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Überlegungen zur Wirtschaft

Im Dokument x!7ID9F4-jadcgj! ITALIKÁ ITALIKÁ (Seite 172-181)

Die Grundlage für den ökonomischen Wohlstand der itali-schen Eliten liegt noch weitgehend im Dunkeln. Die Bewoh-ner Südostitaliens gründeten ihre Wirtschaft nicht auf die Ausbeutung von Bodenschätzen und archäologische Hinwei-se auf spezialisierte Produktions- und VerarbeitungsprozesHinwei-se fehlen1126. Auch deuten die Befunde nicht auf umfangreichen Adriahandel hin, einzig das Vorkommen und die Verarbeitung von Bernstein belegt die Position des Küstengebiets und ei-niger binnenländischer Stätten an weiteren Handelsnetzwer-ken1127. Aus Siedlungsfunden und Grabbeigaben lassen sich nur wenige direkte Hinweise auf Subsistenzgrundlage und wirtschaftliche Tätigkeiten ablesen. Dies hat dazu geführt, dass meist Landbesitz und Landwirtschaft als primäre Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen angesehen wurden, analog zu den Ver-hältnissen ab römischer Zeit. Aufgrund materieller Zeugnisse aus Gräbern und Siedlungen in Form von Webgewichten und Spinnwirteln wurden neben dem Ackerbau auch Viehzucht und Wald(weide)wirtschaft postuliert1128. Bottini sieht den Melfese im 7.–5. Jh. noch in den allergrößten Teilen als Acker-bau- und Viehzuchtgebiet1129. Mediterrane Baumkulturen sind nicht nachgewiesen, aber für die Zucht von Nutztieren aller Art (Rinder, Schafe/Ziegen, Pferde, Esel und v. a. Schweine) war das Gebiet gut geeignet1130. Scalici vermutet als

Subsistenz-1124 Zu ähnlichen Verhaltensmustern der beteiligten Akteure und ver-gleichbaren Resultaten in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse in modernen kolonialen Situationen s. Guyo 2017.

1125 Pointiert formuliert, lieferte der Kontakt zu den männerdominier-ten Griechen den indigenen Männern Rückendeckung und kultu-relle Munition im indigenen ‚Geschlechterkampf‘ (oder initiierte ihn sogar erst); Heitz 2019.

1126 Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die geringen Blei- und Zinnvor-kommen der Region in der Antike ausgebeutet wurden, und auch Schwefel scheint (im Gegensatz zu Sizilien) in Süditalien kein Wirt-schaftsfaktor gewesen zu sein.

1127 Montanaro 2012; zum Vorkommen von Ofanto-subgeometrischer Keramik auf der östlichen Adriaseite s. die Verbreitungskarten bei Yntema 1990.

1128 Lombardi 1996, 16.

1129 Vgl. Mitro – Notarangelo 2016, 18 und dort angegebene Verweise.

1130 Bottini 1982, 154; vgl. Nachrichten bei Strabo (Strab. 6, 3, 9) und Polybios (Pol. 3, 107, 2). Von Bottini für das 7. und 6. Jh. noch

Männer gegenüber der der Frauen: Die unter Mitwirkung griechischer Handwerker aus den Küstenstädten entstandenen Terrakotten zeigen Szenen männlichen Waffengangs, und bei den Bestattungen sind die Männer in der Überzahl. Dies lässt sich klar in Braida di Vaglio und zumindest ikonographisch auch bei den Terrakotten vom anaktoron von Torre di Satri-ano nachvollziehen. Dort rückt auch der in der residenza ad abside noch zentrale Webstuhl nun in den Eingangsbereich.

Vieles deutet darauf hin, dass die Gastgeberrolle in den über-regionalen Begegnungsstätten allmählich zur Männerdomäne wurde. Ein Übergewicht von männlich konnotierten Objek-ten zeigt sich auch bei der Betrachtung der importierObjek-ten oder indigen imitierten Metallobjekte: Waffen wie Helme korinthi-scher oder apulo-korinthikorinthi-scher Art, Beinschienen, Reste von Schilden und Pferderüstungsteile wie prometopidia können als griechische oder von griechischen Formen inspirierte Objekte identifiziert werden1121 und finden sich wie weitere neue Me-tallformen (Patera, Exaleiptron, Sieb, Kelle und Strigilis) v. a.

im 5. Jh. fast ausschließlich in Männergräbern1122.

Im Untersuchungszeitraum lässt sich also eine Verschiebung von reichen zu weniger exzeptionell ausgestatteten weiblichen Beigabenensembles bei gleichzeitiger Entwicklung immer rei-cherer männlicher Grabbeigaben und mit Männern assoziier-ter Orte und Ikonographie feststellen. Wenn die skizzierten Beobachtungen zutreffen sollten, so ließe sich eine Kombinati-on aus mehreren Faktoren als Ursache dieses Prozesses denken:

Die für den weiblichen Bereich hier auf Grundlage der Befun-de postulierte Rolle als Bewahrer und Pfleger Befun-der familiären Haushaltseinheit verlangt eine eher traditionelle und nach in-nen gewandte Einstellung in Hinsicht auf Techniken der Siche-rung dieses Wohlergehens auf spirituell-kultischer Ebene, eine tiefe Verwurzelung in althergebrachten einheimischen Sitten und Gebräuchen des domus1123. Waren die männlichen Mit-glieder der Gemeinschaft tatsächlich weniger in diese Aspekte des täglichen Lebens eingebunden und ihre Selbstauffassung auf Tätigkeiten im agrios wie der Abwehr von feindlichen Um-weltbedingungen in tierischer wie menschlicher Form gegrün-det, so dürften sie Veränderungen gegenüber aufgeschlossener bzw. anfälliger gewesen sein, da sie weniger spirituell gebildet und mit der Wichtigkeit der kultischen Traditionen und Werte bzw. Zeremonien weniger vertraut waren. In ihrer Tätigkeit im

‚Draußen‘ waren sie auch diejenigen, die eher in Kontakt mit fremden (und potenziell feindlichen) Elementen und Personen kommen konnten und in diesen Situationen agieren mussten und Handlungsvollmacht besaßen. In einem solchen Szenario ist nicht unwahrscheinlich, dass sie als erste mit griechischen Personen in Kontakt kamen, und dass diese Kontaktpersonen überwiegend Männer waren. Deren kulturelle Prägung wiede-rum akzeptierte Frauen kaum als adäquate und gleichwertige Gelage-, Verhandlungs- und Vertragspartner, weshalb sie selbst auch selektiv Kontakt zu indigenen Männern gesucht haben

1121 Whitehouse – Wilkins 1989, 118–119.

1122 Horsnæs 2002, 74–75.

1123 Vgl. Norman 2018, 66.

davon auszugehen, dass die Wirtschaftsweise an die jeweilige geographische Lage angepasst und Ackerbau und Viehzucht in unterschiedlicher Gewichtung praktiziert wurden. Ob die indigenen Gemeinschaften wie Agropastoralisten, also in ei-ner Kombinationsform von Viehwirtschaft auf Offenland mit einer Feldwirtschaft zur Existenzsicherung, lebten und wirt-schafteten, oder andere Lebens- und Wirtschaftsformen prak-tizierten, soll im Folgenden diskutiert werden1138.

Pastoralismus

Insbesondere der Nachweis von pastoraler Wirtschaftsweise gestaltet sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage schwie-rig1139. Bei genauer Betrachtung lassen sich allerdings auch ohne flächendeckende, systematische Tierknochenuntersu-chungen Indizien finden, die auf eine wichtige Rolle der Vieh-haltung hindeuten. Dabei soll eine besondere Form dieser Wirtschaftsweise im Fokus stehen, deren Praktizierung in der gegebenen Zeitregion in der Forschung vereinzelt angespro-chen, aber nie eingehender diskutiert wurde – die Wanderwei-dewirtschaft (Transhumanz). Archäologische Indizien für diese Praxis sollen im Folgenden zusammengetragen und diskutiert werden1140.

Die große Bedeutung, die Pastoralismus im antiken Mit-telmeerraum besaß, wurde erst in jüngerer Zeit wieder in der Forschung gewürdigt. Transhumanzbewegungen, d. h. der sai-sonale Wechsel der Weideflächen, der teilweise über sehr lange Distanzen erfolgen konnte, sind spätestens seit dem Mittelalter für den gesamten Mittelmeerraum in erheblichem Umfang be-legt1141. Aus Mittel- und Süditalien finden sich Hinweise seit der späten römischen Republik1142. Nach Gerhard Waldherr entwickelt sich die überregionale, Distanzen über 100 km

zwi-Aufidus tauriformis, also vom „stierförmigen Ofanto“ (bzw. vom Ofanto, der sich „einem Stier gleich“ durch des Dichters Heimat-region wälzt) durchflossen beschrieben – ob dies allerdings auch als Anspielung auf Viehzucht als dortige Hauptwirtschaftsweise oder saisonal durchziehende Rinderherden, wie sie noch von Ferdinand Gregorovius für das späte 19. Jh. beschrieben werden, verstanden werden kann, ist fraglich (Gregorovius 1939, 695; seine Beschrei-bung bezieht sich auf die Begegnung mit einer Rinderherde bei Cerveteri in Latium, wird aber bezeichnenderweise im Abschnitt zu den endlosen apulischen Wanderweidewegen wiedergegeben, auf denen sich seiner Ansicht nach das in Latium Gesehene noch

„sonderbar[er]“ ausmachen muss).

1138 Agropastoralismus ist eine Form des Halbnomadismus, weil der Getreideanbau einen festen Wohnsitz erfordert und die Viehhal-tung einen ständigen Wechsel des Weidelands verlangt. Zwar wech-seln auch Agropastoralisten in der Regel zwischen einem festen Wohnsitz und verschiedenen mobilen Behausungen, sind aber oft Selbstversorger und haben meist kleinere Herden. Im Unterschied dazu stehen reine Hirtengesellschaften, deren meist stark über den Eigenbedarf gesteigerte Produktion auch dazu dient, agrarische Produkte von ebenfalls wieder auf diesen anderen Wirtschaftszweig spezialisierten Produzenten zu erlangen bzw. einzutauschen; vgl.

Forbes 1995.

1139 Zu einer Definition des Pastoralismus s. Scharrer 2002, 289–290.

1140 Für eine separate, eingehendere Betrachtung des Themas s. Heitz 2015.

1141 Zur Definition von Transhumanz s. Waldherr 2001, 331–335.

1142 Santillo Frizell 2009, 25. 29–30.

grundlage der Gesellschaft von Ruvo del Monte Pastoralismus und Jagd, Kontrolle über das umliegende Gebiet und mögli-cherweise räuberische Aktivitäten1131. Die Bedeutung der Jagd könnte nur durch eine systematische Analyse von Tierkno-chenfunden verifiziert werden, der Nachweis räuberisch-krie-gerischer Aktivitäten zur Gemeinschaftsversorgung aufgrund von archäologischen Hinweisen fällt noch schwerer. Tatsäch-lich belegen archäozoologische Untersuchungen, dass in Bo-tromagno in der frühen Zeit Hirsche gegessen wurden1132. Die Jagd auf dieses Tier ist an derselben Stätte auf einer Olla des 5.

Jh. aus Grab 9 dargestellt1133. Wahrscheinlich ebenso als Jagd-beute gemeint war der hirschförmige Anhänger aus Grab 6 von Melfi-Chiuchiari (vgl. Abb. 50)1134.

Gerade in ländlichen Gesellschaften außerhalb größerer Zentren bestimmt eine meist von der Nutzung der natürli-chen Ressourcen und einem jährlinatürli-chen Zyklus determinierte Wirtschaftsweise das konkrete Umfeld und den Tages- und Jahresrhythmus der Menschen. Sie ist oft auch auf das Engs-te mit der sozialen Organisation und den unEngs-terschiedlichen Gruppen identitäten verknüpft. Für Ripacandida wie für das gesamte eisenzeitlich-archaische Süditalien ist anzunehmen, dass Agrar- und Viehwirtschaft die Grundlage der Selbstver-sorgung darstellte1135. Angesichts der naturräumlichen Gege-benheiten insbesondere im Bereich des zentralen Binnenlandes mit seinem teilweise sehr hügeligen Relief und starken Baum-bestand ist unwahrscheinlich, dass Ackerbau dort die alleinige Wirtschaftsweise dargestellt hat1136: Die nordapulische Region, in der das Gelände sich von den Ausläufern des Südapennin zu den sanften Ebenen der adriatischen Küste öffnet, war eher für die Landwirtschaft geeignet, während die bewalde-te Hügellandschaft Nordlukaniens noch in der Spätantike als Zentrum der Schweinezucht (die mit den rei chen Wald-frucht-Erzeugnissen gemästet werden konnten) galt1137. Es ist

ausgeschlossen (und zwar auf archäologischer Grundlage, d. h. auf-grund des nachweisbaren Beginns von Wein- und Olivenölkonsum, den er erst im 5. Jh. – Wein Anfang 5. Jh., Öl Ende 5. Jh. – in Süditalien als nachweisbar erkennt), belegen die neuen Ergebnisse aus Torre di Satriano das Vorkommen und den Konsum von Wein (allerdings unklarer Herkunft) schon im späten 7. Jh., s. o. S. 157.

1131 Scalici 2009, 50–51; vgl. ebenfalls Russo Tagliente 1992, 41. Die Waldweidewirtschaft wird für spätere Zeiten bezeugt durch Ovid (Ov. fast. 1, 243–244).

1132 Dobney, in: Whitehouse u. a. 2000, 45.

1133 Whitehouse u. a. 2000, 167–172 Abb. 97–99; vgl. auch die Hirsch-darstellungen aus Grab 37 von Baragiano (Russo, in: Russo – Di Giuseppe 2008, 56). Der (wilde) Eber taucht als gefährliches Jagd-wild zumindest ikonographisch auf sehr vielen apulo-korinthischen Helmen auf; vgl. Popoli Anellenici 1971, 105 (Melfi-Chiuchiari), 115 (Leonessa); auch Bottini 1988.

1134 Popoli Anellenici 1971, 108 (Abb. Titelbild); Mitro – Notarangelo 2016, Taf. IX Abb. 35.

1135 Spezialisiertes Handwerk lässt sich aus den Grabfunden nicht able-sen, auch wenn mit großer Wahrscheinlichkeit auch in einer klei-nen Stätte wie Ripacandida eine lokale Keramikproduktion nach-weisbar ist; Setari 1999.

1136 Vgl. die palynologischen Untersuchungen für das Gebiet um Melfi/

Monticchio: Allen u. a. 2002 und s. o. S. 35–36.

1137 Waldherr 2002, 432 Anm. 18; Cassiod. var. 11, 39 (533–353);

Daunien wird lyrisch von Horaz (Hor. carm. 4, 14, 25) als vom

mittelalterlichen Beispiel1152. Tatsächlich findet sich die Wirt-schaftsform schon im antiken Drama: In seiner Tragödie „Kö-nig Ödipus“ beschreibt Sophokles, wie ein Diener (von Beruf Hirte) den kleinen Prinzen auf Befehl des Königs Laios zum etwa 20 km von Theben entfernten Berg Kithairon mitnimmt, um ihn dort auszusetzen und durch Sonne und wilde Tiere sterben zu lassen. Unfähig den grausamen Befehl auszufüh-ren, übergibt der Diener das Kind dort einem anderen Hir-ten, der regelmäßig zur Sommerweide mit seinen Herden aus dem Gebiet des 50 km entfernten Korinth hierherkommt1153. Dieser Passus belegt Transhumanz in der heroischen Vergan-genheit, aber höchstwahrscheinlich auch ihre historische Re-alität in der Entstehungszeit des Dramas im 5. Jh. Darüber hinaus bezeugt die Stelle auch die Funktion der Weideflächen als Austauschzonen – in diesem Falle des kleinen Ödipus. Die hier beschriebene Transhumanz überwindet eher kurze Dis-tanzen, die wahrscheinlich innerhalb weniger Tage bewältigt werden konnten, aber trotzdem einen langen, mehrmonati-gen Aufenthalt am Zielpunkt nach sich zomehrmonati-gen. Zudem wurde überzeugend dargelegt, dass Transhumanz in archaischer Zeit (8.–6. Jh.) nicht nur ein ökonomisch wichtiger Faktor war, sondern auch in der Kulttopographie Spuren hinterließ1154: In Griechenland entwickelten sich die Heiligtümer zu größe-ren überregionalen Kultplätzen, die in Gebieten mit starkem pastoralen Aspekt lagen (Delphi, Olympia, Dodona). Delphi etwa liegt sehr wahrscheinlich an einer wichtigen Viehtriftrou-te, und die Zusammenkunft der Kultverwaltung (Amphiktyo-nie) zum Zeitpunkt der saisonalen Hirten- und Herdenbewe-gungen lässt vermuten, dass Kultaktivitäten und Transhumanz eng verbunden waren und letztere die Entwicklung der inter-nationalen Rolle des Heiligtums förderte1155.

Klima

Einige Überlegungen sprechen dafür, dass auch in Süditalien schon in der Eisenzeit Transhumanz betrieben wurde. Die to-pographisch-klimatischen Gegebenheiten des Gebietes, die in späterer Zeit die Praktizierung dieser Wirtschaftsform nahezu erforderlich machten, waren auch Jahrhunderte früher schon von denselben Faktoren geprägt: Die hochgelegenen Täler und Hochebenen des bergigen Binnenlandes mit gemäßigten Tem-peraturen und Wasserreichtum sind im Sommer ideale

Wei-1152 Zu den großen Transhumanzbewegungen im römischen Italien s.

Corbier 1991 und Frayn 1984.

1153 Soph. Oid. T. 1132–1139. Der Kithairon (heute Elatia) war auch der Ort, an dem im Mythos Herakles seine Herden weiden ließ.

1154 Die religiöse Bedeutung dieser Wirtschaftsweise spiegeln auch die großen Feste wider, die in historischer Zeit die Phasen von Abrei-se und Ankunft der wandernden Hirten und ihrer Herden beglei-teten; das wichtigste religiöse Fest der Samniten etwa war der ver sacrum (heiliger Frühling), der im Mai begangen wurde und den Beginn der Sommerweide markierte (Strab. 5, 4, 12). Bis in heutige Zeit wird das Fest des heiligen Michael, Patron der Hirten, am 29.

September und 08. Mai mit Messen, Prozessionen und Jahrmärk-ten gefeiert (Santillo Frizell 2009, 35. 80).

1155 Wagner-Hasel 2002, 168–169; zu weiteren Darstellungen der Rolle von Pastoralismus in Griechenland s. Chaniotis 1995, Hodkinson 1998 und die ältere Studie von Georgoudi 1974.

schen Sommer- und Winterweide überwindende langwegige (long-distance) Transhumanz spätestens seit dem beginnenden 2. Jh.1143. Varro berichtet, dass seine Schafherden von den Som-merweiden bei Reate in Latium im Winter auf Weidegebiete in Apulien getrieben wurden1144. Das bekannteste Zeugnis für die Existenz langer Transhumanzrouten ist eine kaiserzeitliche Inschrift aus Saepinum, die von den Schwierigkeiten zeugt, die die wandernden Hirten mitunter mit den lokalen Beamten der Städte, die sie passierten, hatten1145. Ein weiterer, eindringli-cher Beleg für die damit verknüpften persönlichen Schicksale sind die Grabinschriften zweier Brüder, die von ihren Eltern an weit entfernten Orten entlang einer solchen Route bestattet werden mussten1146. Im späten Mittelalter wurde diese Wirt-schaftsweise zu einem staatlich verordneten und besteuerten System mit einem Netzwerk von Triftwegen, das Zentralitali-en mit dZentralitali-en EbZentralitali-enZentralitali-en von ApuliZentralitali-en und dem Tavoliere verband.

Dieses System, die Dogana della Mena delle Pecore di Puglia, sah jährlich die Wanderungsbewegung von mehreren Millio-nen Stück Vieh (v. a. Schafe)1147. In diesem Ausmaß verlangte es auch die saisonale Wanderung von tausenden Hirten über hunderte von Kilometern. Die Routen dieses großräumigen Transhumanzsystems (die sogenannten tratturi) sind teilweise noch heute sichtbar1148.

Über die Frage vorrömischer Transhumanz im Mittelmeer-raum hat es einige Diskussionen gegeben: Einige Forscher lehnen die Vorstellung gänzlich ab1149, andere sehen die Mög-lichkeit ihrer Praktizierung1150, manche im Rahmen einer eher kurzwegigen Unternehmung mit kleinen Herden1151 oder so-gar als größeres Phänomen ähnlich zum römischen oder so-gar

1143 Waldherr 2002, 431; an anderer Stelle (Waldherr 2001, 344) nimmt er für die Entstehung der long-distance-Transhumanz sogar schon das 3. Jh. an.

1144 Varro rust. 2, 2, 9.

1145 CIL IX, 2438.

1146 Crawford 2005, 161; eine bei Sulmo/Sulmone in den Abruzzen (CIL IX, 3113; heute Provinz L’Aquila), die andere bei Canosa (Chelotti 1985, Nr. 78).

1147 Garnsey 1988, 199; Heitz 2020.

1148 z. B. Zöbl 1982; Volpe u. a. 2010, Sprengel 1971. Wie beeindru-ckend die Triften großer Herden waren, schildert noch Ferdinand Gregorovius: Gregorovius 1997, 624–625. Man beachte auch die hohe kulturelle Bedeutung, die Fernand Braudel (Braudel 1994, 120–134) diesem System auf der Zeitebene des longue durée zu-schreibt.

1149 Lewthwaite 1981, 60; Cherry 1988, 17. 25 glaubt, dass ein elabo-riertes, großvolumiges Transhumanzsystem ähnlich der mittelalte-richen Dogana in prähistorischer Zeit, wenn überhaupt, nur in ei-nem wirtschaftlichen Umfeld wie dem der minoisch-mykenischen Palastadministration funktioniert haben könnte. Vgl. auch die skeptische Sicht in Waldherr 2001, 344; Waldherr 2002, 431.

1150 Chapman 1979; Geddes 1984; Roubet 1985, Weiss 1990.

1151 Als eine Art der vertikalen Transhumanz; Pasquinucci 1979, 93 f.;

Theokrit (3. Jh.) beschreibt in seinen bukolischen Gedichten (Idyl-len 8, 15–16) junge Hirten, die sich tagsüber auf den Weideflächen treffen, abends aber wieder zu den Ställen zurückkehren, was für kurze Wanderwege sprechen würde – ein System, das im Mythos auch vom Kyklopen Polyphem praktiziert wurde (Odyssee, Buch 9).

die Salzzufuhr der Tiere sehr wichtigen Salzwiesen nutzte man auch schon in der Antike gern Weidegründe, die mit schwefel-haltigem Wasser durchsetzt waren1162.

Stätten und Wege

Lassen sich auch im archäologischen Befund Belege finden, die die Annahme transhumanter Lebens- und Wirtschafts-weise in der untersuchten Zeitregion stützen können? Un-terschiedliche Faktoren können als Hinweise herangezogen werden. Zum Beispiel könnte die Siedlungsweise als Indiz für eine unterschiedliche Präferenz der (Haupt-)Subsistenz- bzw.

Wirtschaftsform dienen: Im hügeligen Binnenland spiegelt die Siedlungswahl eine deutliche Präferenz für Höhenlagen. Hier dominieren Stätten wie Serra di Vaglio (Basento-Tal), Oppido Lucano (Bradano-Tal), Baragiano (Marmo-Platano-Gebiet), Ruvo del Monte, Ripacandida etc., die auf ihren erhöhten Plätzen wohl auch eine Kontrollfunktion über die unter ihnen verlaufenden Wege oder Pässe wahrnahmen1163. Wenn nicht aus ständiger Angst vor Überschwemmungen oder Kriegen (beides unwahrscheinlich) die Höhen aufgesucht wurden, war es die Wirtschaftsweise, die diese Wahl bedingte: Eine erhöhte Position ermöglicht die Sichtkontrolle über weite flächige Are-ale ebenso wie über lineare Routen oder Wegesysteme. Ersteres wäre mit Ackerbau und stationärer Viehwirtschaft zu verbin-den, letzteres wäre eher mit Handel oder Wanderweidewirt-schaft zu assoziieren.

In den wichtigen Siedlungen im hügeligen nordlukani-schen Raum wie etwa Serra di Vaglio und Baragiano zeigt die Präsenz von (Luxus- und) Importgütern, dass die dortige in-digene Bevölkerung fähig war, diese Waren über relativ weite Strecken zu beschaffen, wahrscheinlich gegen Austauschgüter, die sie in Überschusswirtschaft produzierten1164. Beide Stätten liegen sowohl in Höhenlage als auch am Verlauf von Fernver-bindungen – so liegt Vaglio etwa über dem Basento-Tal am Kreuzungspunkt diverser antiker Straßen: In W-O-Richtung verläuft die Hauptverbindungsstraße zwischen Metapont und Sybaris an der ionischen Küste und Poseidonia/Paestum an der tyrrhenischen Küste, während in andere Richtungen weitere, in einheimische Zentren wie Oppido, Acerenza, Cancellara etc. Wege führen1165. Weitere Hinweise auf wichtige Wege- und mögliche Transhumanzrouten finden sich auch im Gebiet von Matera, nahe der bronze- und eisenzeitlichen Stätte von Timmari, durch deren Gemarkung Rifecca bis zum Ende des 20. Jh. eine Transhumanzroute zur ionischen Küste führte1166. Ebenso war Baragiano noch in moderner Zeit eine wichtige Wegestation der Transhumanz. Die erhöht liegenden Stätten genießen eine sehr weite und gute Sicht über das umliegende

1162 4 % der Schafwolle besteht aus Schwefel; Santillo Frizell 2009, 27.

1163 Tagliente 1999, 14. Quasi ein ‚Zwitter‘ und an der Grenze dieser beiden Gebiete gelegen ist Melfi mit den Nekropolen von Pisciolo im Ofantotal und Chiuchiari auf dem Hügel.

1164 Osanna – Scalici 2011, 669–670.

1165 Lo Porto – Ranaldi 1990, 293; Mertens-Horn 1990, 79.

1166 In unmittelbarer Nähe fand sich eine Bestattung aus der zweiten Hälfte des 6. Jh.; Colucci 2009, 102 vgl. Abb. 5.

degründe, während im Winter raues Klima mit Schnee bis in den Frühling herrscht. In den Küstenebenen ist die Situation genau umgekehrt: Im Sommerhalbjahr wird der Boden von der Sonne verdorrt, im Winter dagegen gibt es Feuchtigkeit und ein mildes Klima1156. Die klimatischen Bedingungen wa-ren also ungünstig für eine ganzjährige, ortsfeste Haltung von Großvieh in den Küstengebieten. Ebenso wenig war es einträg-lich, größere Herden von Weidetieren das ganze Jahr über in den Bergen zu halten, da man sie im Winter hätte einstallen und füttern müssen. Zwar war die heute relativ offene, agra-risch genutzte Fläche des süditalienischen Binnenlandes in der Antike stärker bewaldet, aber auch zu dieser Zeit gab es sicher neben Waldweiden auch offene Weidegründe1157. In einer sol-chen klimatisch-geographissol-chen Situation ist Transhumanz die ideale Wirtschaftsform. Die maximal zu denkende Wanderzeit zwischen den Weidegründen beträgt dabei in der Regel etwa einen Monat1158. Mit ihr können beide Zonen jeweils optimal ausgenutzt werden. Das Vieh wird unter Aufsicht und dem Wechsel der Jahreszeiten folgend auf die Weiden der beiden

degründe, während im Winter raues Klima mit Schnee bis in den Frühling herrscht. In den Küstenebenen ist die Situation genau umgekehrt: Im Sommerhalbjahr wird der Boden von der Sonne verdorrt, im Winter dagegen gibt es Feuchtigkeit und ein mildes Klima1156. Die klimatischen Bedingungen wa-ren also ungünstig für eine ganzjährige, ortsfeste Haltung von Großvieh in den Küstengebieten. Ebenso wenig war es einträg-lich, größere Herden von Weidetieren das ganze Jahr über in den Bergen zu halten, da man sie im Winter hätte einstallen und füttern müssen. Zwar war die heute relativ offene, agra-risch genutzte Fläche des süditalienischen Binnenlandes in der Antike stärker bewaldet, aber auch zu dieser Zeit gab es sicher neben Waldweiden auch offene Weidegründe1157. In einer sol-chen klimatisch-geographissol-chen Situation ist Transhumanz die ideale Wirtschaftsform. Die maximal zu denkende Wanderzeit zwischen den Weidegründen beträgt dabei in der Regel etwa einen Monat1158. Mit ihr können beide Zonen jeweils optimal ausgenutzt werden. Das Vieh wird unter Aufsicht und dem Wechsel der Jahreszeiten folgend auf die Weiden der beiden

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