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Filmgattungen: synthetischer und dokumentarischer Film Als Teil der Filmtheorie entwickelte sich von Anfang an - seit Lumière

und Méliès und ihrem entgegengesetzten Verständnis von Film - eine Theorie des Dokumentarfilms. Von John Grierson, Robert Flaherty, Dziga Vertov bis hin zu zeitgenössischen Theoretikern wie Eberhard Fechner, Klaus Wildenhahn, Chris Marker, Bill Nichols, Peter Krieg u.a.

lassen sich unterschiedliche Definitionen des Dokumentarischen und verschiedene politische Besetzungen des Begriffs nachweisen.

Dem Laien bereitet die Definition von Dokumentarfilm zunächst wenig Schwierigkeiten. Dokumentarfilme sind wahr, objektiv, anspruchsvoll, spiegeln die Realität wieder. Was dort gezeigt wird, hat sich so ereignet.

Die Bilder sprechen für sich. Im Gegensatz dazu steht der fiktionale Spielfilm. Verkürzt lassen sich die Unterschiede folgendermaßen gegen-überstellen:

82 Buchka, Peter: Der anständige Mörder. Gibt es eine humane Ästhetik der Gewalt?

Überlegungen zu Romuald Karmakars „Der Totmacher“ mit Götz George. In: Süddeut-sche Zeitung vom 22.11.1995, S. 13.

Tabelle 1: Vermeintlicher Gegensatz von Dokument und Fiktion

Fiktion Dokument

spielerisch sachlich

ästhetisierend Darstellend

lyrisch realistisch

subjektiv objektiv

nachgestellt was wirklich war

kommentierend dokumentierend

an Gefühle appellierend an den Verstand appellierend verschleiernd aufklärerisch

Menschen, Einzelfälle das Ganze, das System Musik, Schnitt, Montage,

Sprache das Bild

parteiisch parteiisch?

Die in diese Untersuchung aufgenommenen Filme könnten dementspre-chend in zwei Gruppen eingeteilt werden, in „Spielfilme“ und „Doku-mentarfilme“.

Tabelle 2: Einteilung der untersuchten Filme

Spielfilme Dokumentarfilme

Morituri

(Deutschland 1948)

Nacht und Nebel (Frankreich 1955) Nackt unter Wölfen

(DDR 1963)

Mein Kampf (Schweden 1960) Ein Tag

(Bundesrepublik 1965)

Der Prozeß

(Bundesrepublik 1984) Holocaust

(USA 1978)

Shoah

(Frankreich 1985) Schindlers Liste

(USA 1993)

Im folgenden jedoch wird diese Unterscheidung ausgehend von den Überlegungen Peter Kriegs u.a.83 in Frage gestellt. Der allgemein empfundene Gegensatz von Spielfilm und Dokumentarfilm basiert auf den frühen Dokumentarfilmtheorien. So gehört der Spielfilm für Dziga Vertov zur alten, vorrevolutionären Welt, ideologisch und ästhetisch gebunden an bourgeoise Traditionen der Schauspielerei und des Thea-ters. John Grierson sieht im Dokumentarfilm ein realistisches Genre, das gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen hat: Öffentlichkeit herstellen, informieren und bilden. Dokumentarfilme zu machen, ist für ihn ein kreativer Umgang mit dem Tatsächlichen („creative treatment of the ac-tuality“).

Das Spezifische das Dokumentarfilms sei – so die Anhänger einer klaren Unterscheidung von Dokument und Fiktion - sein besonderer Realitäts-bezug. Auf unterschiedlichen Ebenen werde der Gegensatz Doku-ment/Fiktion deutlich: auf der institutionellen Ebene unterscheide sich

83 Vgl. Krieg, Peter: Wysiwyg oder das Ende der Wahrheit. Dokumentarfilm in der Post-moderne. In: Bilderwelten Weltbilder. Dokumentarfilm und Fernsehen. Hrsg. von Heinz-B. Heller und Peter Zimmermann. Marburg, 1990, S. 88-98. Krieg, Peter: Was beweist ein Beweis? Zum Realitätsbegriff von Dokumentaristen. In: EDJ-Bulletin. H.

3/4/1990, S. 88-89.

der Dokumentarfilm dadurch vom Spielfilm, daß er kostengünstiger pro-duziert werden könne und über andere Vertriebswege eine meist klei-nere, etwa an Bildungseinrichtungen gebundene Öffentlichkeit erreiche.

Auf der sozialen Ebene unterscheide sich der Dokumentarfilm durch den Anspruch aufzuklären, Wissen zu vermitteln und gesellschaftliches Bewußtsein zu wecken. Unterhalten wolle er erst in zweiter Linie. Auf der Ebene des Produkts unterscheide sich der Dokumentarfilm vom Spielfilm dadurch, daß er abhängig sei von den realen Ereignissen und ihrer Chronologie. Sie bestimmten die Organisation des Materials. Der Spielfilm sei dagegen ungebundener in der Gestaltung des Plots, kann Raum und Zeit überwinden.

Für Klaus Wildenhahn ist in marxistischer Tradition der Widerspruch von Arbeit und Kapital entscheidend. Als sozial verantwortliches Genre stehe der Dokumentarfilm im Gegensatz zum profitorientierten Spiel-film. Produktion, Intention und Rezeption seien anders. Der Dokumen-tarfilm ziele unabhängig von seinem konkreten Gegenstand auf die Befreiung der Arbeit von der Herrschaft des Kapitals. Der Spielfilm da-gegen sei Industrie, nicht Handwerk wie der Dokumentarfilm, und ziele auf die Konsolidierung des Kapitals. Politisch sei der Spielfilm Mittel der Herrschenden, der Dokumentarfilm hingegen vertrete die Anliegen der Beherrschten. Sozial diene der Spielfilm der Legendenbildung, der Dokumentarfilm gesellschaftlicher Information und Diskussion. Der Spielfilm präsentiere Lösungen, der Dokumentarfilm hingegen verlange nach außerfilmischen Lösungen. Ästhetisch, im Hinblick auf die Organi-sation des Stoffes, bilde der Spielfilm eine geschlossene Form, der Dokumentarfilm eine offene. Wildenhahn formuliert eine „Ästhetik des Realen“: danach sucht und bestimmt der dokumentarische Inhalt seine Form.

Anhand dieser Zuschreibungen müßte die Bestimmung eines Werkes als dokumentarisch oder fiktional leichtfallen. Sobald jedoch einzelne Werke näher betrachtet und zudem die Aussagen ihrer Macher berück-sichtigt werden, treten Zweifel auf. Als einen „Dokumentarfilm“

bezeichnet beispielsweise Leni Riefenstahl ihren Film Triumph des Willens über den Nürnberger Reichsparteitag von 1934. Als Beleg führt sie an, auf jeglichen Kommentar verzichtet und nur das abgefilmt zu haben, was sich den Kameras geboten hat. Doch die Bilder selbst, die Kameraperspektiven, vor allem aber die Montage, der Rhythmus, die musikalische Untermalung und die Auswahl der Reden zeigen, daß hier nicht einfach eine politische Versammlung im Film festgehalten wurde, sondern daß es der Regisseurin um die möglichst perfekte Inszenierung einer Person, Adolf Hitlers, und die Choreographie der ihm zujubelnden Massen gegangen ist. Andere Beispiele für nationalsozialistische

Bilder-politik und Inszenierungen sind Der ewige Jude oder der Film über Theresienstadt Der Führer schenkt den Juden eine Stadt von 1944. Kurt Gerron, der zwangsverpflichtete jüdische Regisseur des Theresien-stadtfilms, wurde nach dessen Fertigstellung in Auschwitz ermordet.

Dokumentarfilme wurden immer auch zur Propaganda eingesetzt, Vertovs Ein Sechstel der Erde, Riefenstahls Triumph des Willens und Ivens´ Spanish Earth sind Beispiele für die Propagierung unterschied-licher Ideologien mit Hilfe dokumentarischer Bilder. Dennoch ist die Auffassung, daß Aufklärung über den Holocaust mit Hilfe dokumenta-rischer Bilder stattfinden sollte, bei Filmemachern und Zuschauern weit verbreitet. Gerade weil der Holocaust stattgefunden habe, dürfe er nicht fiktionalisiert werden. Das könnte Holocaust-Leugnern in die Hände spielen. Wir sehen einen Unterschied zwischen Bildern, die Menschen zeigen, die gelebt haben, und Bildern von Schauspielern, die diese Men-schen verkörpern. Wir glauben an eine besondere Wirkung des doku-mentarischen Materials; Dokumentaristen beharren auf der historischen Richtigkeit und Authentizität ihres Films und betonen das Basieren auf Fakten. Häufig hält sich der Autor im Hintergrund, um die Illusion der Autonomie und Authentizität des Werkes zu erzeugen. Im Vordergrund stehen die Opfer und Augenzeugen, die überlebt haben. Ihre Autorität kommt dem Werk zugute. Sie sind auf erschütternde Art lebende Beweise für den Massenmord.

Die Zurückhaltung mancher Filmemacher gegenüber der filmischen Fik-tion läßt sich laut Ruth Beckermann damit erklären, daß nach 1945 der

„Schock des Nicht-gewußt-Habens, des Nicht-gesehen-Habens, den Film in seinem Kern, nämlich in seinem Postulat der Sichtbarkeit (getroffen hat).“ 84 Eventuell läßt sich die Zurückhaltung auch damit erklären, daß der Autor den Verdacht fürchtet, Greueltaten wie den Holocaust aus seiner Phantasie entstehen zu lassen und sie somit gewissermaßen neu zu begehen. Andreas Kilb meint, „... nach 1945 ein typisch deutsches Tabu, das Volksaufklärung durch Fiktionen verbietet“ konstatieren zu kön-nen.85 Wolfram Schütte hält ihm empört entgegen, daß „... doch das schiere Gegenteil die Praxis des Goebbelsschen Ministeriums für Volks-aufklärung und Propaganda war“.86 Und auch nach 1945 wurde - wenn überhaupt im westdeutschen Nachkriegsfilm - vor allem in Spielfilmen die unmittelbare Vergangenheit thematisiert. Diese Art der „Volksauf-klärung“, bei der die Deutschen überwiegend als Opfer auftraten, war

84 Beckermann, Ruth: Todeslisten - Lebenslisten. In: IWK-Mitteilungen. 50. Jg., H.

4/1995, (= Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, Wien), S. 8.

85 Vgl. Kilb, Andreas: Des Teufels Saboteur. In: Die Zeit, Nr. 10 vom 4.3.1994, S. 57f.

86 Schütte, Wolfram: Wie Schindler unter deutsche List kam. In: Frankfurter Rundschau vom 30.4.1994, S. ZB3.

erfolgreich, allerdings entsprach sie kaum den historischen Tatsachen.

Deutsche Dokumentarfilme über Krieg, Nationalsozialismus und Holo-caust erreichten in den fünfziger Jahren nur ein kleines Publikum. Das änderte sich erst um 1960, als das Fernsehen zum wichtigsten Produ-zenten und Käufer von Dokumentarfilmen wurde und die neue Technik der leichten Handkameras mit Originalton dem Genre eine vorher un-denkbare Spontaneität ermöglichte.

Die sich daraufhin formierende Bewegung des cinéma direct, die ästhe-tisch eng verbunden ist mit den neo-realisästhe-tischen Bewegungen, dem italienischen Neo-Realismus, dem britischen und US-amerikanischen New Cinema sowie der französischen Nouvelle Vague, forciert die Theoriebildung und versucht Abgrenzungen zwischen „synthetischem“

und „dokumentarischem“ Film.87 Als „synthetischen Film“ bezeichnet Klaus Wildenhahn, seit 1959 beim NDR-Fernsehen, den Spielfilm.

„Synthetisch“ sei aber nicht abschätzig gemeint. „Synthese ist eine Zusammensetzung und Verschmelzung verschiedener, teils gegensätz-licher Teilstücke zu einem weiterentwickelten Produkt. Das synthetische Produkt muß aber einen hochentwickelten, vorgeschalteten Arbeitspro-zeß zur Voraussetzung haben (die dokumentarische Produktionsweise nämlich), um überhaupt zu seiner spezifischen Wirkung kommen zu können.“88 Diese Definition läßt erkennen, daß eine klare Trennung – hier Fiktion, da Dokument – nicht mehr besteht. Wilhelm Roth folgert aus Wildenhahns Definition, daß die Geschichte des Dokumentarfilms zum größten Teil eine Geschichte des synthetischen Films ist, „... man denke an Dsiga Wertow, an Ivens‘ Spanish Earth, zu dem Hemingway den Text schrieb, an viele Arbeiten der englischen Dokumentarfilm-schule, den zwischen Feuilleton und Essay angesiedelten Filmen von Chris Marker und an fast alles, was heute im Fernsehen als ‚Dokumen-tarfilm’ läuft.“89 Die sogenannten Dokumentarfilme basierten zwar auf dokumentarischem Material, sie ordneten die Bilder aber ihrem Autoren-standpunkt unter, der sich vor allem in einem Kommentar ausdrücke.

Bilder entfalteten dabei nur selten ihre eigene Realität, sie dienten als Beleg für Thesen.90

87 Vgl. Wildenhahn, Klaus: Über synthetischen und dokumentarischen Film. Zwölf Lese-stunden. Hrsg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert. Erw. Neuaufl. Berlin (West), 1973.

88 Wildenhahn, Klaus: Über synthetischen und dokumentarischen Film. A.a.O., S. 2f.

89 Roth, Wilhelm: Essay und Chronik. Zu einigen Tendenzen des neueren Dokumentar-films. In: Jahrbuch Film 77/78. Berichte, Kritiken, Daten. Hrsg. von Hans Günther Pflaum. München, Wien, 1977, S. 31.

90 Vgl. ebenda.

So versuchen sowohl der Spielfilm als auch der Dokumentarfilm, eine bestimmte Sicht der Dinge den Zuschauern nahezulegen. Bilder, die immer mehr oder weniger arrangiert sind und immer einen Ausschnitt der Wirklichkeit darstellen, dienen der Illustration einer Aussage. Der Filmemacher geht subjektiv vor. Er nimmt zwar seinen Stoff aus der Wirklichkeit, reproduziert aber nicht die äußere Wirklichkeit, sondern stellt durch die von ihm geschaffenen neuen Bezüge eine neue Wirklich-keit her.

Den Filmemachern ist das bewußt. Jerzy Bossak beschreibt die An-sprüche des Dokumentarfilmers an sein Werk einerseits und die Erwar-tungen der Zuschauer an den Dokumentarfilm andererseits als Dilemma:

„Den Dokumentaristen verpflichtet dem Kinozuschauer gegenüber ein ungeschriebener, manchmal vom Zuschauer nur mit halbem Bewußtsein geahnter Vertrag, welcher lautet: der Dokumentarfilm zeigt ausschließ-lich authentische und belauschte Fakten, vom Autor ausgewählt, zusammengestellt und kommentiert. Deshalb muß der Zuschauer, wenn er sieht, wie der Held schläft, wie er sich an etwas heranschleicht, wie er im Gefühl völliger Einsamkeit handelt, sich die Frage stellen: wo war damals die Filmkamera? Wo ist der Kameramann? Er muß doch dabei-gewesen sein, also ist das, was ich hier sehe, nicht das auf frischer Tat ertappte Leben. Es ist ein Film, vor der Kamera gespielt, also ein viel-leicht realistisches, nichtsdestoweniger was die Authentie anbelangt, verdächtiges Spektakel ... .“91

Wildenhahn zitiert Bossak in seinem Buch Über synthetischen und do-kumentarischen Film ausführlich und gelangt trotz aller Abgrenzungs-versuche zwischen Dokument und Fiktion zu dem Schluß: „Man muß sich endlich zu dem Bekenntnis aufraffen, das bei so manchen Beken-nern des Dokumentarfilms vielleicht sogar Empörung hervorrufen könnte. Ich bin zwar überzeugt, daß, obwohl die Mehrzahl der Spielfilme mit dem wahren Leben nicht viel gemein hat, die Minderheit, aber eine ziemlich beträchtliche Minderheit, eben jene Wahrheit in sich birgt, nach welcher die Pioniere der Dokuments in ihren Manifesten verlangen. Und weiter: der Spielfilm, der vor allem unter dem Einfluß des Dokumentar-films gelernt hat, ebenso klar zu sehen wie zu erzählen, ist in vielen Fällen eine reichere, vollere Widerspiegelung der Wirklichkeit ... als der Dokumentarfilm in reiner Form ... . In Wirklichkeit besitzt der Doku-mentarfilm kein Monopol auf realistische und getreue Interpretationen des realen Lebens ... .“92 Wildenhahn ist gegen das Anhäufen von

91 Bossak, Jerzy, zit. nach Wildenhahn, Klaus: Über synthetischen und dokumentarischen Film. A.a.O., S. 93.

92 A.a.O., S. 91.

ten, er will eine Geschichte, in der die Fakten in eine lebendige, orga-nische Beziehung zueinander gesetzt werden. Eine Unterscheidung ist Wildenhahn indes wichtig: „Filme mit dokumentarischer Tendenz kommen von den Betroffenen, von der Basis her und laufen auf eine Per-spektive zu. Filme mit synthetischer Tendenz kommen von der Vorstel-lung einer realisierbaren Perspektive her und laufen zur Basis zurück.“93 Unter Filmemachern und Filmwissenschaftlern gilt also die Unterschei-dung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm als überholt, und so fordern beispielsweise Wolfgang Becker und Norbert Schöll, das offen auszu-sprechen: „Kritik, die stets so viel Skepsis gegenüber der ‚Objektivität‘

des Dokumentarfilms formuliert (hat), leistet nie den letzten konsequen-ten Schritt. Die falsche Vorstellung der (wenn auch vielleicht nur als tendenziell und/oder idealtypisch formulierten) Gegensätzlichkeit und des notwendig unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Bewirkens von dokumentarischem und fiktivem Filmmaterial aufzugeben. Beide Mate-rialien, dokumentarisches wie fiktives, filmen Wirklichkeit - Vorgänge, Gegenstände, Personen - ab, beide sind aber ‚Fiktionen‘: organisierte, strukturierte Zusammenstellung. Jede filmische Aufnahme ist eine in-szenierte Aufnahme von Wirklichkeit, der sichtbaren und akustisch wahrnehmbaren Wirklichkeit. Es besteht kein absoluter Unterschied des Materials; es gibt keine brauchbaren Unterscheidungsmerkmale hin-sichtlich etwa der ‚Authentizität‘. Die durchaus vorhandenen Unter-schiede in der filmischen Komposition und Aufnahmetechnik verweisen auf verschiedene Zusammenstellungen und Inszenierungen des Darge-stellten, auf verschiedene Stile (des dokumentarischen und des fiktio-nalen Stils) ... .“94

Eva Hohenberger unterscheidet in ihrem historischen Überblick über die Entwicklung einer Dokumentarfilmtheorie drei Phasen, die nicht aufein-ander gefolgt sind, sondern sich zeitlich überschneiden. Frühe Doku-mentarfilmtheorien wie sie Dziga Vertov, John Grierson, Paul Rotha und Joris Ivens vertraten, bezeichnet sie als „normative Theorien“, da mit ihnen zumeist ein ästhetisches und gesellschaftspolitisches Programm verbunden war. „Reflexive Theorien“ setzen wie die normativen den Dokumentarfilm als eigenständige Gattung voraus und erklären seinen spezifischen Wirklichkeitsbezug in Differenz zum Spielfilm mit seiner Produktionsweise, zugewiesenen Aufgabe und Rezeption. Anhänger

„dekonstruktiver Theorien“ benutzen die Gattungsbezeichnung Doku-mentarfilm lediglich, um dieselbe sofort in Frage zu stellen. Die

93 A.a.O., S. 193.

94 Becker, Wolfgang/Schöll, Norbert: In jenen Tagen. Wie der deutsche Film die Ver-gangenheit bewältigte. Opladen, 1995, S. 167f.

Gemeinsamkeiten zwischen fiktionalen und dokumentarischen Filmen erscheinen ihnen größer als die Unterschiede, was eine begriffliche Trennung überflüssig macht. Beeinflußt durch die Arbeiten von Christian Metz zum Film als Sprache und der Entwicklung der Film-semiotik begreifen sie die Formen zunächst als Ansammlung von Zei-chen, als „Texte“ im weitesten Sinne.95

Befördert wurde dieser Prozeß der Dekonstruktion bemerkenswerter-weise durch das europäische cinéma direct. Dem Durchbruch der 16mm-Technik und des Synchrontons, der Erfindung der kleineren und damit beweglicheren Kameras folgte eine besonders produktive Phase des Dokumentarfilms. Doch verführten die technischen Neuerungen zu der Annahme, daß nun unverfälschte Realitätsabbildung möglich sei, der Dokumentarfilm die Realitätserfahrung der Zuschauer ersetzen könne.

Diese Annahme beruht jedoch auf einem recht einfältigen Realitäts-begriff und fordert daher um so mehr diejenigen heraus, die wissen, daß reale Ereignisse zwangsläufig durch jede gestaltende Darstellung fiktio-nalisiert werden und die mit Brecht gelernt haben, „daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt.

Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über die Institute.“96

So behauptet der Dokumentarfilm, Realität zu zeigen, wo er selbst sie als sinnvolle doch erst konstruiert. Gerade der „realistische“ Film lädt ein, die Realität Film zu vergessen. Nicht die Filme sind „realistisch“, die angeblich Realität zeigen, sondern diejenigen, die zu erkennen geben, daß es um Film, nicht um Realität geht. Ziel sowohl des bürgerlichen als auch des sozialistischen Realismus war, die Konstruiertheit eines Textes zu verschleiern. Eine „Rhetorik des Faktischen“ wurde angewandt, um beim Leser die Illusion zu erzeugen, daß die Geschichte so stattgefunden hat. Wahrheit läßt sich jedoch nicht vollständig rekonstruieren. Das Addieren von Fakten ergibt in der Summe nicht die Wahrheit des Ganzen. Wirkung stellt sich nicht durch pedantische Nähe zum Original ein. Glaubwürdigkeit und Betroffenheit sind im Kunstwerk nur mittels Ästhetik zu erreichen. Je genauer die historische Szene nachgestellt, Dokumente benutzt und Dialoge imitiert werden, desto subtiler und

„gelungener“ ist die Täuschung des Zuschauers. Wo die Grenze zwischen Faktum und Fiktion verläuft, ist nicht ohne weiteres zu

95 Vgl. Hohenberger, Eva: Dokumentarfilmtheorie. Ein historischer Überblick über An-sätze und Probleme. In: Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentar-films. Hrsg. von Eva Hohenberger. Berlin, 1998, (= Texte zum Dokumentarfilm 3, hrsg. vom Europäischen Dokumentarfilm Institut), S. 29f.

96 Brecht, Bertolt: Der Film braucht die Kunst. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 18.

Frankfurt/M., 1968, S. 161f.

stimmen. Fiktionales hilft, die Leerstellen in der Geschichte auszufüllen.

Denn nicht für alles gibt es Belege. Geschichte besteht aus Geschichten, diese wiederum aus Ergänztem, Erfundenem, Verschwiegenem.

Geschichte als Rekonstruktion ist somit immer nahe der Fiktion. Rein-hart Kosellek stellt klar: „Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen. Damit wird ein geschichtliches Ereignis aber nicht beliebig oder willkürlich setzbar. Denn die Quellenkontrolle schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schließt sie aus, was gesagt werden darf.“97

I.5.3. Neuere Ansätze in der Filmwissenschaft: Konstruktivismus