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2.2 Nationale und internationale Berichterstattungssysteme

2.2.3 Sozialberichterstattung

2.2.3.3 Lagekonzepte

Der Begriff der Lebenslage ist im Rahmen der Sozialberichterstattung eine zentrale Kategorie. Er wird im Zusammenhang mit Lebensbedingungen oder Synonym für diese, mit Lebensstilen und sozialen Milieus genannt.87 In vielen Publikationen wird der Begriff

‚Lebenslage’ als nicht näher definierter Grundbegriff verwendet.88 Häufig wird der Begriff

‚Lebenslage’ im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit oder Armut verwendet. Nach Wendt lässt sich die Lebenslage verstehen als „eine Berücksichtigung aller Umstände, unter denen sich eine Person befindet, auf mehreren Ebenen der Betrachtung, in Relation zu und mit Rücksicht auf die Fähigkeit, mit den Verhältnissen zurechtzukommen, und auf die Absichten, die man nach seinem Lebensentwurf verfolgt.“89 Dabei ist die Lebenslage abhängig von inneren und äußeren Faktoren – auch Milieu genannt – sowie den Wechselwirkungen zwischen diesen. Lebenslagen lassen sich als individuelle Ressourcen- und Belastungsverteilungen sowie Bedingungskonstellationen (d.h. durch Lebenslagen sind Handlungsspielräume und Lebenschancen vorgegeben) beschreiben.90

Die historischen Wurzeln des Lebenslagenkonzepts gehen zurück bis zu Friedrich Engels91, der die (soziale) Lage der englischen Arbeiterschaft im Frühkapitalismus charakterisierte und Max Weber92 mit seiner Beschreibung der (sozialen) Lage der ostelbischen Landarbeiter Ende des 19. Jahrhunderts. In den 1920er und 3oer Jahren nimmt Neurath erstmals eine theoretische und methodische Begriffsbestimmung vor.

Ausgehend von Analysen der Versorgungsformen der Bevölkerung in Kriegszeiten gehören für ihn alle Umstände zur Lebenslage, „die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltensweise eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen. Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage …“.93

Die Konzepte der 1950er Jahre bis zur Gegenwart beinhalten neben einer soziologischen Grundausrichtung auch ökonomische und sozialpolitische Aspekte.94 Die Entwicklung von Lebenslagen gilt daher als ein multidisziplinärer Ansatz. Theoretisch und empirisch entwickelte Lebenslagen und ihre handlungsorientierte Deskription von objektiven und subjektiven Lebensbedingungen erfordern (sozial)staatliche Planung und Steuerung.

Damit beinhalten Lebenslagenkonzepte zugleich Theorie, Empirie und Anwendung.95 Dies begründet die Bedeutung der Lebenslagenkonzepte für die (angewandte)Sozialpolitik, sie spiegelt sich wieder in den zahlreichen Forderung aus dem politischen Raum. Als Beispiele seien der Antrag zur Erstellung eines Sozial-, Armuts- und Reichtumsberichts durch die Landesregierung Thüringen 1999, der Antrag 2000 in Hamburg zur Ausweitung der Sozialberichterstattung und die Anträge der Berliner

87 Kretzschmar/Lindig (1991:76)

88 Glatzer/Neumann (1993:43)

89 Wendt (1986:140)

90 Berger/Hradil (1990:10); Glatzer/Neumann (1993:45)

91 Engels (1972, zuerst 1845)

92 Weber (1988, zuerst 1894)

93 Neurath (1931) zitiert nach Backes (1997:706)

94 Naegele, Tews (1993); Amann (1983)

95 Backes (1997:708-710)

Oppositionsparteien Bündnis 90/Die Grünen und PDS 1997 für einen Sozialbericht genannt.96 Gemeinsam ist diesen Anträgen die Forderung nach Berücksichtigung des Lebenslagenansatzes, die Entwicklung von Handlungsfeldern und die Entwicklung von Strategien z.B. zur Armutsbekämpfung.

Seit Anfang der 80er Jahre entwickelt die soziologische Ungleichheitsforschung - alternativ zu den Klassen- und Schichtenmodellen - als Antwort auf gesellschaftliche Differenzierungs- und Modernisierungsprozesse zunehmend Konzepte zu Lebenslagen und sozialen Lagen weiter. Die Klassen- und Schichtenmodelle werden kritisiert, da der Beruf als zentrales Merkmal bei der Bildung der Klassen bzw. Schichten dominiert und Kriterien wie Geschlecht, Alter, Region und Nationalität in den Hintergrund drängt. Die Klassen- und Schichtenkonzepte messen vertikale Ungleichheit, während Lebenslagekonzepte horizontale Disparitäten messen.97

Auch heute gibt es in der Sozialstrukturforschung anhaltende kontroverse Diskussionen, ob die traditionellen Klassen- und Schichtenkonzepte oder die Lebenslagekonzepte geeigneter sind zur Abbildung der verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit. Während Klassen- und Schichtenkonzepte ausschließlich objektive Bedingungen (Schulbildung, Ausbildung, Einkommen) einschließen, beziehen Lagekonzepte auch subjektive Lebensbedingungen mit ein. Die theoretische Soziologie begründet ihre Kritik an den Lebenslagenkonzepten durch den Vorwurf einer vermeintlichen Theoriearmut und eine Konzentration auf die Deskriptionsebene, die empirische Soziologie benennt die schwierige Operationalisierung, Datenbeschaffung und empirisch-statistische Modelle.98 Die in der sozialwissenschaftlichen Diskussion vertretenen unterschiedlichen Forschungsansätze erlauben nicht, von ‚der’ Lebenslagenforschung zu sprechen:

Die üblicherweise als Lebenslagenmodelle bezeichneten Konzepte werden überwiegend von empirisch arbeitenden Wissenschaftlern beschritten, die auch als Vertreter der Sozialindikatorenforschung gelten. Dazu gehören Habich, Landua, Noll und Zapf. Der Kern dieses Ansatzes – auch als objektive Variante bezeichnet – lässt sich wie folgt beschreiben: Bestimmte objektive Lebensbedingungen bilden den Rahmen (Spielraum), über den der/die Einzelne verfügt, um sein/ihr Leben zu gestalten. Ausgangspunkt sind eine oder wenige zentrale Variablen mit Hilfe derer soziale Lagen definiert werden. Als objektive (Rahmen)Bedingung wird üblicherweise der Erwerbsstatus unterschieden nach der Stellung im Beruf und/oder nach dem Alter.

So wird die Gesamtbevölkerung bzw. eine Bevölkerungsgruppe in eine feststehende Zahl von Lebenslagen eingeteilt. Diese Lebenslagen werden dann z.B. hinsichtlich ihres Einkommens, dem Familienstand, der Wohnsituation, der Lebensqualität miteinander verglichen. Nach dieser Vorgehensweise kommt Zapf auf 46 Lagen für die alte Bundesrepublik oder Buhlmann auf 10 Lebenslagen in West- und Ostdeutschland. In den genannten Konzepten werden Lebensbedingungen als

96 Tierbach (1999); Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (2000); Abgeordnetenhaus von Berlin (1997a) und (1997b)

97 Fuchs (1995:5-6)

98 Backes (1997:704-705)

Ressourcen betrachtet, die wie die Erwerbstätigkeit nicht nur für gegenwärtige Betrachtungen relevant sind, sondern von denen auch Bezüge bei späterer Erwerbslosigkeit oder Rentenbezug abhängen. Dies hat im Rahmen der Sozialberichterstattung für alle Fragestellungen die mit dem Arbeitsmarkt oder dem Sozialversicherungs- oder Rentenfinanzierungssystem zusammenhängen große Bedeutung.99

Abbildung 2.2.3: Lebenslagenmodell

(Quelle: nach Buhlmann (1996:29); eigene Darstellung)

Neben dem Lebenslagenmodell gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion das Modell der sozialen Lagen. Der vor allem von Hradil (theoretisch) vertretene Ansatz versucht möglichst das gesamte Spektrum ungleicher Lebensbedingungen zu erfassen ohne sich von Beginn an auf ökonomische Variablen zu konzentrieren. Das bedeutet, ökonomische Dimensionen (Einkommen, Bildung, Berufsprestige u.a.), wohlfahrtsstaatliche Dimensionen (Arbeitslosigkeit, Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen u.a.) und soziale Dimensionen (soziale Beziehungen, Diskriminierungen, Privilegien u.a.) fließen als objektive (Rahmen)Bedingungen gleichberechtigt in das Modell ein. Eine Differenzierung in verschiedene soziale Lagen erfolgt nicht ausgehend von definierten Gruppen sondern entsteht durch die Kombination vorteilhafter oder nachteiliger Lebensbedingungen. Soziale Lagen sind erst der Endpunkt der Analysen.100

99 Schwenk (1999:280-285)

100 Schwenk (1999:285-291)

Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung

Erwerbstätige Nichterwerbstätige

Stellung im Beruf Alter

Differenzierung nach Erwerbsstatus

10 Soziallagen in Deutschland 10 Soziallagen in Deutschland

Leitende Angestellte

Selbständige Hochqualifizierte Angestellte

Arbeiterelite Qualifizierte

Angestellte Facharbeiter

Un- u. Angelernte

Einfache Angestellte

Junge Nicht-erwerbstätige

Rentner

Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung

Erwerbstätige Nichterwerbstätige

Stellung im Beruf Alter

Differenzierung nach Erwerbsstatus

10 Soziallagen in Deutschland 10 Soziallagen in Deutschland

Leitende Angestellte

Selbständige Hochqualifizierte Angestellte

Arbeiterelite Qualifizierte

Angestellte Facharbeiter

Un- u. Angelernte

Einfache Angestellte

Junge Nicht-erwerbstätige

Rentner

Abbildung 2.2.4: Modell der sozialen Lagen

(Quelle: nach Schwenk (1999:287); eigene Darstellung)

Während es aus wissenschaftstheoretischer Sicht sinnvoll erscheint, zunächst die Gesamtheit relevanter Lebensbedingungen - wie im Konzept der sozialen Lage - zu betrachten, erweist es sich bei der empirischen Umsetzung häufig als schwierig, die einzelnen Ausprägungen zu operationalisieren. So bleiben Modelle zur sozialen Lage meist nur theoretisch, praktische Anwendungen der Lagenforschung stützen sich sehr häufig auf die Lebenslagenkonzepte.

Lebenslage beinhaltet sowohl eine objektive als auch eine subjektive Dimension. Mit Untersuchungen, wie dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) und dem Wohlfahrtssurvey werden regelmäßig beide Dimensionen abgebildet. Beantwortet werden kann damit die Frage der subjektiven Bewertung objektiver Lebensbedingungen, wichtig u.a. für die Bewertung der Entwicklungen in den neuen und alten Bundesländern.101

Im Folgenden werden die wichtigsten Erhebungen für Lebenslagenanalysen und ihre jeweiligen Dimensionen dargestellt (zur systematischen Einordnung in die in Deutschland verfügbaren Sozialdatenquellen vgl. Abschnitt 2.2.3.4):

Das Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien (BISS) verwendete für die forschende Begleitung des sozialen Wandels im Osten Deutschlands seit 1990 im Projekt „Lebenslagen und soziale Strukturen im Umbruch“ die Dimensionen Einkommen, Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen, soziale Sicherung, Bildungs- und Qualifikationsniveau, Macht, territoriale Reproduktionsbedingungen, Besitz,

101 Wagner (1991:23-25)

Soziale LagenSoziale Lagen

Ökonomische Dimension

Wohlfahrtstaatliche Dimension

Soziale Dimension

Einkommen Bildung Wohnungsausstattung

Wohn(umwelt)bedingungen Arbeitsbedingungen

Arbeitsbedingungen Arbeitsbedingungen

Soziale LagenSoziale Lagen

Ökonomische Dimension

Wohlfahrtstaatliche Dimension

Soziale Dimension

Einkommen Bildung Wohnungsausstattung

Wohn(umwelt)bedingungen Arbeitsbedingungen

Arbeitsbedingungen Arbeitsbedingungen

Prestige und Mobilitätschancen.102 Zu den Dimensionen vgl. Tabelle A 2.2.1 im Anhang.

Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) ist eine seit 1984 laufende jährliche Wiederholungsbefragung von Deutschen und Ausländern in Deutschland zur empirischen Beobachtung des sozialen Wandels. Themenschwerpunkte sind die Haushaltszusammensetzung, Erwerbs- und Familienbiographie, Erwerbsbeteiligung und berufliche Mobilität, Einkommensverläufe, Gesundheit und Lebenszufriedenheit.

Im Rahmen variierender thematischer Vertiefungen werden Aspekte wie Bildung und Weiterbildung, Soziale Sicherung und Armut sowie soziale Netzwerke erhoben. Für das Gebiet der ehemaligen DDR wurde 1990 eine Basisbefragung als Ausgangspunkt der Längsschnittdatenbasis durchgeführt (Stichprobenumfang: rd. 2.000 Haushalte mit 6.000 Personen). Ab dem Jahr 2000 wurde die Stichprobe für Deutschland insgesamt verdoppelt, sie umfasste im Erhebungsjahr 2002 mehr als 12.000 Haushalte mit fast 24.000 Personen. Tiefer gegliederte Regionalinformationen sind damit verstärkt möglich, z.B. nach Gemeindegrößenklassen, Raumordnungsregionen oder auch Bundesländern. Je nach wissenschaftlicher Fragestellung wird die spezifische Fallzahl geprüft, die einerseits statistisch signifikante Aussagen zulässt und andererseits den hohen Anforderungen des gesetzlichen Datenschutzes in Deutschland entspricht. Das Sozio-ökonomische Panel wird vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführt.103 Zu den Dimensionen vgl. Tabelle A 2.2.2 im Anhang.

Der Wohlfahrtssurvey fragt nach individuellen, privaten und öffentlichen Lebensbereichen – von Arbeit, Bildung und Ausbildung, Wohnung, Freizeit, Familie, Gesundheit, Einkommen bis zur öffentlichen Sicherheit und dem Umweltschutz.

Subjektive Indikatoren der wahrgenommenen Lebensqualität – wie Hoffnungen, Ängste, wahrgenommene Konflikte, Wünsche, Sorgen und Zufriedenheiten – werden im Vergleich und im Zusammenhang mit der objektiven Lebenslage erfragt und analysiert. In den alten Bundesländern wurde der Wohlfahrtssurvey in den Jahren 1978, 1980, 1984 und 1988 durchgeführt (Stichprobenumfang zwischen 2.000 und 2.500 Befragte), auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wurde 1990 der Wohlfahrtssurvey-Ost (Stichprobenumfang rd. 700 Befragte) durchgeführt. 1993 und 1998 wurden Wohlfahrtssurveys für Deutschland insgesamt (Stichprobenumfang von rd. 3.000 Befragten) vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen Mannheim (ZUMA) durchgeführt.104 Zu den Dimensionen vgl. Tabelle A 2.2.3.

102 Kretzschmar/Lindig (1991:76)

103 DIW (2004); Statistisches Bundesamt (2002)

104 Habich/Landua (1991:84-87); Statistisches Bundesamt (2002)