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2.2 Nationale und internationale Berichterstattungssysteme

2.2.3 Sozialberichterstattung

2.2.3.1 Historische Entwicklung

Die Sozialberichterstattung hat eine lange historische Tradition. Bereits vor viereinhalbtausend Jahren wurden mit Volkszählungen (in Mesopotamien, Ägypten und China), Landvermessungen, Viehzählungen und Bürgerregistern quantitative Informationen über gesellschaftliche und wirtschaftliche Sachverhalte gewonnen. Die jeweiligen Herrscher/Regierungen wollten im Rahmen ihrer Kriegsplanungen wissen, ob sie über genügend Soldaten sowie über ausreichend Nahrungsmittel für ihre Kriege verfügten.

Seit dem 17. Jahrhundert wurden Informationen der Sozial- und Bevölkerungsstatistiken zur staatlichen Wirtschaftslenkung genutzt. Zu Beginn der industriellen Revolution wurden Sozialenqueten durchgeführt, um die sozialen Bedingungen der Bevölkerung zu ermitteln. Engels und Weber haben die Lage der englischen Arbeiter bzw. der ostelbischen Landarbeiter beschrieben und analysiert (vgl. Kapitel 2.2.3.3 Lagekonzepte). In den USA begann man Mitte des 19. Jahrhunderts, die Armut und die Integrationsprobleme von Einwanderern in Übersichtsstudien zu untersuchen.

69 So befragte z.B. Der Tagesspiegel nach Vorlage des „Sozialstrukturatlas Berlin 2003“ seine Leser, ob zukünftig ein Finanzausgleich zwischen den armen und reichen Berliner Bezirken erfolgen soll. 78 % der Anrufer sprachen sich gegen den Vorschlag aus. (Tagesspiegel 04.05.2004) Es wurde jedoch nicht veröffentlicht, wie viele Leser an der Befragung teilgenommen haben, wo sie ihren Wohnort haben – in den sozialstrukturell günstigen Bezirken (mit der bekanntermaßen größten Abonnentenzahl dieser Tageszeitung), oder den ärmeren Berliner Bezirken.

70 Zapf (1977) zitiert nach Noll (1999:16)

71 Noll (1999:16)

Die Entwicklung der Sozialberichterstattung verlief seit den 1950er Jahren in den beiden - ehemals getrennten - deutschen Staaten sehr unterschiedlich. Für die Bundesrepublik Deutschland sind die wissenschaftliche Auseinandersetzung und die praktischen Ergebnisse in zahlreichen Veröffentlichungen72 sehr gut dokumentiert, während es für die ehemalige DDR nur wenige Informationen gibt.

Die Sozialforschung war in der Bundesrepublik Deutschland bis in die 1970er Jahre bestimmt durch vertikale Betrachtungen der sozialen Struktur. Die sogenannten Sozialindikatoren umfassten ausschließlich objektive Indikatoren, z.B. Lebenserwartung, Versorgung mit Wohnraum, Chancengleichheit im Bildungssystem. Meist ausgehend von der Berufsstruktur und den Einkommen wurden Klassen und Schichten gebildet. Die sozialwissenschaftliche Umfragforschung ist im Rahmen der Sozialberichterstattung die zweite, inhaltlich erweiterte Stufe nach der Sozialindikatorenbewegung, sie erforscht, wie die objektiven Entwicklungen von den Betroffenen subjektiv wahrgenommen werden und bewertet werden.73 In diesem Sinne hat in den letzten Jahrzehnten insbesondere die Markt- und Meinungsforschung zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung sowie der Sozialberichterstattung beigetragen. Neuere soziologische Ungleichheitsdiskussionen sind auch geprägt von horizontalen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, Regionen, Altersgruppen und Ethnien. Begriffe wie Lebenslagen, Lebensläufe und Lebensstile spielen in Veröffentlichungen seit Anfang der 1980er Jahre eine immer größere Rolle.

Fragestellungen, wie

- Welcher Einfluss geht von ökonomischen Faktoren im Gegensatz zu sozialen oder Wohlfahrtsparametern für die individuellen Lebenslagen der Menschen aus?

oder

- Welchen Einfluss haben Diskontinuitäten und Brüche in den Lebensläufen auf die soziale Lage auch im Zeitverlauf (differenziert z.B. nach Frauen und Männern, Ethnien)?

führten zur Modernisierung der soziologischen Ungleichheitsforschung.74

Für die Zeit der ehemaligen DDR gibt es wenige Publikationen, die der Sozialberichterstattung zugerechnet werden können. Die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik erhob seit den 1980er Jahren neben der routinemäßigen Statistik über die Bevölkerungsstruktur und -entwicklung, die Todesursachen, die Beschäftigten nach Wirtschaftsbereichen, die Bildung, Einrichtungen, Leistungen und Beschäftigte im Gesundheitswesen auch Informationen zur Zeitverwendung der Arbeiter und Angestellten, zur Entwicklung der Versorgung der Bevölkerung und des Lebensstandards sowie zu Haushaltseinkommen und Ausstattung der Haushalte. Letztgenannte Daten standen nur einem sehr kleinen ausgewählten Kreis von Führungspersonen in Partei und Staat zur Verfügung. Ein Konzept der Sozialberichterstattung im Sinne der Erarbeitung eines umfassenden Bildes über die Lebensqualität der Bevölkerung sowie Trends ihrer

72 vgl. z.B. Zapf/Schupp/Habich (1996); Noll (1997); Statistisches Bundesamt (1983-2004)

73 Habich/Landua (1991:81)

74 Berger/Hradil (1990: 3-5)

Entwicklung liegen nicht vor.75 Mit dem Sozialreport 1990 vom Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR wurde erstmals eine Analyse zur sozialen Lage der DDR-Bevölkerung einer breiten Öffentlichkeit vorgelegt.

Der Bericht enthält die Themenfelder Bevölkerung, Bildung, Arbeit, Einkommen und Verbrauch, Wohnen, Umwelt, Gesundheit, Sozialversicherung, Freizeit/Kultur, Familie, Gesellschaftliche Beteiligung, Rechtspflege sowie Lebensbedingungen ausgewählter sozialer Gruppen. Frühere Berichte - in denen auf Tendenzen in der Entwicklung der sozialen Lage und auf vorhandene Unterschiede in den Lebensbedingungen verschiedener sozialer Gruppen auch im räumlichen Vergleich verwiesen wurde - wurden nicht publiziert. Ausdruck für den hohen Vertraulichkeitsgrad ist die Tatsache, dass ausschließlich ca. 10 Exemplare eines Berichts an die damalige Partei- und Staatsführung übergeben werden mussten.76

Die Wiedervereinigung der ehemals geteilten beiden deutschen Staaten hatte die Auflösung aller staatlichen, politischen und rechtlichen Strukturen in der ehemaligen DDR zur Folge. Sozialberichterstattung dient seit den 1990er Jahren in den neuen Ländern als Möglichkeit, die plötzlich auftretenden und massiv ansteigenden sozialen Probleme und Notlagen zu registrieren und zu analysieren.77 Die Transformationsprozesse z.B. auf den Gebieten der Arbeit und Bildung dauern bis heute an, wenn auch die Verarmungsprozesse noch unter denen in den alten Ländern liegen.

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sind Fragen zu beantworten, wie

- sind Konzepte und Instrumente der westlichen Wohlfahrtsforschung ohne weiteres auf die Gesellschaft der ehemaligen DDR zu übertragen, oder

- gibt es Unterschiede bei subjektiven Indikatoren der Wahrnehmung und Bewertung objektiver Lebensbedingungen? 78

Notwendig ist deshalb die wissenschaftliche und empirische Weiterentwicklung der Sozialberichterstattung in Deutschland, dazu gehören Standards für die Erarbeitung eines allgemeinen Überblicks sowohl für die neuen als auch für die alten Bundesländer als auch ein Konzept für eine kontinuierliche sowie inhaltlich und räumlich vergleichbare Sozialberichterstattung. Diese Notwendigkeit wurde von der rot-grünen Bundesregierung teilweise erkannt und 2001 „Der Erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ vorgelegt, im Jahr 2005 folgte der „Zweite Armuts- und Reichtumsbericht“.79

Die rechtlichen Grundlagen für die Sozialberichterstattung werden grundsätzlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geregelt – dies betrifft die Wahrung der Grundrechte sowie die Herstellung und Wahrung gleichwertiger Lebensverhältnisse (vgl.

75 Das Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (ZA) der Universität zu Köln hat den aktuellen Bestandskatalog „Empirische Sozialforschung aus der DDR und den neuen Bundesländern 1968 bis 1996“ zusammengestellt. Er informiert über 400 sozialwissenschaftliche Studien, die für die Sekundäranalyse zur Verfügung stehen. http://www.za.uni-koeln.de (26.04.2004)

76 Winkler (1990:11-13)

77 Beispiele: Geißler (1993); Bertram (1992); Bardehle (1990); Zeng (2001a)

78 Habich/Landua (1991: 82)

79 BMAS (2001); BMGS (2005)

hierzu Abschnitt 2.1.1 Gesundheitliche und soziale Ungleichheit). Weiterführend regelt das Sozialgesetzbuch (SGB) die Rechte und Pflichten der Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen sowie zum Teil den Umgang mit den in diesem Zusammenhang erhobenen Sozialdaten.80 Im Ersten Buch, § 1 heißt es „Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten.“ Das umfasst die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins allgemein, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, der Schutz und die Förderung der Familie, die Ermöglichung des Erwerbs des Lebensunterhalts und den Ausgleich von besonderen Belastungen des Lebens. Zur Erfüllung dieser Aufgaben werden durch die verschiedenen Bücher des SGB z.B. folgende Aspekte geregelt: im SGB II „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ die Datenerhebung, Nutzung und Berichterstattung über Arbeitssuchende (§ 50-55); im SGB X

„Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz“ die Erhebung von Sozialdaten, deren besondere Bedingungen zur Datenerhebung, -verarbeitung und –nutzung in § 67-78 geregelt sind; im SGB XII „Sozialhilfe“, § 121-129, die Erhebungsmerkmale, Periodizität und Veröffentlichung von Sozialhilfe empfangenden Personen (einschließlich Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung). Weitere gesetzliche Regelungen - die Berichtspflicht und die Berichterstattung betreffend - sind davon abgeleitet in fachspezifischen Gesetzen, z.B. für die Jugendhilfeplanung im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und die Gesundheitsberichterstattung in den Gesundheitsdienst-Gesetzen (GDG) der Länder festgelegt.

Die SBE Deutschlands ist in verschiedenen Bereichen vernetzt mit internationalen, vor allem europäischen Aktivitäten. Auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft gibt es seit vielen Jahren verschiedene Aktionsprogramme im Sozialbereich z.B. zur Beschäftigung, Qualifikation und Mobilität, zur sich verändernden Arbeitswelt und grundsätzlich zur Entwicklung einer Gesellschaft ohne Ausgrenzung (mit den Schwerpunkten Gleichbehandlung von Frauen und Männern und sozialer Schutz).

Grundlage für alle Bereiche ist das EUREPORTING, ein Projekt zur Entwicklung von sozialen Indikatoren.81 Diese sollen europaweit als Instrumente für die kontinuierliche vergleichende Analyse und Berichterstattung zu Wohlfahrt und Lebensqualität verwendet werden. Das Projekt wurde 1996 initiiert von den Wissenschaftlern Zapf und Habich (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung - WZB) und Noll (Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen – ZUMA, Mannheim).

80 Grundgesetz (1949), Sozialgesetzbuch (1975)

81 Kraus (1998)