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5 Integrationsansätze: Homo sustinens digitalis?

Angesichts der Dynamik wie auch der partiellen Gegensätzlichkeit der Digitalisierung und der Nachhaltigkeit stellt sich die Frage, ob und inwieweit diese integriert werden können. Welche Ansätze und Perspektiven bestehen, die Digitalisierung nachhaltig im Sinne der Lösung sozialer und ökologischer Probleme einer nachhaltigen Entwick-lung zu gestalten. Und welche Implikationen hätten diese Ansätze für ein normativ-explikativ aufgelegtes Menschenbild, das als homo sustinens digitalis bezeichnet wer-den könnte?

Bevor die Integrationspotenziale erörtert werden können, sollten jedoch zu-nächst die Zielkonflikte und Widersprüche zwischen Digitalisierung und Nachhaltig-keit ausgelotet werden, um mögliche Stolpersteine auf dem Integrationspfad einer nachhaltigen Digitalisierung bzw. einer digitalen nachhaltigen Entwicklung zu vermei-den. Als einer dieser Konfliktpunkte wären die Ressourcen- und Energieverbräuche digitaler Technologien zu nennen. So erläutern Lange und Santarius (2018, S. 238), dass heute ca. 10 % des weltweiten Stromverbrauchs auf Informations- und Kommu-nikationsgeräte und Netzwerkinfrastruktur entfallen. Während die Strombedarfe der Endgeräte tendenziell sinken werden, werden rasant wachsende Verbräuche bei der Netzwerk- und Cloud-Infrastruktur erwartet. Auch die Ressourcenverbräuche für Computer und Internettechnologien inklusive der milliardenfach verkauften Endge-räte sind zwar pro Gerät rückläufig, jedoch wachsen sie insgesamt an mit stetig wach-sendem Bestand an Endgeräten bei Nutzer:innen weltweit und wenig oder gar nicht ausgebauten Recycling-Strukturen. Zwar ergeben sich mit der Digitalisierung auch Potenziale zur Dematerialisierung z. B. von papierbasierter Speicherung von Daten und Wissen, jedoch haben die wachsenden Bedarfe der Software in der Vergangenheit vornehmlich zu einem Wachstum der materiellen Hardware geführt (Hilty, 2020).

Viele Effizienzgewinne digitaler Technologien in Bezug auf Speicherleistungen oder Energiebedarfe werden zumindest anteilig oder gänzlich durch das Wachstum der

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Ansprüche der Software an Speicherumfänge oder durch das Wachstum an Nutzun-gen und Nutzungsintensitäten z. B. durch hochgradig datenintensive Streaming-Dienste aufgefressen. Diese Rebound-Effekte (Santarius, 2015) stellen eine mitunter gravierende Hürde zur Realisierung von ökologischen Verbesserungen mittels digita-ler Medien dar.

Zudem sind die Zugangsmöglichkeiten und die digitalen Endgeräte weltweit und sozial sehr ungleich verteilt. Der digital divide schließt eine Mehrheit der Menschheit von den Möglichkeiten und Services der Digitalisierung aus (van Dijk, 2020). Auf-grund der gravierend ungleichen Einkommensverteilung weltweit sowie in einer Vielzahl von Staaten, auch wegen der ungleich ausgebauten IT- und Internet-Infra-struktur, bleibt voraussichtlich auch zukünftig ein großer Teil der Menschheit ohne Zugang, sodass digitalbasierte Verbesserungen in Richtung einer nachhaltigen Ent-wicklung ebenfalls nur Teilen der Weltbevölkerung zugutekommen.

Gleichwohl ergeben sich aus der Verbindung der Möglichkeiten der Digitalisie-rung mit den HerausfordeDigitalisie-rungen einer nachhaltigen Entwicklung wesentliche Poten-ziale und Handlungsfelder:

a) Digitalisierte Energiewende: Die Transformation des Energiesektors hin zu einer klimaneutralen Strom- und Wärmeversorgung auf Basis erneuerbarer Energie-träger ist ohne umfassende digitale Lösungen nicht möglich (Lange & Santarius, 2018). Insbesondere die Fluktuationen in der Energiebereitstellung aus Wind-und Solarkraft stellen gravierende Herausforderungen für die Gesamt- Wind-und De-tailsteuerung insbesondere von Elektrizitätsnetzen dar. Hierfür wie auch für die Einbindung einer Vielzahl dezentraler Prosument:innen sind IT-Lösungen unab-dingbar, um Planbarkeit für zumindest kurze Fristen zu ermöglichen und das Netz insgesamt stabil zu halten.

b) Verkehrswandel durch autonomes emissionsloses Fahren: Die Vision autonom fah-render Fahrzeuge, angetrieben durch Elektromotoren, treibt derzeit umfassende Forschungs- und Entwicklungsvorhaben an. Insbesondere innovative junge Un-ternehmen wie auch einige etablierte Automobilhersteller treiben die Entwick-lung von autonom fahrenden Systemen an, die umfassendste Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der IT-Systeme stellen. Damit verbunden sind die Hoff-nungen auf neue Geschäftsmodelle und die sinkende Attraktivität des eigenen Autos, das in der Regel 90 % der Zeit nicht bewegt herumsteht. Eine schnelle digitale Abrufbarkeit und Verfügbarkeit könnte eine hohe Verfügbarkeit von Mo-bilitätsdienstleistungen ohne eigenes Auto ermöglichen, sodass unter Umstän-den die Haltung von PKWs in privaten HänUmstän-den abnehmen könnte und auch die Platzbedarfe von Autos insbesondere in Städten abnehmen könnten. Dadurch können sich neue Möglichkeiten der Stadtentwicklung und der Nutzung des ur-banen Raumes eröffnen (Lange & Santarius, 2018).

c) Nachhaltige Plattformökonomien (Sharing Economy): Internetbasierte Geschäfts-modelle der sog. Plattformökonomie haben Beispiele für Dematerialisierung und Konsumreduktion von Haushalten und Privatpersonen entstehen lassen (Schor, 2020). So können Tauschbörsen, wie Ebay oder Kleiderkreisel dazu

beitra-44 Homo sustinens als homo digitalis?

gen, Produkte mehrfach und längerfristig zu nutzen und Bedarfe neuer Pro-dukte zu reduzieren. Zwar sind auch hierbei Rebound-Effekte zu beobachten, sodass Konsumentscheidungen erleichtert werden, weil Produkte im Zweifelsfall weiterverkauft oder weitergegeben werden können. Jedoch bieten zahlreiche Plattformen Möglichkeiten des Ersetzens von materiellen Produkten durch Dienstleistungen in Form von Miet- oder Tauschregelungen. Somit können Haus-halte entrümpelt und Dienste dann in Anspruch genommen werden, wenn sie tatsächlich benötigt werden. Beispiele wären das Carsharing, Werkzeug-Mieten oder nachbarschaftliche Gemeinschaftsnutzungen, z. B. von Lastenrädern.

d) Smart Cities: Durch den Einsatz digitaler Technologien können ökologische Ver-besserungen in Städten und Kommunen erreicht werden (Peris-Ortiz, 2017):

So können Smart Meters helfen, Stromverbräuche in Privathaushalten zu sen-ken; vernetzte Anlagen der Luftgütesensorik können die Schadstoffbelastung in Städten besser erfassen und wirksame Gegenmaßnahmen, wie bspw. Fahrver-bote, auslösen; anonymisierte Bewegungsprofile von Bürger:innen können hel-fen, Verkehrsinfrastrukturen und andere Dienstleistungen zu verbessern und damit Stauzeiten zu reduzieren oder Nutzungshäufigkeiten des öffentlichen Ver-kehrs zu erhöhen; intelligente Beleuchtungssysteme können helfen, Elektrizität einzusparen; datenbasierte Kreislaufkonzepte können Recyclingpotenziale für begehrte Rohstoffe und neue Geschäftsmöglichkeiten offenlegen. Gleichwohl drohen hier auch Gefahren durch Datenmissbrauch und wachsende Kontroll-möglichkeiten, die durch intelligente Lösungen ausgeschlossen werden müssen.

e) Digitalisierte Lehr- und Bildungsangebote: Insbesondere der immense Digitalisie-rungsschub, den Schulen und Hochschulen im Zuge der Corona-Pandemie er-fahren haben, hat gezeigt, welche Potenziale in der Technologie stecken, um zentrale, inklusive und qualitative hochwertige Bildungsprozesse gemäß SDG 4 aufrechtzuerhalten. Trotz massiver Einschränkungen des öffentlichen Lebens in zahlreichen Ländern des Nordens und des globalen Südens konnten digitale Me-dien ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen, dennoch soziale Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten erhalten und Bildung und Lernen aufrechterhal-ten (Williamson et al., 2020).

Obwohl diese Liste der möglichen Synergien zwischen Nachhaltigkeit und Digita-lisierung nicht erschöpfend ist, muss einschränkend konstatiert werden, dass viele der Möglichkeiten nicht ohne weitere Rahmenvorgaben oder Anreize realisiert wer-den. Auch bleiben umfängliche Forschungsbedarfe etwa hinsichtlich der Rebound-Effekte oder der Rebound-Effekte technologischer Neuerungen in andere Richtungen bestehen.

Um die Potenziale der Digitalisierung für die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung realisieren zu können, schlagen Lange und Santarius (2018) drei Leit-prinzipien vor, um Orientierung für die Entwicklung und Anwendung digitaler Tech-nologien zu geben (s. Abb. 1).

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Leitprinzipien für eine zukunftsfähige Digitalisierung

So viel Digitalisierung wie nötig, so wenig wie möglich.

Prinzipien einer zukunftsfähigen Digitalisierung (Quelle: Lange & Santarius (2018, S. 150))

Das Leitprinzip „digitale Suffizienz“ setzt auf eine Entwicklung und Nutzung von digitalen Technologien in dem Maß, wie sie helfen, sozial-ökologische Probleme z. B.

der Energie-, Konsum- oder Verkehrswende anzugehen und zu lösen, ohne dass Re-bound-Effekte zu befürchten sind und Effizienzgewinne in der Hard- wie Software durch stetig wachsende Datenmengen aufgefressen werden. Suffizienz in der Digita-lisierung beinhaltet eine intelligente Kombination von Verhaltensänderungen und Technikentwicklung und -nutzung unter Fokussierung auf das für ein qualitativ gutes Leben notwendige Maß und unter Einhaltung ökologischer Grenzen, wie bspw. der Planetary Boundaries (Steffen et al., 2015).

Mit dem Leitprinzip „konsequenter Datenschutz“ zielen Lange und Santarius (2018) auf die dringliche Notwendigkeit des Schutzes der Privatsphäre und der Mei-nungsfreiheit als Grundlagen funktionierender Demokratien. Dabei geht es nicht nur um die Entwicklung entsprechender regulativer Rahmenvorgaben im nationalen wie internationalen Kontext, sondern auch um die Kontrolle von bedeutenden Konzentra-tionen von Daten und Einfluss durch globale Konzerne: „Nur wenn staatliche und privatwirtschaftliche Datenspeicherung und -nutzung streng limitiert werden, kann eine Aushöhlung der Demokratie vermieden werden“ (ebd., S. 157). Praktisch heißt das, die zu speichernden Daten über Personen und ihre Entscheidungen und Hand-lungen zu begrenzen und so zu anonymisieren, dass keine Rückschlüsse auf Einzel-personen möglich sind (Datensuffizienz). In der Entwicklung von Software-Produk-ten ist darauf zu achSoftware-Produk-ten, dass Standardeinstellungen so gesetzt sind, dass sie DaSoftware-Produk-ten anonymisieren und Missbrauch so unmöglich machen („Privacy by Design“). Zudem sollte das Eigentum der Daten bei den Nutzer:innen verbleiben und ihnen die Rechte der Weiter- und Freigabe überlassen.

Das Leitprinzip „Gemeinwohlorientierung“ stellt darauf ab, Gewinne aus der Di-gitalisierung nicht in gigantischen Unternehmen zu bündeln, sondern analog dem Prinzip der Netzneutralität eine monopolvermeidende Struktur digitaler Märkte mit gleichen Zugangsrechten für alle und ohne Priorisierung großer Player zu schaffen.

Aufbauend auf der Grundstruktur des Internets als globales Gemeingut (global com-mons) sollen alle Nutzer:innen auf Augenhöhe miteinander interagieren und Inhalte austauschen können, ohne von Quasi-Monopolen auf Suchmaschinen, Datendienst-leistungen, etc. gelenkt und manipuliert zu werden. Hierbei helfen auch Open Source-Lösungen und kooperative Plattformen, die keine Privatisierung von Gemeingütern oder eine monopolistische Aneignung von Netzwerkeffekten z. B. auf

Kommunika-Abbildung 1:

46 Homo sustinens als homo digitalis?

tions- und Austauschplattformen zulassen. Vielmehr können dieselben Leistungen kollaborativ auf gemeinschaftlich verantworteten oder staatlich bereitgestellten Platt-formen angeboten werden und Monopole vermieden werden. Ziel hierbei ist sowohl die Stärkung der Mitbestimmung und Mitgestaltung sowie eine Erleichterung des Zugangs zu digitalen Diensten und Technologien, um den digital divide zu reduzieren.

Eine Digitalisierung in diesem Sinne kann die Ziele der nachhaltigen Entwick-lung unterstützen und zugleich demokratisch und partizipativ gestaltet sein. Dies bedarf jedoch auch einer Anthropologie, die nicht lediglich auf individuelle Nutzen-maximierung abstellt, sondern die Fähigkeiten und Charaktereigenschaften unter-streicht, die für die Nachhaltigkeit wie für eine wie ausgeführt nachhaltigkeits- und gemeinwohlorientierte Digitalisierung vonnöten sind. Konkret könnte ein dem-entsprechend konzipierter homo sustinens digitalis durch folgende Merkmale gekenn-zeichnet werden:

• Naturbezug

• Kooperation

• Lernen und Kreativität

• Verantwortung und Selbstbestimmung

• Abgrenzungen zwischen Mensch und digitaler Technik

• Digitale (Gestaltungs- und Nutzungs-)Kompetenz

• (Digitale) Suffizienz

• Datenautonomie und Datenschutz

• Gemeinwohlorientierung

Analog zum Menschenbild des homo sustinens liegt diesen Merkmalen die Denkweise zugrunde, die nach den Fähigkeiten und Kenntnissen fragt, die Menschen für die nachhaltige Entwicklung in einer zunehmend digitalisierten Welt benötigen. Zugleich liegt ihnen die Annahme der Potenzialität zugrunde, dass es Menschen aufgrund ihres Wesens möglich ist, diese Merkmale auszubilden. Gleichwohl ist deutlich, dass nicht alle diese Merkmale vorhanden oder Realität des Handelns vieler oder gar aller Menschen heute sind. Vielmehr ergeben sich aus diesen Potenzialen Impulse für Bil-dungsprozesse, auf die abschließend eingegangen werden soll.

6 Resultierende Kompetenzen und