4 Konzept einer integrierten Gesundheits- und Sozialberichterstattung im regionalen Ansatz und seine
4.4 Empirische Anwendung
4.4.1 Ergebnisse für ausgewählte deutsche Städte .1 Einzeldaten
4.4.1.2 Indizes
Ausgangsvariante
Für die Faktorenanalyse der 39 deutschen Städte mit einer Einwohnerzahl größer/gleich 200.000 Einwohner waren zunächst zwei Varianten denkbar:
Einbeziehung aller 42 Leit- und Ergänzungsindikatoren der Bereiche Demographie, Bildung, Einkommen, Erwerbsleben, Wohnen, Partizipation, Gesundheitszustand und Gesundheitsversorgung. Dies führte unter der Bedingung, der Eigenwert sei größer als 1 (so genanntes Kaiser-Kriterium) zur statistischen Identifikation von 9 Faktoren. Vier der extrahierten Faktoren erklärten dabei nur jeweils eine bzw. zwei Variablen – eine
Reduzierung auf insgesamt 5 Faktoren war unter diesem Aspekt angezeigt. Eine sinnvolle inhaltliche Erklärung war jedoch durch die Reduzierung der Faktoren noch nicht möglich.
Einbeziehung aller 19 Leitindikatoren aus den o.g. Bereichen. Die Faktorenanalyse identifizierte hier 3 Faktoren mit einem Eigenwert größer 1. Die inhaltliche Interpretation der einzelnen Faktoren und damit die räumliche Zuordnung wurde jedoch nicht als ausreichend empfunden.
Die Lösung der Frage, welche der zur Verfügung stehenden Variablen in die Faktorenanalyse einbezogen werden sollten, um eine sinnvolle Charakterisierung der sozialen und gesundheitlichen Lage der einzelnen Städte Deutschlands zu erreichen, wurde durch folgende Kriterien begründet:
Die Analyse der Korrelationsmatrix führte zu einem Ausschluss von Variablen aus statistisch-methodischer Sicht. So wurden Variablen, die eine starke inhaltliche Korrelation zu anderen Variablen des gleichen Bereichs aufwiesen, und diese dadurch vertreten bzw. den gleichen Sachverhalt erklären, ausgeschlossen. Beispielsweise kann auf die Variablen Außen- und Binnenwanderungssaldo insgesamt verzichtet werden, wenn die Variable Gesamtwanderungssaldo berücksichtigt wird (Korrelationskoeffizient 0,510 bzw. 0,807 auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig)); alle Variablen gehören zum Bereich Demographie. Diese Eliminierung widerspricht nicht der als Voraussetzung der Faktorenanalyse geltenden notwendig hohen Korrelation zwischen den Variablen (vgl. auch multivariate Analysemethoden im Abschnitt 3.2.1).
Variablen, die eine stark trennende Wirkung haben, wurden aus inhaltlich-methodischer Sicht ausgeschlossen. Dazu gehören die Bevölkerungsdichte und die flächenmäßige Ausdehnung der Städte. Die Einbeziehung dieser Variablen würde die Problematik der so genannten XXL-Städte (≥ 1.000.000 Einwohner) separieren und den beabsichtigten Vergleich aller einbezogenen Städte hinsichtlich ihrer gesundheitlichen und sozialen Lage beeinträchtigen, obwohl sie die gesundheitlich-sozialen Unterschiede nicht begründen (vgl. auch Analyse der Einzeldaten, Abschnitt 4.4.1.1).
Besonders auffällig ist der hohe Anteil ausländischer Bevölkerung in den Städten der alten Bundesländer und Berlin gegenüber den Städten in den neuen Bundesländern.
Zur Vermeidung der Überbetonung wurde aus dem Bereich Demographie keine Variable mit direktem Ausländerbezug berücksichtigt, indirekt wird die unterschiedliche Problematik von Deutschen und Ausländern durch viele andere Variablen (z.B. natürlicher Saldo, Gesamtwanderungssaldo) ausgedrückt. Die direkte Abbildung der Lage von Ausländern wurde in der Faktorenanalyse durch die Ergänzungsvariablen Sozialhilfe beziehende und arbeitslose Ausländer - aus dem Bereich Einkommen - erreicht.
Endergebnis
Der endgültige Variablenkanon wurde unter Berücksichtigung der o.g. statistisch- und inhaltlich-methodischen Kriterien wie folgt festgelegt:
Von den insgesamt 19 Leitindikatoren wurden mit Ausnahme der Variablen Fläche und Bevölkerungsdichte, alle in die Faktorenanalyse einbezogen.
Hinzu kamen Variable (Ergänzungsindikatoren), die in besonderer Weise die Problematik der ausländischen Bevölkerung widerspiegeln (arbeitlose Ausländer und ausländische Sozialhilfeempfänger).
Als erklärende Variable für unterschiedliche Bildungs- und Ausbildungsstrukturen in den Städten des ehemaligen Ost- und Westteils Deutschlands, aber auch für entsprechende Unterschiede zwischen deutscher und ausländischer Bevölkerung wurden die Variablen geringe und hohe Qualifikation der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aufgenommen (Ergänzungsindikatoren).
Die Variable Wohngeld dient der Charakterisierung der Einkommensverhältnisse der Bevölkerung, Angaben über die tatsächliche Höhe der Einkommen (wie z.B.
durchschnittliches Haushaltseinkommen) lagen für die in die Analyse einbezogenen bevölkerungsreichsten Städte Deutschlands nicht vor (Ergänzungsindikator).
Die Analyse der Einzelvariablen zeigt die unterschiedlichen Lebenschancen von Frauen und Männern hinsichtlich Bildung, Einkommen und Beteiligung am Erwerbsleben sowie Unterschiede im Gesundheitszustand. Aus diesem Grund wurden geschlechtsdifferenzierte Variablen zur Charakterisierung dieser Phänomene in die Faktorenanalyse aufgenommen (Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen, arbeitslose und Sozialhilfe beziehende Frauen, Lebenserwartung für beide Geschlechter).230
Der endgültige Variablenkanon wurde mit 25 Variablen festgelegt und ist der Tabelle 4.4.28 zu entnehmen.
Die Faktorenanalyse extrahierte aus den einbezogenen 25 Variablen 5 Faktoren mit Eigenwerten größer als 1. Als Extraktionsmethode wurde die Hauptkomponentenanalyse und als Rotationsmethode Varimax gewählt231. Durch die Faktoren vier und fünf, die mit ihren Eigenwerten nur unbedeutend über 1 liegen (1,76 und 1,17) werden nur zwei bzw.
eine Variable erklärt, deren inhaltliche Interpretation nicht sinnvoll ist – im weiteren Verfahren wurde auf diese verzichtet. Die festgelegten 3 Faktoren reproduzieren zusammen 70 % der gesamten Varianz des Modells (1. Faktor 32 %, 2. Faktor 25 %, 3.
Faktor 13 %).
230 Anmerkung: Die getrennte Berechnung des Berliner Sozialindexes 1999 für Frauen und Männer zeigte hinsichtlich der Rangfolge der sozialen Belastung keine grundsätzlichen Unterschiede zum Gesamtindex bzw. zwischen dem Frauen- und Männersozialindex. Lediglich Bezirke mit vergleichbarer Sozialstruktur (ähnliche Faktorwerte) tauschten teilweise ihre Ränge. Die univariate Analyse wies geschlechtsspezifisch unterschiedliche Ausprägungen in den Dimensionen Einkommen, Erwerbstätigkeit und Gesundheitszustand nach. Thelen (2002)
231 Die Rotationsmethode Varimax ist eine orthogonale Rotation, sie minimiert die Anzahl der Variablen mit hoher Faktorladung und stärkt so jeden einzelnen Faktor. Die Berechnung der Faktorenanalyse erfolgte in Anlehnung an Backhaus et al. (2000:253-298).
Die Faktorenanalyse gilt nach dem Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium (KMK) mit dem erzielten Wert von 0,709 als sehr sinnvoll (der mögliche Wertebereich für dieses Testkriterium liegt zwischen 0 und 1, 0,5 sollten mindestens erreicht werden; vgl. auch Abschnitt 3.2.1 Multivariate Analysemethoden).
Das Faktorenmuster sieht wie folgt aus:
Tabelle 4.4.28: Faktorladungen (Korrelationen zwischen Faktoren und Variablen; rotierte Komponentenmatrix) für die 39 bevölkerungsreichsten Städte Deutschlands
Variable Faktor
1 2 3
EIN/AL_Frauen 15-65 -0,948 -0,147 0,027
EIN/Wohngeld_Miete -0,898 -0,122 -0,227
EIN/ALQuote -0,887 -0,254 0,145
PAR/Wahlbeteiligung 0,821 0,138 -0,287
EIN/AL-Ausländer 0,818 0,187 0,289
WOH/Personen je Raum 0,738 0,035 -0,070
ERW/sv geringe Qualifikation 0,732 -0,312 0,368 BIL/o. Hauptschulabschluss -0,713 0,220 0,458
ERW/sv Frauen -0,667 0,361 -0,233
DEM/Gesamtwanderungssaldo 0,666 0,380 -0,085
EIN/SH_Ausländer 0,664 0,048 0,306
ERW/Pendlersaldo 0,186 0,868 -0,004
ERW/Beschäftigungsdichte 0,104 0,852 0,021
GV/Ärzte 0,239 0,812 -0,041
ERW/sv hohe Qualifikation -0,194 0,761 -0,364
DEM/Jugendquotient 0,549 -0,730 0,085
DEM/Altenquotient 0,067 -0,712 0,071
GZ/LE-Männer 0,464 0,673 -0,420
GZ/LE-Frauen 0,319 0,583 -0,575
DEM/natürl. Saldo 0,536 0,565 -0,309
BIL/mit HSReife 0,053 0,530 -0,469
BIL/VHS-Kurse 0,460 0,529 0,241
GV/KH-Betten 0,005 0,452 -0,297
EIN/SH-Empfänger insg. 0,119 -0,086 0,806
EIN/SH-Frauen 0,151 -0,169 0,796
1) Ausführliche Schreibweise und Berechnungsverfahren der Indikatoren vgl. Tabelle A 4.3.1
2) Sortiert nach der Größe der Faktorwerte.
(Quelle: eigene Berechnung)
Analysiert wurde auch ein Modell mit zwei Faktoren: Der erste Faktor erklärte 33 %, der zweite 28 % der Gesamtvarianz (kumuliert 61 %). Aus statistischer Sicht durchaus akzeptable Ergebnisse, jedoch stellte sich die inhaltliche Interpretation der identifizierten Faktoren als problematisch dar. Insbesondere im zweiten Faktor überlagerten sich die Potentiale der wirtschaftlich starken Städte mit den wirtschaftlichen Schwächen und gleichzeitig aber geringen Sozialhilfeempfängerzahlen der Städte der neuen Bundesländer.
Eine sinnvolle inhaltliche Interpretation der zwei Faktoren war nicht möglich, die
Entscheidung wurde für das 3-Faktorenmodell getroffen, dessen Ergebnisse nachfolgend dargestellt werden.
Inhaltliche Interpretation der Faktoren:
Der erste Faktor bildet die Beteiligung der Menschen an ihrer Lebensumwelt, eine Zukunfts- und Familienorientierung, ethnische Vielfalt sowie teilweise den Gesundheitszustand ab, er wird als Lebensqualitätsindex bezeichnet. Die ethnische Vielfalt – ausgedrückt in hohen Ausländeranteilen an der Gesamtbevölkerung - weist zugleich auf die nicht immer einfache Integration der ausländischen Mitbürger in den Arbeitsmarkt hin. Der Rang der Lebensqualität ordnet sich nach der Wahlbeteiligung, der Bildung, der Arbeitslosigkeit, der Sozialhilfebedürftigkeit der ausländischen Bevölkerung, dem natürlichen Saldo, der Lebenserwartung der Männer, der Wohnraumdichte, der Einbeziehung der Frauen in die Erwerbstätigkeit sowie den Wohngeldempfängern.
Ein positiver Lebensqualitätsindex wird gebildet durch:
hohe Anteile/Werte niedrige Anteile/Werte der folgenden Variablen1)
PAR/Wahlbeteiligung EIN/AL-Ausländer WOH/Personen je Raum ERW/sv geringe Qualifikation DEM/Gesamtwanderungssaldo EIN/SH_Ausländer
DEM/Jugendquotient (auch – stärker und negativ – 2. Faktor)
GZ/LE-Männer (auch – stärker und ebenfalls positiv – 2. Faktor)
DEM/natürl. Saldo (auch – ebenfalls positiv – 2. Faktor)
BIL/VHS-Kurse (auch – stärker und ebenfalls positiv – 2. Faktor)
EIN/AL_Frauen 15-65 EIN/Wohngeld_Miete EIN/ALQuote
BIL/o. Hauptschulabschluss (auch – schwächer und positiv – 3. Faktor) ERW/sv Frauen
1) Ausführliche Schreibweise und Berechnungsverfahren der Indikatoren vgl. Tabelle A 4.3.1 (Quelle: eigene Berechnung)
Der zweite Faktor bildet die Aktivitäten rund um die Erwerbstätigkeit und die Wirtschaftskraft – Angebot an Arbeitsplätzen, Pendeln aus dem Umland, Bildung/Weiterbildung, Gesundheitszustand, Gesundheitsversorgung - der bevölkerungsreichsten Städte Deutschlands ab, er wird als Wirtschaftsindex bezeichnet. Der wirtschaftliche Rang ordnet sich nach Beschäftigungsdichte, Pendlersaldo, Qualifikationsniveau, Weiterbildungsangeboten, Lebenserwartung, gesundheitlicher Versorgungsdichte und demographischen Faktoren.
Ein hoher Wirtschaftsindex wird gebildet durch:
hohe Anteile/Werte niedrige Anteile/Werte der folgenden Variablen1)
ERW/Pendlersaldo
ERW/Beschäftigungsdichte GV/Ärzte
ERW/sv hohe Qualifikation GZ/LE-Männer
GZ/LE-Frauen (auch – negativ – 3. Faktor) DEM/natürl. Saldo (auch – ebenfalls positiv – 1. Faktor)
BIL/mit Hochschulreife (auch – negativ – 3.
Faktor)
BIL/VHS-Kurse (auch – schwächer und ebenfalls positiv – 1. Faktor)
GV/KH-Betten
DEM/Jugendquotient (auch – schwächer und positiv – 1. Faktor)
DEM/Altenquotient (auch – schwächer und positiv – 1. Faktor)
1) Ausführliche Schreibweise und Berechnungsverfahren der Indikatoren vgl. Tabelle A 4.3.1 (Quelle: eigene Berechnung)
Der dritte Faktor sammelt Variablen, die soziale Belastung ausdrücken – er wird als Sozialindex bezeichnet. Er wird wesentlich bestimmt durch den Sozialhilfebezug insgesamt und von Frauen sowie niedrigen Schulabschlüssen und der Lebenserwartung von Frauen.
Der Sozialindex ordnet die insgesamt 39 bevölkerungsreichsten Städte Deutschlands entsprechend der zusammengefassten Ausprägung der Einzelvariablen. Ein negativer/schlechter Sozialindex (Faktorwerte der Städte wurden zur besseren inhaltlichen Interpretation mit -1 multipliziert) wird gebildet durch:
hohe Anteile/Werte niedrige Anteile/Werte der folgenden Variablen1)
EIN/SH-Empfänger insg.
EIN/SH-Frauen
BIL/o. Hauptschulabschluss (auch – stärker und negativ – 1. Faktor)
GZ/LE-Frauen (auch – positiv – 2. Faktor) BIL/mit HSReife (auch – stärker und positiv – 2. Faktor)
1) Ausführliche Schreibweise und Berechnungsverfahren der Indikatoren vgl. Tabelle A 4.3.1 (Quelle: eigene Berechnung)