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Die skizzierte Vorgehensweise verlangt, dass sich die Studie mit weitergehenden, analytischen Begriffen auseinandersetzt, um das archäologische Fundgut adäquat in seinen Kontext einbetten und auswerten zu können.

Zur Problematik des Kulturbegriffs

Traditionelle archäologische Studien streben meist danach, die materiellen Hinterlassenschaften vergangener Gesellschaf-ten zu größeren OrdnungseinheiGesellschaf-ten zusammenzubinden bzw.

neues Fundgut bestehenden Einheiten zuzuordnen. Die Rede ist natürlich von sogenannten ‚(archäologischen) Kulturen‘.

Dies waren und sind von modernen Forschern zusammenge-stellte und als typisch begriffene Merkmalsgruppen, die sich über weitere, meist benachbarte Räume und Zeiten finden und in unterschiedlichsten Objektgattungen, vorwiegend in ähnlichen Keramik- oder Metallformen und -verzierungen, Siedlungsmustern, Architekturformen, etc. ihren Ausdruck finden. Diejenigen dieser Merkmale, die am prägnantesten erkennbar sind, am häufigsten auftauchen und/oder sich am

wurde. Es handelt sich um den Versuch des Entwurfs und der Etab-lierung einer Mikroarchäologie, mit Hilfe derer die archäologischen Hinterlassenschaften aus einer ethnozentrischen Perspektive gelöst werden sollen; vgl. Streiffert Eikeland 2006, Fahlander 2003. Bei-trag und Gestaltungswille der indigenen Bevölkerung zur materiel-len und soziamateriel-len Identität solmateriel-len herausgearbeitet werden, ohne die Voraussetzung einer quasi natürlichen Diffusion fremder Elemente in deren Sachkultur. Bereits Whitehouse – Wilkins 1989 kritisieren diese in der Forschung oft eingenommene Position, indem sie Ak-kulturation mit einer Grippewelle vergleichen. Dieses Bild ist etwas überzeichnet, kennzeichnet aber recht gut eine Forschungstraditi-on, die die Mechanismen eines Kulturtransfers meist nicht genü-gend hinterfragt hat. Für die Studie ist es wichtig, ein angemessenes technisches und begriffliches Instrumentarium zu entwickeln.

80 Zusammenhänge zwischen Graborientierung, Grabgruppierung, Grabkonstruktion sowie Beigabenausstattung, Art und Dekor der Beigaben sowie ihre Vergesellschaftung untereinander zu erkennen und zu systematisieren ist integraler Bestandteil der Grunddatener-hebung. Davon ausgehend wird versucht, diese Gemeinsamkeiten unterschiedlichen sozialen Gruppen zuzuordnen. Daneben muss aber auch nach klaren Unterscheidungen gesucht werden, denn Identität bzw. Zugehörigkeit wird durch die beiden gleichzeitig ab-laufenden Prozesse der Inklusion und Exklusion bzw. Zuordnung und Abgrenzung produziert; vgl. Brosseder 2006, 120.

nahme griechischer Formen, Objekte und Vorstellungen deut-lich zu den Indigenen hin verschoben werden – um den Blick auf die Tatsache zu öffnen, dass Interaktion weniger als einsei-tige Beeinflussung, sondern als bilateraler Prozess gedacht wer-den muss77. Denn anders als die Römer scheinen die Griechen kein Interesse entwickelt zu haben, kulturelle Techniken der Herrschaft über Territorien und deren Bewohner auszuüben.

Ihre direkte Kontrolle beschränkte sich wahrscheinlich nur auf das Umland ihrer apoikiai, und sie scheinen keine Anstalten gemacht zu haben, ihren Nachbarn – nicht Subjekten! – die eigenen Kategorien von Identität und kulturellen Praktiken vorzuschreiben. Dementsprechend muss die Integration frem-den Sachguts und auch ‚kultureller Techniken‘ durch die Indi-genen in die eigene Lebenswelt als hochselektiver und kreativer Prozess verstanden werden. Dies steht der traditionellen Deu-tung von Hellenisierung als Prozess, in dem die vermeintlich überlegenen griechischen Objekte und Werte quasi selbstver-ständlich von den Indigenen übernommen wurden, diametral entgegen78.

Ausgangspunkt und Fallbeispiel der vorliegenden Untersu-chung ist ein eisenzeitlich-archaisches Gräberfeld im Herzen des süditalischen Binnenlandes. Ausgehend von der Analyse der Grabzeugnisse der Gemeinschaft von Ripacandida in der Nordbasilikata soll herausgearbeitet werden, wie sich die ein-heimische Bevölkerung nach innen strukturierte (z. B. nach Gesellschafts-, Geschlechts- und Altersgruppen) und woher sie ihre externen Anregungen bezog – also diejenigen, die sie in Gesellschaft und Totenbrauchtum eingliederte und damit selbst und bewusst auswählte. In diesem Sinne sind es zwei eng miteinander verwobene Problembereiche, die die Studie untersucht:

a) Die interne Organisation der indigenen Gesellschaften b) Die Reaktion dieser Gesellschaften (und ihrer

Organisati-on) auf die neuen Küstenstädte und ihre Bewohner Die Funde und Befunde der Nekropole von Ripacandida sollen also nicht nur in ihren kulturellen Rahmen als Abfrage nach ihrer geographischen Herkunft, sondern auch in ihren historisch-sozialen Rahmen eingeordnet werden. Aufgrund einer genauen Analyse der Gräber, der feststellbaren Regelhaf-tigkeiten und deren Kombinationen sollen die Lebenswelten einzelner sozialer Gruppen innerhalb der Gesamtbevölkerung und ihre Handlungsstrategien eruiert werden79. Damit können

77 Gerade in den letzten Jahrzehnten haben einige Studien darauf auf-merksam gemacht, dass das indigene Element, selbst wenn es in direkter Auseinandersetzung mit den vermeintlich kulturell überle-genen ‚Kolonisten‘ steht, immer nur die fremden Elemente (Arte-fakte und Lebensweisen) übernimmt, die sich sinnvoll in die eigene Lebenswelt eingliedern lassen – was wohl nicht selten in anderen als deren originalen Kontexten erfolgt und eine Umdeutung der Objekte mit sich bringt; vgl. Dietler 1999.

78 Dietler 1999, 475-479. Vgl. dazu nur John Boardmans berühmtes Diktum: „In the west the Greeks had nothing to learn, much to teach“ (Boardman 1964, 203), das noch bis in die neueren Auflagen des Werks in den späten 1990er Jahren übernommen wurde.

79 Die Studie wird sich damit an einen Forschungszweig anlehnen, der in jüngerer Zeit von skandinavischen Archäologen entwickelt

auf die Definition einer ethnischen Gruppe anwenden – das grundsätzliche Problem wird also nicht gelöst. Tatsächlich ist der Begriff Kultur so problematisch geworden, dass er in der zweiten Auflage (aus dem Jahre 2000) des „Wörterbuchs der Ethnographie“ nicht mehr als Lemma aufgeführt wird und auch andere kritische Studien diesen Begriff lieber abschaffen würden85. Immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, dass es gerade die Vielfalt ist, die menschliches Verhalten prägt und die nicht im monolithischen Sinne, den Kultur oft impliziert, beschrieben werden kann. In der neueren soziologischen For-schung wird sogar vielmehr das Konzept von Verschiedenheit als wertvollstes Merkmal des Kulturkonzepts begriffen – eher also eine kontrastive Eigenschaft als der substantielle Besitz von bestimmten Dingen. Arjun Appadurai plädiert für ein Ab-lassen vom Begriff der Kultur als Substanz, und propagiert den Kulturbegriff als eine Dimension von auf Differenz basieren-der Gruppenidentität. Er geht so weit, Kultur als Prozess basieren-der Vernatürlichung einer Teilmenge von Unterschieden, die zur Mobilisierung und Artikulation von Gruppenidentität dienen, zu definieren86.

Archäologische Kultur und Ethnos

Es ist wichtig, sich immer der künstlichen Dimension des archäologischen Kulturbegriffs bewusst zu bleiben. Die Tat-sache, dass bestimmte Merkmalkombinationen als typischer Ausdruck einer archäologischen Kultur definiert wurden, er-laubt aus sich selbst heraus noch keinesfalls weitere Aussagen darüber, ob diejenigen, die diese Objekte gefertigt und benutzt (also Töpfe gebrannt, Häuser gebaut, Gräber[felder] angelegt) – mit anderen Worten: diese Merkmale produziert haben – sich genauso einer gemeinsamen ethnischen Gruppe zugehörig fühlten oder nicht. Nach manchen Definitionen sollte sich eine ethnische Gruppe im traditionell archäologischen Sinn durch eine besondere ‚archäologische Kultur‘ erfassen lassen, die sich durch charakteristische Objektgruppen von anderen ‚Ethnien‘

absetzt87. Dies ist aber im Einzelfall sehr schwer zu bewerk-stelligen, denn so kann beispielsweise Keramik der Gruppe X in Gebäuden oder Gräbern der Gruppe Y vorkommen – zu bedenken ist aber, dass schon die Zuteilung der Keramik zur Gruppe X und der Gebäude zur anderen Gruppe Y eine rein archäologische nur in dem Sinne ist, dass sie als Hilfsmittel von Archäologen zur Objektgruppierung vorgenommen wurde.

Es ist äußerst problematisch, dies mit ethnisch verstandenen Menschengruppen zu verketten – und sich damit in eine ent-weder/oder-Situation zu begeben88.

85 Vgl. Daniel 2004, 447. Verschiedene Ethnologen wie etwa Geertz und Sahlins verwerfen den Kulturbegriff, da menschliches Handeln vernachlässigt wird – man sollte ihn zugunsten von kleineren Ein-heiten aufgeben, die tatsächlich etwas verursachen, s.. Brumann 2007, 35.

86 Appadurai 1998, 12–15.

87 z. B. Jones 1997.

88 Insbesondere in Begegnungsräumen werden unterschiedliche Gruppen häufig als unterschiedliche Stämme/Ethnien begriffen;

dies ist jedoch problematisch; vgl. Carstens 2002, 137.

deutlichsten von den Zeugnissen benachbarter Zeiten oder Regionen unterscheiden, gelten dann meist als Leitfunde ei-ner so umrissenen ‚(archäologischen) Kultur‘. Das Dilemma des Archäologen ist also, dass er in Anbetracht der für ihn sichtbaren Reste die materielle (Sach-)Kultur oft mit Kultur als Gesamtheit gleichsetzen muss, weil der Rest unsichtbar bleibt81. Diese Vorgehensweise ist aus Gründen der primären Kategorisierung und Ordnung nachvollziehbar, logisch und wissenschaftlich gerechtfertigt. Die Beschreibung und davon ausgehend der bewertende Vergleich unterschiedlicher Gesell-schaften und ihrer archäologischen HinterlassenGesell-schaften sind die Grundlage jeder weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit den stummen Zeugen der Vergangenheit.

Der Forderung nach methodischer Genauigkeit und dem Wunsch nach einem verstehenden Ansatz archäologisch-gesell-schaftlicher Forschung steht auch die Tatsache im Weg, dass die Definitionen von Kultur so zahlreich und unterschiedlich sind82. Eine Eindeutigkeit ist kaum gegeben. Neuere Studien versuchen dem Rechnung zu tragen, indem sie die Definiti-on vDefiniti-on Kultur neu fassen. So formuliert Renato Rosaldo: „In contrast with the classic view, which posits culture as a self-contained whole made up of coherent patterns, culture can arguably [be] conceived as a more porous array of intersections where distinct processes crisscross from within and beyond its borders. Such heterogeneous processes often derive from diffe-rences of age, gender, class, race and sexual orientation.” Kultur in diesem Sinne wird also nicht angeboren oder ist gegeben, sondern wird aktiv durch das Individuum oder die Gruppe erworben, ist formbar und sozial nutzbar. Damit verliert der Begriff aber noch weiter an Eindeutigkeit, und der Vorstellung einer Pluralität von sozialen Zugehörigkeiten wird das Feld bereitet83. In jüngster Zeit hat Helle Horsnæs eine neue, auf archäologische Forschung bezogene Kulturdefinition für ihre Arbeit zum antiken Lukanien vorgeschlagen, die zwar wichtige Kategorien umfasst, aber ebenfalls wieder an kritische Grenzen stößt: Sie definiert Kultur – im Wissen um die oben skizzier-te Problematik der Gleichsetzung von archäologischer Kultur und Ethnos – im Gegensatz zu diesen Kategorien folgender-maßen: Kultur kann erkannt werden in a) Gebrauch einer speziellen Trachtsitte; b) Lebensart, sichtbar an Hausbau, Mo-biliar etc.; c) Speisesitten, sichtbar an Besteck und Geschirr;

d) religiösen Vorstellungen, sichtbar an Gräbern und Heilig-tümern84. Auch bei dieser Definition muss man sich fragen, wo, wenn dies alles in seiner Gesamtheit Kultur ausmacht, die Grenzen dieser Kultur sein sollen, wenn diese nicht bei allen genannten Kategorien räumlich und zeitlich deckungsgleich sind. Zudem lassen sich alle diese Kategorien auch problemlos

81 Sommer 2007, 60.

82 Vgl. beispielsweise die Vielfalt von unterschiedlichen Definitionen für Kultur, die Geertz 1983, 8–9 in nur einer Publikation auf weni-gen Seiten verstreut ausmachen kann.

83 Rosaldo 1993, 21; zitiert von Sommer 2007, 70–71.

84 Horsnæs 2002, 17–18; zum archäologischen Kulturbegriff s. auch kürzlich Burkhardt 2013, 31–32, wo sich aber ebenfalls seine äu-ßerst vage Natur bemerkbar macht.

aus und strebt an, die komplexen, ineinander verschränkten Vorstellungsstrukturen einer Gemeinschaft herauszuarbeiten (und damit einen emischen Ausgangspunkt einzunehmen)93. Mit den Worten von Geertz: „Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart entwickeln‘), das fremdartig, verblasst, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist.“94 Was hier über die Ethnographie geäußert wird, ließe sich auch über die Archäologie sagen, wo-bei die Materialbasis für den Archäologen noch fragmentari-scher und ausschließlich materieller Natur ist (nämlich nur die unvollständigen materiellen Reste geformten Verhaltens um-fasst) – ein Umstand, der die Decodierung nicht erleichtert.

Identität und Handlung

Lässt sich überhaupt nach der Kultur einzelner Menschen oder Personengruppen forschen? Zumindest mit dem ange-stammten archäologischen Kulturbegriff in seiner etischen Konstruktion ist das nicht möglich. Aufgrund der dargeleg-ten Problematik wird in der vorliegenden Untersuchung nicht der Kulturbegriff die entscheidende Rolle spielen, sondern ein anderer Terminus: Identität95. Dieser Terminus hat sich in kul-tur- und gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungen seit den 1960er Jahren (von manchen Forscher als in „inflationä-rer“ oder „epidemischer“ Weise beschriebener Art) verbreitet96. Dabei wird diesem „Modewort“ immer wieder die „vielschich-tige und widersprüchliche Bedeutung“97 vorgeworfen. Vor allem wird seine „Unschärfe“ als gewichtiges Problem wahr-genommen. Diese Unschärfe resultiert vor allem aus seinem dualen und temporären Charakter: Auf der einen Seite besitzt er zwei Definitionen von Identität, die analytisch untrennbar verbunden sind: nämlich die individuelle/personale Identität und die soziale/kollektive Identität98. Auf der anderen Seite ist es in den Gesellschaftswissenschaften anerkannte Tatsache, dass Identität nicht gegeben ist, sondern ständig konstruiert wird – und damit situativ variabel ist.

Ob der Identitätsbegriff in der archäologischen Forschung sinnvoll zu verwenden ist, wird lebhaft diskutiert99. Die Vortei-le des Identitäts- gegenüber dem Kulturbegriff sind, dass

93 Vgl. Geertz 1983.

94 Geertz 1983, 15.

95 Gerade in neuerer Zeit sind einige wichtige Studien zu diesem Konzept erschienen, vgl. Jones 1997; Casella – Fowler 2005; Díaz-Andreu u. a. 2005; Brather 2004.

96 Assmann – Friese 1999a, 11.

97 Davidovic 2006, 39. Vgl. auch die (eher kritisch-pessimistische) Diskussion des Begriffs und seiner Nutzung in den Sozialwissen-schaften in Cooper 2012, 109–151, für die vorliegende Untersu-chung bes. 134–140.

98 Davidovic 2006, 41.

99 Vgl. Burmeister – Müller-Scheeßel 2006; s. auch Schörner 2005a, die den Begriff gerade im Kontext kultureller Begegnung, allerdings mit der berechtigten Forderung nach Detailbetrachtungen, für ad-äquat hält.

Und doch ist genau dies von der archäologischen For-schung immer wieder getan worden: Archäologisch definierte Kulturen wurden mit vergangenen, aus antiken Schriftquellen bekannten Ethnien identifiziert. Ideologisch höchst problema-tisch wurde dieser (kulturhistorische) Ansatz in Forschungen wie denen Gustaf Kossinnas im Rahmen seiner nationalsozia-listischen Indienstnahme89. Allerdings sind solche unreflektier-ten Gleichsetzungen von archäologischer Kultur und Ethnie schon seit Jahrzehnten intensiv kritisiert worden. Einer der Gründe für diese Gleichsetzung war, dass die frühen Vertreter einer systematischen archäologischen Forschung sich nicht für Individuen, sondern für Kulturen interessierten. Diese wur-den als handelnde, quasi lebendige Einheiten betrachtet: sie werden geboren, sie entwickeln sich, sie wandern, sie blühen, sie sterben. Da man sich jedoch bewusst war, dass die Träger dieser Kulturen Menschen waren, wurde die Zugehörigkeit zu einer ‚(archäologischen) Kultur‘ mit Ethnien gleichgesetzt, diese war also fast gleichbedeutend mit Ethnizität90. Auch mit Durchsetzung des Funktionalismus und der New Archaeolo-gy in den 1950er/60er Jahren v. a. im anglophonen Bereich wurde das Individuum immer noch in traditioneller Weise betrachtet: Es trat als stiller, passiver Teil der Gruppe auf, was dem deterministischen Ansatz dieser Strömung entsprach, in dem menschliches Verhalten als von engen, funktionellen und rationalistischen Vorstellungen bestimmt angesehen wurde91. Ohne den archäologischen Kulturbegriff dekonstruieren zu wollen, muss seine künstliche Dimension als Ordnungska-tegorie immer wieder betont werden. Außerdem handelt es sich um eine rein etische Konstruktion, also eine von außen dem Untersuchungsgegenstand übergestülpte Kategorie, die erst einmal in keiner Weise emische (also der Selbstwahrneh-mung der untersuchten Subjekte verpflichtete) Dimensionen besitzt92.

Kulturanthropologen wie Clifford Geertz haben auf ihrem Forschungsgebiet genau diesen etischen Ansatz kritisiert. Die Forderung war, menschliches Verhalten, wie es sich in Form sozialer Handlungen und der mit ihnen verbundenen Symbole artikuliert, viel stärker in die Analyse einzubeziehen. Dies solle das Verständnis der untersuchten Gemeinschaften erleichtern, ja erst ermöglichen und zu einer deutenden Theorie von Kultur führen. Dabei vertritt Geertz ein flexibles Konzept von Kultur, das diese als wandelbar begreift und tief im Handeln der Men-schen verwurzelt ist. Er prägte im Zusammenhang mit seinen ethnographischen Feldforschungen in Marokko und auf Bali den Terminus der ‚dichten Beschreibung‘: Diese geht weit über die Datensammlung einer ‚dünnen Beschreibung‘

hin-89 Die berüchtigte Kulturkreistheorie und ihre politische Ausschlach-tung; vgl. Arnold 1990.

90 Zur Kritik an dieser Gleichsetzung s. auch Ulf 2009, 84.

91 Díaz-Andreu – Lucy 2005, 2; vgl. die berühmte Definition von Kultur als „man’s extra-somatic means of adaptation“ (Binford 1962, seinerseits aufbauend auf früheren Studien von Alfred Kroe-ber and Leslie White).

92 Nach Streiffert Eikeland 2006, 92 lassen sich die Kategorien emisch und etisch wie folgt kurz definieren: emisch = „intern gefühlt“, etisch = „von außen beobachtbar“.

sind: die Identifizierung von Individuen mit anderen Indivi-duen, auf Basis von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die als gesellschaftlich bedeutsam angesehen werden. Identität ist in diesem Sinne untrennbar verbunden mit einem Gefühl von Zugehörigkeit – durch Identität erfahren wir uns selbst, und andere sehen uns, als zugehörig zu bestimmten Kollektiven.

Teil einer Gruppe zu sein bedeutet aktive Teilnahme, weshalb Identität nicht statisch sein kann, sondern ein kontinuierlicher Prozess der Identifikation ist102. Kollektive Identitäten entwi-ckeln sich und werden durch Einbeziehung (Inklusion) und Abgrenzung (Exklusion) gebildet. Ihre Vielfalt (und zwar die Vielzahl sozialer Zugehörigkeiten jedes Einzelnen) führt dazu, dass sie sich in komplexer Weise überlagern – oft wird situati-onsbedingt eine bestimmte Identität in den Vordergrund ge-stellt. Der Identitätsbegriff ist also nicht statisch und erkennt die Rolle des Individuums als die eigene Umwelt und Sach-kultur gestaltend Handelnde/r an. Es ist entscheidend, dass die unterschiedlichen Definitionen des Identitätsbegriffs den Menschen in seinen Verbindungen zur Umwelt ins Zen trum der Erforschung setzen103. Mit dem Mensch als zentralem Sub-jekt der Analyse unterscheiden sich der Terminus und sein Un-tersuchungsobjekt elementar vom Kulturbegriff.

Identitäten werden durch Interaktion zwischen Menschen konstruiert, wobei der Prozess der Identitätsfindung und -be-wahrung auf Wahl und Handlung beruht104. Unter dieser Prä-misse erscheint die „Gesellschaft […] nicht als eine dem Ein-zelnen gegenüberstehende Größe, sondern als konstituierendes Element seines Selbst. Identität, auch Ich-Identität, ist immer ein gesellschaftliches Konstrukt.“105 Identitätsbildung setzt eine Interaktion zwischen Individuum und seiner Umwelt vor-aus. Sie „wird nicht zwischen einzelnen Individuen hergestellt, sondern zwischen individuellen persönlichen Erwartungen und ideellen Gruppenbildern“106 und ist ein aktiver Vorgang.

Damit kann Identität nur aus einem emischen Blickwinkel erforscht werden. Im Prozess ihrer Konstruktion bildet Hand-lungsfähigkeit ein wichtiges Element107. Die Grundannahme

102 Díaz-Andreu – Lucy 2005, 1–2.

103 Davidovic 2006, 40–42. In traditioneller archäologischer Sichtwei-se wurde Identität als objektiv und quasi angeboren (primordial/

ursprünglich) angesehen; die Beziehung zwischen materieller Kul-tur und Identität wurde als unproblematisch betrachtet. Erst ab den 1960er Jahren wurde Identität als wählbar erkannt und die deterministische Sicht auf Identitätsbildung verworfen. Identität wurde nun als Produkt von zahlreichen Interaktionsvorgängen er-kannt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können (zur Geschichte der Identitätsforschung in der Archäologie s. auch Díaz-Andreu – Lucy 2005, 2–9). Es ist die gesellschaftliche Praxis, der Umgang, das Verhalten, was Gesellschaft ausmacht – und dies wird wiederum von impliziten Prinzipien, ungeschriebenen, unbewuß-ten Regeln beeinflusst. Es geht um agency, also die Möglichkeit zu handeln; durch Handlungen wird die Gesellschaft sowohl am Le-ben erhalten als auch verändert. In diesem Gesellschaftsbild sind Individuen und Gruppen weder vollkommen frei Handelnde noch hilflose, determinierte Subjekte; vgl. Hodos 2006, 201.

104 Pohl 2010, 11.

105 Assmann 1999, 132.

106 Müller-Scheeßel – Burmeister 2006a, 11–12.

107 Wagner 1999, 60 und viele weitere Stellen im gesamten Text.

– bei ihm ein tieferes Verständnis der handelnden Personen und ihrer Selbstsicht (also die emische Perspektive) fester Bestandteil der Forschung sein muss,

– er das Verständnis kleinerer Gruppen ermöglicht, ohne im Rahmen einer ‚kulturellen‘ Einordnung in ähnlich starker Weise zu Verallgemeinerungen und der verstärkten Bewer-tung von Gemeinsamkeiten mit AbwerBewer-tung von Unter-schieden zu tendieren.

In diesem Sinne können mit dem Identitätsbegriff genauere Unterscheidungen getroffen werden. Während der Kulturbe-griff (auf der Makroebene) immer nach einem festen, aber von Fall zu Fall zu definierenden Repertoire an Merkmalen sucht und diese oft checklistenhaft abfragt, lassen sich mit einer an Identitätsbildung orientierten Herangehensweise (auf der Mi-kroebene) vielfältige Merkmale unterscheiden. Damit können die unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Verteilungen und Nutzungen dieser Merkmale der handelnden Gruppe als bewusste Aktion zugeordnet werden100. In Situationen von Kulturbegegnung können so Beitrag und Gestaltungswille der indigenen Gemeinschaften zur materiellen und sozialen

In diesem Sinne können mit dem Identitätsbegriff genauere Unterscheidungen getroffen werden. Während der Kulturbe-griff (auf der Makroebene) immer nach einem festen, aber von Fall zu Fall zu definierenden Repertoire an Merkmalen sucht und diese oft checklistenhaft abfragt, lassen sich mit einer an Identitätsbildung orientierten Herangehensweise (auf der Mi-kroebene) vielfältige Merkmale unterscheiden. Damit können die unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Verteilungen und Nutzungen dieser Merkmale der handelnden Gruppe als bewusste Aktion zugeordnet werden100. In Situationen von Kulturbegegnung können so Beitrag und Gestaltungswille der indigenen Gemeinschaften zur materiellen und sozialen

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