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Nekropolen als Objekte der Identitätsanalyse

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II.2 Entwurf einer archäologischen Identitätsforschung

II.2.2 Nekropolen als Objekte der Identitätsanalyse

ge-schlossene Befunde, die in einer sozialen Handlung von den Lebenden für die Toten kreiert wurden160. Es handelt sich also um Reste von Ritualen, bei denen individuelle Strategien zugunsten einer mehr oder weniger an der kollektiven Norm orientierten Form zurückgestellt werden. Die Gräber geben damit direktes Zeugnis von gesellschaftlichen Vorstellungen und Handlungen. Was sie als gesellschaftlich von den Hinter-bliebenen konstruierte Kontexte eher nicht (zumindest nicht unmittelbar) wiedergeben, ist die Persönlichkeit des Verstor-benen als Individuum161. Gräber sind verhandelte Kontex-te, die von unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst werden:

Religion und Jenseitsvorstellungen, Anschauungen betreffs Geschlecht, Alter und Status des Verstorbenen im Diesseits und Hoffnungen auf Veränderung dieser Gegebenheiten im Jenseits, ebenso wie Reflexionen aktueller wirtschaftlicher und sozialer Zwänge oder Möglichkeiten. Bestattungen wir-ken nicht rein reflexiv, sondern zugleich auch affirmativ und sinnstiftend. Insbesondere in soziopolitisch instabilen Phasen können sie auch genutzt werden, Ambitionen zu formulieren, beispielsweise durch gesteigerte Repräsentation162. Die

archäo-160 Hofmann 2008, 362; Hofmann 2012, 16. In den letzten Jahren hat sich Kerstin Hofmann intensiv mit dem Tod, seiner gesellschaft-lichen Verarbeitung und Bestattungsbräuchen, auch als Arena der Formulierung von Identitäten befasst; Hofmann 2008, 2009, 2012 und 2013.

161 Diese kann höchstens als Reflexion in den Bestattungskontext ein-fließen, indem dieser Elemente der Vorstellungen der Person des Verstorbenen von der ihn bestattenden Gruppe (die den Ritus auch, aber nicht nur, zur Bewältigung des einschneidenden Todeserleb-nisses nutzt) spiegelt. Härkes Lösungsvorschlag ist, Dinge nach funktionalem (d. h. nicht bewusst gewähltem, sondern dem Ob-jekt inhärentem) oder intentionalem (d. h. bewusst ausgewähltem) Charakter zu unterscheiden – allerdings gesteht auch er ein, dass dies oft nicht möglich ist und einzelne Objekte auch Elemente von beidem vereinigen können; Härke 1993, Härke 1997, 24–25.

162 Nach Brather 2007, 125 ist in unruhigen Zeiten oder Zeiten sozia-ler Umwälzungen der Repräsentationsdrang auch am Grab stärker als zu stabilen, friedlichen Zeiten; zum Grabkult als Arena für den Wettstreit zwischen unterschiedlichen Gruppeninteressen s. auch

Körperschmucks (Tätowierungen, Kosmetik etc.) besonders eng mit dem Ausdruck und der Vertiefung von Identität ver-bunden sind174. Allerdings ist archäologisch die Rekonstruk-tion einer Trachtsitte schwierig, da im Regelfall nur wenige Elemente von Kleidung überdauern – meist sind es nur die Gewandschließen, die in diesem Zusammenhang in Anzahl, Stil und Position ausgewertet werden können. Dazu kommt, dass sich auch damit nur eine Grabtracht rekonstruieren lässt, die nicht notwendigerweise mit der tatsächlichen Gebrauch-stracht identisch sein muss. Ob eine dieser beiden Trachtsit-ten aber eine Identität ethnischer Prägung ausdrücken sollte, bleibt ungewiss175.

Für die Formulierung geschlechtlicher Zugehörigkeit wur-de ebenfalls oft die Kleidung herangezogen, die als eines ih-rer wichtigsten visuellen Zeichen gilt. Die Annahme ist, dass meist das (biologische) Geschlecht das Grundkriterium für eine unterschiedliche Kleiderwahl war176. Studien haben ge-zeigt, dass im prä- und protohistorischen Italien Fibelformen als Geschlechtsindikatoren dienen können, dies aber nicht über weitere Gebiete verallgemeinert werden darf177. Generell ist die Klassifikation von Gräbern aufgrund einzelner Elemen-te des BeigabenmaElemen-terials in ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ sehr schwer. Auch funktionale Zuweisungen anhand von Beiga-ben wie Waffen (männlich) oder Textilverarbeitungsutensilien (weiblich) sind in erster Linie Übertragungen von geschlechts-typischen Stereotypen aus historischer europäischer Traditi-on178. Ob diese auch in der untersuchten Gemeinschaft Gül-tigkeit besaßen, verlangt nach einer kritischen Prüfung, etwa anhand von dem Untersuchungsgebiet räumlich und zeitlich nahestehenden schriftlichen oder bildlichen Zeugnissen. In anderen Fällen kann nur die anthropologische Bestimmung – falls möglich – vor vorgefertigten, klischeebehafteten und potenziell falschen Deutungen schützen.

174 Dietler 1999, 492–493.

175 O’Shea 1984 hat an nordamerikanisch-indianischen Nekropolen gezeigt, dass deren Befunde nicht gut für die Erforschung von Stammesverwandtschaften nutzbar sind.

176 Brøns 2012, 45.

177 Vgl. die Studie von Brøns 2012, 46–49: In einigen Nekropolen kommen fibule serpeggiante bevorzugt in Männergräbern vor, wäh-rend fibule ad arco und fibule a sanguisuga überwiegend mit weib-lichen Verstorbenen vergesellschaftet sind. Diese Unterteilung ist aber nicht konsequent, insbesondere regional kommt es zu großen Variationen (gerade bei fibule serpeggiante ist nie eine klare Ge-schlechtsunterscheidung feststellbar, das Verhältnis liegt maximal bei 80 zu 20 für männliche Gräber).

178 Hier sei auf die kürzlich von Hofmann 2009, 144–148 erläuterte, wichtige Unterscheidung zwischen „geschlechtsspezifischen“ und

„geschlechtstypischen“ Objekten hingewiesen: Spezifisch sind nur Objekte, die sich aus der Eigenart des biologischen Geschlechts er-geben (solche Objekte sind sehr selten, z. B. Scheidenpessare oder Penisköcher), während geschlechtstypische Beigaben solche sind, die einem „biologischen und/oder kulturellen Geschlecht häufiger oder intensiver anzutreffen sind oder einem Geschlecht eher zuge-schrieben werden“; diese sind rein kulturell bedingt und könnten sehr leicht von modernen Auffassungen bestimmt werden, z. B. im Falle von Textilverarbeitungswerkzeugen für biologisch weibliche und Waffen für biologisch männliche Individuen.

moderne Nekropolenforschung um detaillierteren Erkennt-nisgewinn zur antiken Sozialstruktur. Die Erkenntnis der Grabrituale als aktive und dynamische Kontexte führten zum Versuch der Identifizierung von Repräsentationsstrategien mit ihren zahlreichen Sinnebenen, ihren semantischen Gegensät-zen oder Zweideutigkeiten. Die aktive Rolle des Rituals und seiner materiellen Performanz wird anerkannt – Totenbrauch wird damit als integraler Teil soziopolitischer, kultureller und religiöser Repräsentation gesehen und seine Rolle bei der Kon-struktion der ideellen Vorstellungen der Gemeinschaft der Le-benden gewürdigt168. Zusätzlich wird die Untersuchung von Identitäten anhand von Grabkontexten dadurch erschwert, dass die Formulierung von mehreren, unterschiedlichen Grup-penzugehörigkeiten Einfluss in das Grabritual finden kann169. Daniel Graepler stellte in seiner Untersuchung zu den Gräbern von Tarent fest, dass fast alle im Grabritual verwendeten Ob-jekte und Bildzeichen als Reflexe außerfunerärer Realitäten er-kannt werden können, die für die soziale Rollendefinition prä-gend sind. Diese Rollenbilder schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern können sich überlappen170. Dies verkompliziert die Analyse und fordert genaue analytische Zuschreibungen171.

Typische und in der Vergangenheit immer wieder anhand von Grabbefunden thematisierte Identitäten sind ethnisch-kulturelle und gesellschaftliche, primär bezogen auf soziale Stratifizierung. Auch geschlechtliche Zugehörigkeit spielt eine wichtige Rolle, musste aber in der Vergangenheit oft allein aufgrund der Zusammensetzung der Grabbeigaben erschlos-sen werden. Unterstützende bzw. korrektive anthropologische Untersuchungen unterblieben häufig. Solche Untersuchungen sind umso wünschenswerter, da gerade das Alter als bestim-mender Faktor bei der Bildung und Veränderung individueller wie auch sozialer Identität eine wichtige Rolle spielt.

Die Vorgehensweisen, Aussagemöglichkeiten und Ergeb-nisse der traditionellen Gräberforschung auf diesen Identitäts-feldern sind in jüngerer Zeit kritisch hinterfragt und teilwei-se widerlegt worden. So zeigt Sebastian Brather anhand von einigen Beispielen aus dem Frühmittelalter die Grenzen eth-nischer Identitätszuschreibungen auf: Wenn die Beigabenen-sembles kulturell gemischt sind, muss unklar bleiben, welches Merkmal ausschlaggebend für eine ethnische Identitätszuwei-sung sein kann172. Meist werden bei solchen Untersuchungen Trachtbestandteile, ihre Kombination und/oder die Zusam-mensetzung des keramischen Beigabensets als Indikatoren für die gesuchte Identität gewertet173. Zwar hat die ethnographi-sche Forschung gezeigt, dass Kleidung und andere Formen des

168 Cuozzo 2007, 224.

169 Nicht zuletzt deshalb sind einfache, fast intuitive Thesen zum Grab-brauch nicht nützlich; anthropologisch-ethnologische Beispiele zei-gen, dass im Grabbrauch auch immer Tradition und Codes eine große, wichtige Rolle spielten; vgl. Graepler 1997, 152–153.

170 Graepler 1997, 177–178.

171 Brather 2010, 27–28.

172 Brather 2007, 127–128. Vgl. allerdings die im Vorangehenden ge-äußerten Überlegungen zur generellen Problematik bezüglich eth-nischer Identität.

173 Zu Kleidung als Indikator von Identität s. auch Rothe 2009.

Bei der Geschlechtszuschreibung aufgrund von Beigaben in der Analyse der Gräber von Pontecagnano zeigt sich aber auch, dass manche dieser Zuweisungen sich nicht mit denen der anthropologischen Bestimmung des Geschlechts decken – und das sogar bei Fällen, in denen sie aufgrund relativ ein-deutiger Merkmale wie der Beckenform erfolgte. Dies eröff-net unterschiedliche Möglichkeiten der Erklärung: Erstens könnte die anthropologische Bestimmung falsch sein, denn es gibt immer auch untypische Individuen. Zweitens könnte die Beigabenbestimmung unkorrekt sein, was aber aufgrund von überwiegenden Übereinstimmungen unwahrscheinlich wäre.

Die dritte Möglichkeit bedingt ein Abweichen von gängigen Geschlechtermodellen, denn sie stellt die Übereinstimmung von biologischem und sozialem Geschlecht in Frage und im-pliziert, dass die eisenzeitlichen Vorstellungen von geschlecht-licher Identität nicht regelhaft den heutigen entsprachen. Eth-nologisch betrachtet wäre das kein außergewöhnlicher Fall, denn third oder gar fourth genders sind in vielen Gesellschaften belegt183.

Wie lassen sich solche Identitätskategorien aber im archäo-logischen Befund identifizieren? Im Sinne einer sozialen Kons-truktion der Bestattung ist anzunehmen, dass unterschiedliche Strategien zur Anwendung kommen könnten: Wenn abwei-chender gender individueller Art ist, ist es wahrscheinlich, dass die bestattende Gruppe dazu tendiert, dieses nonkonforme Verhalten zu kaschieren (und damit archäologisch unsichtbar zu machen). Wenn dagegen der dritte gender sozial anerkannt ist, muss diese Kaschierung im Grab nicht erfolgen – er ist keine Abweichung, sondern Teil des gesellschaftlichen Nor-malzustands184. Brather betont, dass Grabausstattungen nicht das verstorbene Individuum spiegeln, sondern vielmehr des-sen soziale Rolle(n), die persona socialis, wiedergeben185. So ist die meist vorausgesetzte Unterteilung in biologische Ge-schlechtskategorien kritisch zu betrachten: Die klare Zweitei-lung entlang des biologischen sex setzt voraus, dass dieser als ordnendes Kriterium in der Gesellschaft verankert ist und es keine Zwischenkategorien gibt. Die könnte es angesichts der Tatsache, dass das sozial konstruierte Geschlecht (gender) die gesellschaftlich wichtigere Kategorie ist, aber sehr wohl gege-ben hagege-ben186. Ob deswegen eine einfache a priori-Zweiteilung

183 Vgl. für Nordamerika Roscoe 2000.

184 Cougle 2009, 55–58.

185 Brather 2010, 33.

186 Sex bezieht sich auf die körperlichen und genetischen Fortpflan-zungsmerkmale (Genitalien, Chromosomen, Gene), also ‚biolo-gisches Geschlecht‘; gender beinhaltet Sexualität/Sexualverhalten (Praktiken, Vorlieben, Partnerwahl) und Zugehörigkeitsgefühl (‚so-ziales Geschlecht‘), vgl. Díaz-Andreu 2005, 14–18. Dass gender-Kategorien sozial konstruiert sind, zeigt beispielsweise die Tatsache, dass es bei den nordamerikanischen Blackfoot-Indianern Frauen ab einem bestimmten Alter (Menopause) erlaubt ist, in männerähn-liche Geschlechterrollen zu schlüpfen. Bei den sibirischen Chuk-chee gibt es sogar zwei gender-Kategorien für Frauen und drei für Männer. In Nordamerika bildeten die sog. berdaches ein drittes Geschlecht zwischen Mann und Frau. Diese Pluralität von gender-Konzeptionen zeigt an, dass gender nicht universell festgeschrieben, sondern kulturell bedingt und sozial verhandelbar ist, abhängig von

‚Klassisch-funktionale‘ Objekte, die eine Geschlechts-bestimmung auch ohne anthropologische Untersuchungen wahrscheinlich machen, kommen aber nur selten in allen Grä-bern einer Nekropole vor. Bei vielen anderen Objekten, wie z. B. Schmuck, ist eine Geschlechtszuweisung schwieriger. Sie gehören zum weiten Bereich geschlechtsneutraler Beigaben, die bei beiden Geschlechtern vorkommen können179. Sie kön-nen nicht in ihrem eigekön-nen Charakter (Funktion), sondern nur über ihre Assoziation mit den als Geschlechtsindikatoren dienenden funktionalen Objekten quasi als sekundäre Ge-schlechtsmarker dienen, wobei die Unsicherheit bei der Zu-schreibung steigt. Diese Unsicherheit steigert sich weiter bei dem Versuch, über die Grenzen eines Gräberfeldes (also einer Gemeinschaft) ausgreifende Aussagen zu formulieren: So hat gerade das Beispiel der ‚sekundären‘ Zuweisungen aufgrund von Fibelformen gezeigt, dass sich in unterschiedlichen Ge-meinschaften die geschlechtstypische Vorliebe für eine Fibel-form ändert – so können an einer Stätte eher männlichen In-dividuen zugordnete Fibeln an anderen Orten eher mit Frauen verbunden sein (wiederum aufgrund von anthropologischen Befunden oder Vergesellschaftung mit ‚primären Geschlechts-beigaben‘). Als Fallstudie können die ‚männlichen Fibelfor-men‘ der Picentino-Nekropole von Pontecagnano/Kampanien gelten, die im Veneto-Gebiet mit weiblichen Individuen as-soziiert sind. Es zeigt sich also, dass eine Geschlechtsbestim-mung auf diesem Wege nur lokal wahrscheinlich gemacht wer-den kann und nicht mittels überregionaler Vergleiche erfolgen darf180.

Carmen Vida Navarro hat die Zuweisbarkeit von Beigaben zu bestimmten Geschlechtern einer methodisch sauberen Un-tersuchung unterzogen. Ihre Vorgehensweise ging dabei zuerst von der Erkennung binärer Gegensätze aus, wie sie in einer klar in biologische Geschlechter unterteilten Gesellschaft zu erwarten wären: Sie untersuchte, welche Beigaben nie (oder so gut wie nie) gemeinsam auftauchen, so z. B. Waffen und Tex-tilverarbeitungsgeräte. Nach traditioneller Geschlechterrollen-verteilung wären demnach erstere männlich, letztere weiblich konnotiert. Objekte, die Teil eines solchen binären Systems sind, spricht sie als primäre Merkmale an. Daraufhin prüfte sie die Vergesellschaftung dieser Beigaben oder Formen mit ande-ren, nicht eindeutig geschlechtstypischen Beigaben. Orientie-ren sich diese mit ähnlicher Regelhaftigkeit zu den geschlecht-stypischen, ohne die Grenzen zu überschreiten, können diese als sekundäre Marker angesprochen werden. Überschreiten Objekte mehrere Male die Grenzen der primären Merkmale, sind sie als unspezifisch einzuordnen181. Dies war in Pontecag-nano beispielsweise bei der Keramikausstattung der Fall, die nicht mit Geschlechtskategorien verknüpfbar war182.

179 Brather 2010, 29–30; allerdings erwähnt er richtigerweise zusätz-lich noch das Problem des Alters, das ebenfalls die Ausstattung der bzw. des Toten beeinflussen kann.

180 Vida Navarro 1992, 75.

181 Vida Navarro 1992, 77.

182 Als einzige mögliche Ausnahme können Teller gelten, die eher

‚männlich‘ scheinen; Vida Navarro 1992, 91.

lichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit abhängt191. Die Erkenntnis, dass unabhängig vom chronologischen Alter (also der Anzahl an Lebensjahren) die von einem Individuum erfüll-te soziale Rolle oder Funktion für dessen Identität bestimmend ist, wurde schon von Jennie Keith betont192 und hat in neueren Studien mit Recht zu dem Vorschlag geführt, archäologische Befunde (insbesondere Grabbefunde) eher unter dem Aspekt eines ‚funktionalen Alters‘ zu betrachten bzw. zu klassifizie-ren193.

Im Folgenden sollen in der Auswertung der Nekropole von Ripacandida alle verfügbaren Informationen zu den Bestatte-ten selbst (Lage, Geschlecht, Alter), zu den Gräbern (Lokali-sierung, Architektur) und zur Ausstattung der Toten (Art und Anzahl der Beigaben, Dekor und Position) kombinierend ana-lysiert werden. Die grundlegende Fragestellung lautet: Lassen sich Merkmale fassen, die nur in bestimmten Kombinationen vorkommen und Rückschlüsse auf eine Gruppen- oder Rol-lenformulierung erlauben? Auf Grundlage der bei der detail-lierten Analyse beobachteten Indizien und Regelhaftigkeiten wird versucht, diese Individuen als Gruppen zu fassen und zu benennen. Dazu ist es nötig, den funktionalen wie symboli-schen Gehalt der gemeinsamen Merkmale zu hinterfragen und in ihren historischen und sozialen Kontext zu stellen, dessen Rekonstruktion gleichzeitig ein wichtiges Ergebnis der Unter-suchungen sein soll.

191 Ginn – Arber 1995, 5.

192 Keith 1985, 240.

193 Tayles – Halcrow 2015, 233.

der Kategorien in männlich und weiblich sinnvoll ist, muss auch angesichts nicht immer eindeutiger Befunde bezweifelt werden.

Die von Vida Navarro bevorzugte Alternative der Benen-nung von Verstorbenen als männlich oder weiblich ist eine Loslösung von Geschlechterkategorien zugunsten einer am tatsächlichen Beigabenmaterial orientierten und damit die ge-sellschaftliche Identität möglicherweise besser wiedergebenden Ansprache von Merkmalsgruppen im Sinne ihrer sozialen Rol-le, also beispielsweise als Krieger oder Weber187. Eine solche Einteilung scheint auch im Sinne einer Ergründung dessen, was die soziale Person der Bestatteten im Gruppendenken ausmachte, hilfreicher und lässt zudem die Möglichkeit offen, schwer einzuordnende Individuen anhand weiterer Kriterien genauer zu benennen.

Eine bedeutsame Kategorie für Fragen der sozialen Identi-tät ist außerdem das Alter. Erst seit den 1990er Jahren finden sich in der archäologischen Forschung theoretisch fundierte Auseinandersetzungen mit Alter bzw. Kindheit als Identitäts-kategorie. Zu Greisentum ist kaum geforscht worden, obwohl die gesamte Spanne des menschlichen Lebens Folie für die Ausbildung unterschiedlicher, sich verändernder Identitätska-tegorien ist188. Innerhalb ihrer Lebenszeit machen Menschen eine Entwicklung durch, die Veränderungen ihrer sozialen Zugehörigkeiten und damit kollektiven Identitäten mit sich bringt. Die stärkere Anerkennung der Existenz menschlicher Lebenszyklen, -abläufe und -geschichten hat nicht nur Kon-sequenzen für die Veränderung von Alters-, sondern auch von Geschlechterrollen189 – Vorgänge biologischer Art wie etwa Pubertät, Mutterschaft und Menopause spielen genauso eine Rolle wie soziale Ereignisse, etwa Übergang ins Erwachsenen-leben, Initiation als Krieger, Heirat oder Verwitwung. Jo Ap-pleby hat kürzlich das große Potenzial von Altersstudien für das Verständnis archäologischer Populationen aufgezeigt, was tiefgreifende Folgen für die verschiedenen Geschlechtervorstel-lungen hat – dies gilt nicht nur für Kinder, sondern insbeson-dere für Erwachsene und ältere Menschen190. In der neueren Forschung wird deshalb auf verschiedene Altersgruppen ver-wiesen, die Auswirkungen auf den Inhalt der Geschlechterrol-len haben: Jay Ginn und Sara Arber konstatieren die Verände-rung der Geschlechtsidentität je nach Alter und der Fähigkeit, soziale Handlungen durchzuführen und Aufgaben zu erfüllen.

Sie unterscheiden zwischen drei verschiedenen Altersgruppen:

Während das ‚chronologische Alter‘ in Kalenderjahren gemes-sen wird, sind die beiden übrigen Altersgruppen stark sozial bestimmt. ‚Soziales Alter‘ beschreibt die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen Gruppe, die selbst stark vom

‚physiologischen Alter‘ beeinflusst wird, das von der

körper-der historischen Situation. Dementsprechend darf die Erforschung von gender nicht von modernen Konzepten bestimmt sein, sondern muss flexibel betrachtet werden.

187 Vida Navarro 1992, 94–96.

188 Lucy 2005, 43–44.

189 Gilchrist 1999, 79–81.

190 Appleby 2018.

Abb. 2 Karte Ripacandida, Ausschnitt Karte IGM, 1:25000

dieser Region ist die West-Ost-Querung der italischen Halb-insel sehr einfach199.

Die wichtigste Landmarke der Region ist der Monte Vul-ture, der sich – je nach Blickwinkel – mit einer Reihe von zwei bis fünf Gipfeln weithin sichtbar über das Umland erhebt. Der höchste Gipfel erreicht eine Höhe von 1326 m ü. NN. Der Vulture ist der Kegelstumpf eines erloschenen Vulkans, dessen Bergmassiv eine Fläche von etwa 27 km² bedeckt. Das charak-teristische Kennzeichen des Massivs sind die Laghi di Montic-chio, zwei durch eine Landbrücke getrennte Maare, die sich in der erkalteten Caldera des kollabierten Vulkans gebildet haben und riesige Mineralwasserspeicher bilden. Aus dem größeren der beiden Seen stammt das der Stätte nächstgelegene Pollen-profil, das Auskunft über die klimatischen und botanischen Verhältnisse in archaischer Zeit liefert: Generell sind im adri-atischen Raum für die erste Hälfte des ersten Jahrtausends v.

Chr. (spätes Subboreal) eher warme und trockene Verhältnisse (etwas wärmer als heute) belegt, mit einem kurzen Kälteinter-vall um 800 v. Chr. und dem Temperaturmaximum im frü-hesten Subatlantikum um 400 v. Chr.200. Der palynologische Befund aus dem Lago Grande di Monticchio bestätigt, dass das gesamte Holozän (ca. 10.000 – 500 v. Chr.) in Süditalien eine von der Vegetation her statische Phase war. Die umliegen-de Hügellandschaft war wie noch heute von Wald dominiert.

Kleinere Schwankungen, wie das Verschwinden von Tannen ab ca. 1000 v. Chr., können nur spekulativ mit anthropogenen Einflüssen in Verbindung gebracht werden – denkbar wären Rodungen bzw. Brandrodungen zur Düngung. Allerdings fol-gen keine Getreidearten, sondern v. a. Haselnuss, Gräser und Hainbuche – letztere könnten nach Parallelen aus historischer Zeit als Futterpflanzen bzw. Brennholz gedient haben. Klare Hinweise auf Ackerbau finden sich in den Pollendiagrammen vom Lago Grande di Monticchio erst ab ca. 500 n. Chr.201. Für das südöstliche Apulien liefern Analysen von Bohrkernen aus dem Lago Alimini Piccolo Hinweise, dass dort bereits nach ca. 500 v. Chr. starke ackerbauliche Aktivitäten einsetzten. Es fanden sich viele Getreidepollen von Gerste, die in Roca Vec-chia auch archäologisch nachgewiesen ist. Interessanterweise scheinen Oliven erst ab 500 n. Chr. stärker kultiviert worden

199 Bottini 1978a, 432–433; Bottini 1979, 78; Bottini 1980a, 314;

Bottini 1982, 152. Dass das Gebiet des Binnenlandes und der Übergang vom Ofanto- zum Seletal schon in der Bronzezeit und frühen Eisenzeit wichtig war, verdeutlicht die Stätte von Toppo Da-guzzo, s. Cipolloni 1983; Cipolloni Sampò 1998 und BTCGI 20 (2011) 816–826 s. v. Toppo Daguzzo.

200 Finnè – Holmgren 2010, 46–50.

201 Allen u. a. 2002.

Als Fallbeispiel für die Ergründung von Gruppenidentitäten soll die Nekropole von Ripacandida dienen. Damit wird sie auch zum Ausgangspunkt der Überlegungen zur Organisa-tion der binnenländischen Gesellschaften des eisenzeitlich-archaischen Süditaliens194. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Ripacandida Reste einer römisch-kaiserzeitlichen Siedlung gefunden, die jedoch nicht Objekt systematischer

Als Fallbeispiel für die Ergründung von Gruppenidentitäten soll die Nekropole von Ripacandida dienen. Damit wird sie auch zum Ausgangspunkt der Überlegungen zur Organisa-tion der binnenländischen Gesellschaften des eisenzeitlich-archaischen Süditaliens194. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Ripacandida Reste einer römisch-kaiserzeitlichen Siedlung gefunden, die jedoch nicht Objekt systematischer

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