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Ausgehend von der gegenwärtigen sozialen und ökologischen Problemlage der Menschheit stellt das Konzept der nachhaltigen Entwicklung, wie es im Brundtland-Bericht (Weltkommission, 1987) entwickelt und in verschiedenen weiteren Konzepten (z. B. BUND/Misereor, 1996; Schneidewind, 2018) ausgearbeitet und 2015 im Rahmen der 17 Sustainable Development Goals (SDGs) mit ihren 169 Unterzielen operatio-nalisiert wurde (United Nations, 2015), ein begründetes Leitprinzip dar. Es basiert auf der Idee der Gerechtigkeit und ist auf das Überleben der Menschheit unter huma-nen Umständen ausgerichtet (Manstetten, 1996). Nachhaltigkeit ist – zumindest in Deutschland – zu einem weitgehend anerkannten umwelt- und entwicklungspoliti-schen Leitprinzip geworden, sodass es angemessen erscheint, dieses als Orientie-rungsrahmen für menschliches Handeln heranzuziehen.

Unter dem Gesichtspunkt des nachhaltigen Wirtschaftens im Sinne der SDGs gilt es, menschliches Handeln weniger auf die z. B. im homo oeconomicus-Menschenbild fokussierte egoistische Verfolgung individueller materieller Interessen zu orientieren.

Vielmehr fokussiert der Diskurs zur nachhaltigen Entwicklung auf die Übernahme sozialer Verantwortung für andere Menschen oder für zukünftige Generationen und auf die Zusammenarbeit mit anderen Menschen bei der Lösung ökologischer oder sozialer Probleme. Zudem geht es um die Entwicklung veränderter Konsummuster in Richtung auf eine suffiziente Lebensweise, die im Rahmen der Nachhaltigkeit häufig thematisiert und gefordert wird (Scherhorn & Reisch, 1997; Paech, 2012).

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Vor diesem Hintergrund entstand der Entwurf eines auf dieses Leitprinzip aus-gerichteten und zugleich realitätsnäheren Menschenbildes, des homo sustinens (Sie-benhüner, 2001). Bei der Frage nach den Wesensmerkmalen des homo sustinens wen-det sich der Blick zunächst auf das Nachhaltigkeitskonzept und seine Anforderungen an bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen. Was zeichnet den nach-haltig lebenden Menschen aus (Doob, 1995)? Die Antwort auf diese Frage ist normativ orientiert und erfordert in einem zweiten Schritt die wissenschaftlich-analytische Er-örterung des Problems, inwiefern Menschen zur Entwicklung oder zur Umsetzung dieser Eigenschaften und Fähigkeiten überhaupt in der Lage sind. Gleichwohl findet sich mit dieser Vorgehensweise eine normative Orientierung in der Anthropologie wieder, die in diesem Sinne als „pragmatisch-nachhaltigkeitsorientiert“ bezeichnet werden kann. Die Frage ist demnach, welche Ansätze für eine nachhaltigkeitsorien-tierte Lebensweise bei Menschen vorhanden sind, auf denen aufgebaut werden kann.

Diese auf die Potenziale des Menschen zielende Frageweise weist die deterministi-sche Sicht auf den Mendeterministi-schen als von vornherein festgelegtes Wesen zurück.

Auch die Wege zur Nachhaltigkeit müssen vielfältig sein und sollten verschie-dene Wirkkräfte nutzen. Sich lediglich auf bspw. finanzielle Anreizmechanismen zu verlassen, liefe Gefahr, andere Motivationen außer Acht zu lassen und damit hinter den Möglichkeiten zurückzubleiben. Insofern stellt der homo sustinens ein plurales Menschenbild dar, das Anknüpfungspunkte an mehrere Menschenbilder aus den ver-schiedenen Wissenschaften bietet und zugleich die normative Orientierung nicht aus dem Blick verliert. Das Konzept des homo sustinens bezieht Erkenntnisse aus verschie-denen Wissensbereichen mit ein und stellt diese in den Kontext der nachhaltigen Ent-wicklung. Zentrale Eigenschaften und Fähigkeiten mit derartigen Bezügen zu ein-schlägigen wissenschaftlichen Diskussionen umfassen folgende:

a) Naturbezug: Da Nachhaltigkeit auf ein gerechtes Miteinander der Menschen ab-stellt, das langfristig nur möglich ist, wenn die lebensermöglichenden natürlichen Kreisläufe und Systemfunktionen dauerhaft erhalten bleiben, benötigt nachhal-tigkeitsorientiertes Handeln eine positive emotionale Beziehung zur Natur wie zu den Mitmenschen. Hilfreich dabei kann die Nutzung der emotionalen Erfah-rungen der Vergangenheit sein, die auch vermeintlich rein kognitive Entschei-dungen prägen (Damasio, 1997). Zudem verfügt der Mensch über ein Set von emotionalen Spontanreaktionen im Fall von Gefahr, Freude, Liebe, Hunger oder Durst, die für sein Überleben in der Frühzeit von eminenter Bedeutung gewesen sein müssen.

b) Kooperation: Die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie belegen eine Disposition des Menschen zur Kooperation, die für ein nachhaltiges Handeln elementar ist (Jackson, 2002). So stellt Kooperation zwischen Menschen in Nachbarschaften, Vereinen oder anderen Organisationen einen Eckpfeiler des Nachhaltigkeitsan-satzes dar. Vorhaben wie die Lokale Agenda 21, die Beteiligung von Bürgern an kommunalpolitischen Prozessen, und nachbarschaftliche Initiativen zur nach-haltigen Gestaltung des unmittelbaren Lebensumfeldes von Menschen erfordern kollektive Aktionen. Diese beruhen auf dem gemeinschaftlichen,

nicht-egoisti-38 Homo sustinens als homo digitalis?

schen Engagement von vielen Menschen und erfordern die entwickelte Kommu-nikation unter ihnen (Fehr & Schurtenberger, 2018). Im Sinne des Leitbildes der Nachhaltigkeit geht es daher darum, diesbezügliche Fähigkeiten von Menschen zu entwickeln und zu stärken. Diese Stärkung kann jedoch nur durch kulturelle Evolution und kollektive wie individuelle Lernprozesse stattfinden.

c) Lernen und Kreativität: Die Fähigkeit, nahezu alles lernen zu können, zeichnet den Menschen vor allen anderen Lebewesen aus. Die Nachhaltigkeit bringt einige neue Akzente in das Lernen von Menschen, indem sie ein stark vernetztes Denken und Handeln erfordert und so die Fähigkeit zu vernetzt-ganzheitlichem Denken zu einem elementaren Lernziel macht. Aber es gilt nicht nur die verbes-serte Wahrnehmung nachhaltigkeitsbezogener Probleme, sondern auch diesbe-zügliche Lösungsstrategien und -potenziale zu lernen, wenn Probleme wie das Be-völkerungswachstum, Unterernährung, globaler Treibhauseffekt, Artensterben, Ressourcenübernutzung u. a. gelöst werden müssen. Hinsichtlich der wissen-schaftlichen Sichtweise auf das menschliche Lernen erscheint es jedoch ungenü-gend, auf Lerntheorien zurückzugreifen, bei denen die Besonderheit der mensch-lichen Kreativität keine Berücksichtigung findet. So heben Lerntheorien aus der konstruktivistischen Richtung der kognitiven Lerntheorie hervor (Schunk, 1996), dass im Lernen stets ein konstruktives Moment vorhanden. D. h. in jedem Lern-prozess entsteht etwas Neues, weil jeder Lerninhalt auf individuelle Weise ver-innerlicht sowie mit vorhandenem Wissen und Können verknüpft wird. Lernen kann nicht als einfache Übernahme vorhandener Inhalte angesehen werden, es ist ein aktiver, kein passiver Vorgang. Sie können dabei auf der kreativen Dimen-sion des Handelns aufbauen, die sowohl im sprachlichen wie im außersprach-lichen Ausdruck des Menschen deutlich wird (Joas, 1996). Kreativität erscheint in diesem Verständnis als eine elementare Disposition der Menschen, die sich auch aus der Evolution erklären lässt, denn als konstitutionell schwache Wesen waren sie darauf angewiesen, sich durch geistige Fähigkeiten anzupassen und auf ver-änderte Umweltsituationen neue, kreative Lösungen zu finden.

d) Verantwortung und Selbstbestimmung: Nachhaltigkeitsorientierte Verhaltens-weisen können nur in begrenztem Umfang durch staatliche Regelungen beein-flusst werden. Die Reichweite finanzieller und juristischer Sanktionen ist im Rahmen rechtsstaatlicher Systeme begrenzt. Hier ist zusätzlich zu rechtlich-in-stitutionellen Veränderungen die Entwicklung einer verbreiteten moralischen Verantwortung gefragt, die sich auf das Nachhaltigkeitskonzept stützt und in die-sem Sinne die Belange zukünftiger und gegenwärtig lebender Menschen berück-sichtigt (Becker, 2012). Entsprechendes moralisch motiviertes Handeln, das Men-schen unabhängig von äußerem Druck oder monetären Anreizen an den Tag legen, lässt sich bereits vielfältig beobachten. In der Sozialpsychologie sind derar-tige intrinsische Motivationen gut bekannt. Man empfindet sie bei Tätigkeiten, die einem beim Tun Freude bereiten. Hier liegt kein schlechtes moralisches Ge-wissen zugrunde, vielmehr konnte festgestellt werden, dass diese Freude zu-meist bei naturbezogenen und selbstbestimmten Tätigkeiten empfunden wird,

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bei denen auf materiellen Konsum verzichtet wird, z. B. bei Gartenarbeit oder bei ungezwungener Zusammenarbeit mit anderen Menschen (Scherhorn, 1994).

Die These, dass Menschen nach selbstbestimmten Handlungen streben und durch diese motiviert sind, hat bereits Maslow (1996) vertreten. Sie wird im Rah-men des sozialpsychologischen Ansatzes von Deci und Ryan (1985) wieder auf-gegriffen, der von der Motivation durch Selbstdetermination ausgeht, d. h. der Motivation durch das Erlebnis, über sein eigenes Handeln frei entscheiden zu können und dabei den Wünschen und Bedürfnissen des eigenen Selbst zu ent-sprechen. Diese erklärt sich aus dem menschlichen Streben nach Kompetenz und Autonomie des Ichs. Ein naturerhaltendes und sozial verträgliches Handeln kann auf diese Art der Motivation zurückgreifen. Das Autonomiestreben ist dabei jedoch immer an die Einsicht in die Angewiesenheit des Menschen auf soziale Verankerung und gegenseitige Hilfe gebunden. Ohne diese Einsicht wäre ein Streben nach Selbstbestimmung immer schädlich für einzelne Menschen.

Hier trifft demnach eine moralische Forderung nach nachhaltigkeitsorientiertem Handeln auf die wissenschaftliche Einsicht in die Fähigkeit des Menschen, sich durch selbstbestimmte, naturbezogene und sozial orientierte Handlungen zu motivieren.

Insgesamt zeichnet sich der homo sustinens folglich durch eine Vielzahl von Fähigkei-ten aus, die für die Umsetzung der Nachhaltigkeit normativ wünschenswert und we-sentlich und zugleich wissenschaftlich begründbar sind. Dazu zählen eine ausge-prägte Handlungsfähigkeit, Verantwortungsübernahme für Mitmenschen und Natur, Kooperation mit anderen Menschen zur Erreichung gemeinschaftlicher Ziele, Empa-thie mit anderen Menschen, diskursive Fähigkeiten, um sich in Dialogprozesse einzu-bringen, und ein emotionaler Bezug zu intakter Natur. Zur Entwicklung einer ausge-prägten Handlungsfähigkeit auf der Basis von Selbstbestimmung und einem gefestig-ten Selbst gehört die Fähigkeit, den eigenen Willen – unter Umständen gegen den einer größeren Gruppe – zu entwickeln und im Handeln umzusetzen, um so als wert-voll erkannte Ziele zu verwirklichen. Diese Fähigkeit könnte man auch als Willens-stärke bezeichnen, zu deren Ausbildung es wichtig ist, mit seinen Emotionen so um-gehen zu lernen, dass sie sich nicht gegen die Wünsche und Vorstellungen des eige-nen Selbst stellen.