschlossenen Kreisen?

c. überhaupt nicht?

Alle Ergebnisse im einzelnen sollen hier nicht wiedergegeben werden, nur, daß von den 412 Antworten 376 lauten, der Film ist „objektiv und gerecht“, 347 Befragte sind der Meinung, daß Erinnerung in dieser Form

„dringend notwendig“ ist, 222 Personen vertreten die Ansicht, daß dieser Film die Menschen im positiven Sinne „aufrüttelt“ und 263 Befragte meinen, Nacht und Nebel soll vor „möglichst breiten Schichten – gerade auch der Jugend“ aufgeführt werden.340 Repräsentativ sind diese Ant-worten schon aufgrund der Zusammensetzung des Publikums nicht. Es besteht überwiegend aus besser gebildeten Beamten, Studenten und Journalisten. Ein Statement lautet: „Die es verschuldet haben, gehen be-stimmt nicht hin.“341

Damit ist das Dilemma jeglicher Filme zur politischen Bildung beschrie-ben. Sie erreichen vor allem diejenigen Zuschauer, die grundsätzlich schon über ein Interesse an dem Thema verfügen. Genaue Zahlen dar-über, wieviele Zuschauer Nacht und Nebel bis heute in Deutschland gesehen haben, liegen nicht vor. Der Film läuft 1956 und 1957 in den bundesdeutschen Kinos. Zum Gründonnerstag 1957 zeigt ihn die ARD.

Der Fernsehkritiker der Süddeutschen Zeitung, Martin Morlock, meint, daß „... man gewiß kaum einen würdigeren Fernsehbeitrag zur Karwoche denken konnte als diese Chronik eines millionenfachen Leidens Un-schuldiger.“342 Der Kritiker ärgert sich über die Berichterstattung „einer vielgelesenen Programm-Vorschau“, vermutlich der Hörzu, in der es heißt: „Der Film wirft erneut die vieldiskutierte Frage auf: Wer hatte Schuld?“ Morlock: „Offenbar bestehen hierüber mancherorts noch Zwei-fel.“343

340 Vgl. ebenda.

341 Vgl. Der Film Nacht und Nebel kommt nach Deutschland! Publikumsbefragung anläß-lich einer Sondervorführung am 30.6.1956 im Bonner „Metropol“-Theater. In: Die Europäische Zeitung vom 20.7.1956. Diese Umfrage der Europäischen Zeitung, dem Blatt der deutschen Sektion des European Youth Movement, ist auch der französischen Le Monde am 1.8.1956 ein Bericht wert.

342 Morlock, Martin: Nacht und Nebel. In: Süddeutsche Zeitung vom 23.4.1957, S. 7. Der Massenmord vornehmlich an den Juden ist sehr häufig ein Thema in der Karwoche, in der Christen des Todes und der Auferstehung Jesu – eines Juden – gedenken. Auch Schindlers Liste wurde das erste Mal im deutschen Fernsehen an einem Karfreitag aus-gestrahlt.

343 Ebenda.

1978 zeigt das ZDF Nacht und Nebel zum 9. November - 40 Jahre nach den antijüdischen Pogromen. Außer durch die Aufführung in Kinos und im Fernsehen hat Nacht und Nebel dadurch sehr viele Zuschauer erreicht, daß er durch die Landeszentralen für politische Bildung vertrie-ben worden ist und in den Schulen gezeigt wurde. In einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.1.1960 erklärt ein Mitarbei-ter der Bundeszentrale für Heimatdienst (späMitarbei-ter Bundeszentrale für poli-tische Bildung) namens Feineis, wie der Film Nacht und Nebel in Deutschland vertrieben wird. Der Film liege seit 1957 deutsch synchro-nisiert vor und werde von der Bundeszentrale für Heimatdienst, eine dem Bundesministerium des Innern unterstehende Behörde, kostenlos und in über hundert Kopien im gesamten Bundesgebiet für nichtkommerzielle Zwecke zur Verfügung gestellt. Die Nachfrage sei ständig sehr hoch, deshalb bemühe man sich, die Zahl der Kopien zu erhöhen.344 Der Schreiber des Leserbriefs stellt richtig, daß der Film nicht verboten war, es aber vor vier Jahren eine Debatte darüber gegeben hat, ob ein solcher Film in Cannes aufgeführt werden solle. Er verweist zuletzt noch einmal auf das große Angebot an Filmen zum Thema Nationalsozialismus und Antisemitismus, über das die Landesfilmdienste und –bildstellen verfü-gen, und fordert Interessierte auf, diese Dienste in Anspruch zu neh-men.345

Welche enorme Wirkung der Film auf seine Zuschauer gehabt hat, deutet die Filmemacherin Margarethe von Trotta in ihrem Film Die bleierne Zeit (1981) an. Mit einer fiktiven Geschichte über die Lebenswege zweier Schwestern (Gudrun und Christiane Ensslin) in der „bleiernen Zeit“ der fünfziger und sechziger Jahre, nähert sie sich konkreten Ereig-nissen, dem Linksextremismus in der Bundesrepublik in den siebziger Jahren. Trotta erklärt die Entwicklung einer der Schwestern zum Terro-rismus mit dem Hinweis auf die verdrängte Nazi-Vergangenheit der Elterngeneration. In einer Rückblende in Die bleierne Zeit sind folgende Szenen Schlüsselszenen: eine Schulklasse 1956, Deutschunterricht.

Marianne rezitiert ein Gedicht von Rilke, die Lehrerin, fordert Mariannes Schwester Juliane auf, die Verse zu interpretieren.

344 Nacht und Nebel stark gefragt. Leserbrief von Herrn Feineis. In: Frankfurter Allge-meine Zeitung vom 23.1.1960, S. 11.

345 Ebenda.

Juliane: Ich finde es kitschig.

Lehrerin: Das ist keine Interpretation, sondern eine subjektive Mei-nung. Dies Gedicht ist eines der schönsten der deutschen Sprache.

Juliane: Ich würde aber lieber die „Ballade von der Judenhure Marie Sander“ lesen oder „Schwarze Milch der Frühe...“.

Lehrerin: Du willst nur davon ablenken, daß dir zu Rilke nichts ein-fällt.

Die Lehrerin fordert eine andere Schülerin auf, Juliane aber beharrt auf ihren Vorschlägen, Brecht und Celan zu lesen. Sie fragt die Lehrerin direkt: „Und wovon wollen Sie ablenken?“ Dann beginnt sie zu zitieren.

Die Lehrerin fordert sie auf, das Klassenzimmer zu verlassen, wenn sie weiter stören will. Juliane geht hinaus.

Die nächste Szene spielt in einem Jugendheim. Julianes und Mariannes Vater führt den Film Nacht und Nebel vor. Einige der jungen Zuschauer stürzen aus dem Vorführraum, ihnen ist schlecht.346

Ausschnitte aus Nacht und Nebel werden auch in den Film Die innere Sicherheit von Christian Petzold montiert, der Anfang 2001 in die deut-schen Kinos kommt. Im Mittelpunkt stehen ein Paar, gespielt von Barbara Auer und Richy Müller, und seine Tochter Jeanne, gespielt von Julia Hummer. Sie leben als ehemalige Linksterroristen seit fünfzehn Jahren im Untergrund. Jeanne lernt eines Tages ein gleichaltriges Mäd-chen an einem Schulhof kennen und geht mit ihr in den Unterricht, wo den Schülern Nacht und Nebel gezeigt wird. Als der Film zuende ist, sitzen alle wie gelähmt da. Der Geschichtslehrer fragt die Anwesenden, was sie da eben gesehen haben, und wie es kommt, daß bei einer Film-vorführung das Klassenzimmer ausnahmsweise voll ist. Er spricht Jeanne an. Sie rafft erschrocken ihre Sachen zusammen und läuft aus der Klasse. Diese Szene ist der einzige Hinweis auf einen möglichen Zu-sammenhang zwischen Nationalsozialismus und Linksterrorismus der siebziger Jahre. Warum die Eltern in den Untergrund gegangen sind und wofür sie angeklagt werden könnten, läßt der Film offen. Es geht vor-dergründig nur um die Gegenwart. Die Vergangenheit ist jedoch stets präsent.

346 Vgl. Die bleierne Zeit. Ein Film von Margarethe von Trotta. Hrsg. von Hans Jürgen Weber in Zusammenarbeit mit Ingeborg Weber. Frankfurt/M., 1981, S. 44 u. 45.

II.2.5. Filmkritiken

Es wird über Nacht und Nebel schon gestritten, bevor der Film während der Festspiele in Cannes zur Aufführung gelangt. In Westdeutschland ist der Film erst ab Juli 1956 zu sehen. Dem Streit über das Für und Wider der Aufführung folgt die zweite Phase in der publizistischen Kontro-verse. In ihr geht es mehr um den Film, seine Machart und die Reaktio-nen der Zuschauer.

In der Festspielordnung der Filmfestspiele von Cannes heißt es, daß Filme, die die nationalen Gefühle eines anderen Landes verletzen könn-ten, nicht gezeigt werden. Auf Wunsch der Bundesregierung bittet der deutsche Botschafter in Paris, von Maltzan, Nacht und Nebel nicht in Cannes zu zeigen. Diese Bitte hat das französische Außenministerium an den für die Filmindustrie zuständigen Staatssekretär, Lemaire, weiterge-leitet. Der verhindert tatsächlich die Nominierung des Films für Cannes, mit einer Begründung, die die Deutschen schont, jedoch heftigen Protest der Féderation Nationale des Déportés, Internés, Résistants et Patriotes hervorruft. Der Verband kündigt an, in Häftlingskleidung vor dem Festi-valpalast zu demonstrieren und am Tag der Aufführung des deutschen Beitrags einen Protestmarsch zu organisieren. Auch in der französischen Presse wird Lemaires Reaktion auf die Einwände des deutschen Bot-schafters heftig debattiert. Der Verband der Filmtheaterbetreiber, der Verband ehemaliger Häftlinge und Jean Cayrol wenden sich an die Presse, Lemaire antwortet, Leser schreiben. Täglich erscheinen Artikel in den großen französischen Zeitungen, insbesondere Le Monde tut sich in dieser Debatte hervor.347

Schon einige Jahre zuvor hat auf Intervention Spaniens Resnais seinen Picasso-Film Guernica zurückziehen müssen. 1955 wird der jugoslawi-sche Film Die blutige Rose über den Terror der deutjugoslawi-schen Besatzer nicht aufgeführt. Am 23. April beginnt das Festival in Cannes und die Aufre-gung hat sich nicht gelegt. Polen zieht seinen Kurzfilm Unter einem gleichen Himmel zurück, ein Film, der wie Nacht und Nebel die Ver-nichtung von Millionen Zivilisten in Konzentrationslager thematisiert.

Doch auch der einzige deutsche Festspielbeitrag, Helmut Käutners Himmel ohne Sterne, wird mit derselben Begründung wie Resnais‘ Film nicht zum Wettbewerb zugelassen: ein Teilnehmerland sieht seine natio-nalen Gefühle verletzt. Sofort wird in der Presse spekuliert, ob es sich dabei um die Sowjetunion handelt.

347 Vgl. Artikel vom 10.11.1954, vom 8./9.,10., 11., 13., 17., 18.4.1956, 2.5.1956, 3.7.1956, 1.8.1956 in Le Monde.

Die publizistische Kontroverse über Nacht und Nebel und die Filmfest-spiele in Cannes ist nun auch in Deutschland ausgebrochen. Am 13.

April berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Querelen in Paris und zitiert aus dem Beitrag Jean Cayrols in Le Monde zwei Tage zuvor. Dort hat sich der Schriftsteller öffentlich an seinen Kollegen Heinrich Böll gewandt und gefragt, was er und „die anderen deutschen Freunde“ von dem Vorgehen gegen Nacht und Nebel halten.348 Die Welt kommentiert die Entscheidungen darüber, welche Filme zum Wett-bewerb zugelassen werden, folgendermaßen: „Jetzt gibt es zwar in Cannes keine KZ-Filme, aber auch keinen Film, der vom gegenwärtigen Deutschland kündet und von der großen Not seiner widernatürlichen Teilung.“349 Nachdem die deutsche Delegation Cannes verlassen hat, mache das deutsche Sprichwort die Runde: „Wer anderen eine Grube gräbt...“.350 Drastischer drückt sich der Kritiker der Frankfurter Allge-meinen Zeitung aus: „Man gibt den Sowjets die Möglichkeit, den einzi-gen, ohnehin nicht sehr siegesgewissen deutschen Spielfilm zu torpedie-ren, der aber den Snobs und Nicht-Snobs von Cannes etwas von unserem nationalen Hauptproblem hätte erzählen können; und man gibt den pol-nischen Satelliten die Chance, nun ihrerseits noch den Großmütigen, Verständnisbereiten zu spielen, indes die deutsche Delegation protest-schnaubend die Szenerie des Festivals verläßt. Daran werden aber nicht einmal unsere Kulturdiplomaten glauben, daß ob der Abreise der Deut-schen in Cannes Tränen vergossen werden.“351

Hält der Schreiber der Welt den Käutner-Film Himmel ohne Sterne für einen wichtigen Beitrag, weil er die „widernatürliche Teilung“ themati-siert, so bezeichnet die Münchner Autorin der ostdeutschen (neuen) Weltbühne den Film als „Zonengrenzkitsch“ und „antiöstlich“. Der Regisseur Helmut Käutner gar sei ein „USA-Konvertit“ (weil er nach seinem Film Die letzte Brücke ein Angebot aus Hollywood erhalten hat), der „massive Osthetze“ betreibe.352

348 Vgl. Korn, Karl: Nacht und Nebel. Etwas über Filmdiplomatie. In: Frankfurter Allge-meine Zeitung vom 13.4.1956, S. 6 und Cayrol, Jean: Nuit et Brouillard écarté du festi-val des Cannes. Une protestation de Cayrol, Jean: „Mes amis allemands, que pensez vous de cet attentat contre notre amitié, car c’est un attentat, n’est-ce pas, cher Heinrich Böll, puisqu’on nous enlève ce qui nous avait réunis: cette meme horreur contre l’avilissement de l’homme et son humiliation. Puisqu‘ on nous retire notre commune protestation.“ In: Le monde vom 11.4.1956.

349 Cannes. In: Die Welt vom 30.4.1956, S. 4.

350 Vgl. „Auszug aus Cannes“. In: Die Zeit, Nr. 18, vom 3.5.1955, S. 2.

351 Filmdiplomatie, II. Akt. Der deutsche Film Himmel ohne Sterne in Cannes vom Pro-gramm abgesetzt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.4.1956, S. 10.

352 Huber, Anni: Bemerkungen. „Aug‘ und Aug‘“. In: Die Weltbühne (Ost-Berlin) vom 9.5.1956. Quelle: Deutsches Institut für Filmkunde.

In der Zeit-Meldung über den „Auszug aus Cannes“ übt der Verfasser Kritik an der Haltung der Bundesregierung. Er fragt: „Hat es Nazi-KZs gegeben - ja oder nein? Was hätte also das demokratische Deutschland Grund, gegen einen KZ-Film zu protestieren?“353 Und noch ein weiteres Argument scheint den Kritikern der Hamburger Wochenzeitung wichtig:

„Hat sich der Frevler [Adolf Hitler ist gemeint] nicht an der eigenen Nation genauso versündigt wie später an anderen Völkern?“354 In eine ähnliche Richtung zielt der Hinweis, daß „... die meisten Opfer der Konzentrationslager doch Deutsche waren.“ Angeblich argumentierten

„die Franzosen“ und andere Ausländer so. Zitiert wird in der Welt Jean Cayrol.355 Andere deutsche Kritiker greifen dieses „Argument“ gern auf.

So im Spiegel und in der Zeit, wo gefragt wird: „Schmachteten nicht in den Konzentrationslagern Hitlers auch Zehntausende Deutsche? Waren es nicht bis zum Ausbruch des Krieges, also mehr als sechs Jahre, fast ausschließlich Deutsche, deren sich der Diktator auf diese Weise entle-digte?“356

In Beiträgen, die dem Film positiv gegenüberstehen, sagen die Kritiker unmißverständlich: „Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns auch heute noch mit der Nazizeit und ihren sicher noch lange spürbaren Aus-wirkungen beschäftigen.“357 Für antideutsch halten sie den Film nicht, manche weisen darauf hin, daß Worte wie „deutsch“ oder „Deutschland“

im Kommentar fehlen. Nacht und Nebel sei gerade nicht tendenziös, sondern warne vor der Wiederholbarkeit des Schreckens und der Auffas-sung, „... daß alles nur von einer Zeit und von einem Land sei“358. Viele betonen, daß sich die Autoren des Films schließlich auf authentisches Material stützen. Was in den KZ geschehen ist, sei wahr, deshalb müsse man es zeigen – und als Deutsche nicht versuchen, diesen schrecklichen Wahrheiten aus dem Weg zu gehen. In den positiven Kritiken fordern die Schreiber, den Film zugänglich zu machen, auf daß möglichst viele ihn sehen. Auch und gerade junge Leute. Das beurteilen diejenigen, die dem Film negativ gegenüberstehen, anders.

353 „Auszug aus Cannes“. In: Die Zeit, Nr. 18, vom 3.5.1955, S. 2.

354 Nacht und Nebel. In: Die Zeit, Nr. 16 vom 19.4.1956, S. 11.

355 Vgl. D.W.: Cannes. In: Die Welt vom 30.4.1956, S. 4; Korn, Karl: Nacht und Nebel.

Etwas über Filmdiplomatie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.4.1956, S. 6;

Filmdiplomatie, II. Akt. Der deutsche Film Himmel ohne Sterne in Cannes vom Pro-gramm abgesetzt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.4.1956, S. 10.

356 R.S.: Nacht und Nebel. In: Die Zeit vom 19.4.1956, S. 11.

357 -ry-: Rückblick ins Grauen. Der KZ-Film Nacht und Nebel läuft heute und Sonntag in Aachen. In: Münchner Merkur vom 30.3.1957. Quelle: Deutsches Institut für Film-kunde.

358 Vgl. Film-Kommentar.

Ein weiteres Argument für die Aufführung des Films lautet, daß die Bundesrepublik als demokratischer Staat mit dem „Dritten Reich“ nichts zu tun habe: „Der Einspruch [der Bundesregierung gegen den Film] war damals unverständlich, weil die darin gezeigten Grausamkeiten aus den Schreckenslagern des Hitler-Regimes ein System anklagen, das im freien Deutschland überwunden worden ist – während es in den anderen Län-dern gerade in den letzten Tagen durch Massenverschleppungen, durch Einpferchung und brutale Liquidierung von Menschen eine furchtbare Aktualität erhalten hat.“359 Gemeint ist die Niederschlagung des Volks-aufstandes in Ungarn im Jahr 1956. Obwohl der Autor diesen Hinweis auf gegenwärtigen Terror zu Recht gibt, lenkt er doch von der Schuld der Deutschen ab. Selbstsicher geht er davon aus, daß das, was früher war, heute „überwunden“ ist.

Ludwig Thomé kritisiert in der Frankfurter Rundschau tatsächlich die Machart des Films. Nachdem er erklärt hat, welches Material Resnais verwendet hat, behauptet er: „Es ist daraus – dies sei rein filmkritisch vermerkt – nicht das Werk entstanden, das man von dem Künstler (nach Auch Statuen sterben, vor allem aber nach dem großartigen Guernica) erwartet hatte.“360 Bei Nacht und Nebel, so Thomé, „... steht der Publi-zist Resnais vor dem künstlerischen Gestalter Resnais, verstellt der erste dem letzten sogar den Weg.“ Die Begründung der Ansicht aber, daß Nacht und Nebel „nicht filmisch bewältigt“ wirkt, ist schwer nachvoll-ziehbar. Der Kritiker gibt keine Beispiele, wo Resnais das Niveau frühe-rer Filme nicht erreicht. Außerdem mißfällt ihm, daß dieser „doch wohl wegen seines Sujets“ mit Preisen bedachte Film „mehr dem Gestern als dem Morgen verhaftet“ sei und auf „Schockwirkung“ setze.361

Thomé ist dennoch der Meinung, daß der Film „... in jedes deutsche Kino, tunlichst auch in jede deutsche Schule gehört.“ Nachvollziehbar findet er allerdings die Auffassung, daß ein Festival wie das in Cannes nicht den richtigen Rahmen für einen Film wie Nacht und Nebel bietet.

Dieses Argument war für die Bundesregierung weniger wichtig als das des verletzten Nationalgefühls, was Thomé wiederum „töricht“ findet.

Denn: „Dieser Film kann ... das deutsche Nationalgefühl nicht verletzen.

Lediglich SS-Schergen werden darin gezeigt, und mit ihnen identifiziert sich ein Deutscher nicht.“362 Diese Unterscheidung des FR-Kritikers zwischen „SS-Schergen“ einerseits und „Deutschen“ andererseits ist

359 W.F.: Film als Dokument. In: Der Tag vom 18.11.1956, S. 5.

360 Thomé, Ludwig: Nacht und Nebel. Was sagt der umstrittene Dokumentarfilm wirklich aus? In: Frankfurter Rundschau vom 2.6.1956, S. 35 und ders.: Lebt das „Lagerunge-heuer“ noch? In: Der Mittag vom 12.6.1956. Quelle: Deutsches Institut für Filmkunde.

361 Vgl. ebenda.

362 Ebenda.

ebenfalls ziemlich töricht. Jedoch weit verbreitet. Auch der Kritiker der Deutschen Woche ist sich im Gegensatz zur Bundesregierung sicher, daß andere Völker zu unterscheiden vermögen „zwischen den Deutschen und den deutschen Henkern“.363

Eine Kritik, die völlig aus dem Rahmen fällt, erscheint in der Deutschen Soldatenzeitung. Zunächst zeigt sich der Rezensent Lothar Groll noch damit einverstanden, diesen Film auf Einladung der Bayerischen Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise, der Gesellschaft für Christ-lich-Jüdische Zusammenarbeit und dem Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgten-Organisationen gesehen zu haben.

Er stellt fest: „Der Realistik dieser grausigen Schau vermag sich nie-mand zu entziehen, der sich ein Herz und ein Gefühl bewahrt hat.“364 Dem aber folgen Statements, die in ihrer Verquastheit und Fehlerhaftig-keit das ganze Dilemma eines Menschen aufzeigen, der mit Tatsachen konfrontiert wird, die sein Weltbild erschüttern. Ein Beispiel: „Der Be-richterstatter steht nicht an [sic!], es als Schande zu empfinden, daß sich Söhne deutscher Mütter der Organisation des gemeinen Massenmords widmen und sich in so unfaßlicher Weise zu Folterknechten an Frauen und Kindern erniedrigen konnten. Es war zwar nur wenigen vorbehalten, dem deutschen Volk diese Schande zu bereiten. An dieser Stelle muß aber um der Wahrheit willen auch festgehalten werden, daß die bis heute zu Unrecht mit den Vorgängen in den KZs identifizierte und verleum-dete Waffen-SS nichts mit diesen traurigen Geschehnissen zu tun hatte.“365 Er beruft sich bei dieser Lüge sogar noch auf den Film Nacht und Nebel und schließt Folgendes fettgedruckt an: „Das Filmdokument Nacht und Nebel konnte keinen Mann der Waffen-SS im Zusammenhang mit den KZs zeigen und demonstrierte dadurch deutlich die historische Wahrheit. Der deutsche Soldat des letzten Krieges, ob er nun in den Verbänden des Heeres, der Waffen-SS, der Luftwaffe, der Kriegsmarine oder anderswo für den Bestand und für die Ehre seines Vaterlandes oft bis zur Selbstaufopferung seine Pflicht erfüllte, hat mit den Akteuren unentschuldbarer Exzesse nichts gemein.“366 Derart lautet die Argu-mentation zur Reinwaschung der Wehrmacht bis in die neunziger Jahre, bis durch die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Verbrechen der Wehrmacht deutlich wird, in welchem Maße sie am Tod Tausender Zivilisten beteiligt gewesen ist. In der publizistischen

363 E.S.: Nacht und Nebel. In: Deutsche Woche (München) vom 3.4.1957. Quelle: Deut-sches Institut für Filmkunde.

364 Groll, Lothar: Die Deutsche Soldatenzeitung sah: Nacht und Nebel. In: Deutsche

364 Groll, Lothar: Die Deutsche Soldatenzeitung sah: Nacht und Nebel. In: Deutsche