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In analoger Weise lassen sich normative Bezugspunkte für ein Menschenbild auch aus dem Diskurs zur Digitalisierung ableiten, das als homo digitalis bezeichnet werden könnte (Montag, 2018). Gleichwohl sind die normativen Orientierungen im Diskurs um die Digitalisierung divers und gehen in unterschiedliche Richtungen. So wird die Ausrichtung auf die zunehmende Verbreitung von vernetzten IT-Systemen und Netz-werken sowie von primär elektronischen Geschäftsmodellen von vielen als ein Ziel der Digitalisierung angesehen und in politisch-gesellschaftliche Prozesse

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chend eingebracht. In partiell entgegengesetzter Richtung stellen eine Vielzahl von Akteuren die Möglichkeiten der Digitalisierung zur Steigerung von Effizienz und Re-duktion von Umweltnutzungen und -ausbeutungen als Ziel der Digitalisierung dar.

Hiermit können auch ökologische Verbesserungen erreicht werden.

Die Mehrdeutigkeit und mitunter konflikthafte Orientierungen der Digitalisie-rung (Lange & Santarius, 2018) spiegeln sich auch in der Diskussion um das Men-schenbild eines homo digitalis. So lässt er sich verstehen als der Mensch, der im Inter-net der Dinge zu Hause ist, der Handlungen primär vom Smartphone aus steuert und mit digitalen und sozialen Medien versiert umgeht und darüber kommuniziert. In diesem Sinne sind Publikationen zum Thema stärker in kritisch-explikativer Absicht als vielmehr in normativer Absicht formuliert. Die Beobachtung umfassender Nut-zung digitaler Medien, insbesondere der Smartphones, führte zahlreiche Psycho-log:innen zu der Frage, welche Auswirkungen diese auf die menschliche Psyche und ihre Charaktereigenschaften haben können (Montag, 2018). Entsteht in diesem Zuge eine neue Spezies Mensch oder wie müssen die Interaktionen zwischen Mensch und Technik gestaltet werden, um der evolutionär geprägten Wesensgestalt des Menschen zu entsprechen? Hierbei lassen sich folgende Eckpunkte eines Menschenbildes der Digitalisierung identifizieren:

a) Selbstachtung und Grenzziehung: Zunächst zeigt sich, dass die Grenze zwischen Mensch und Technik zunehmend verschwimmt. Mit der Nutzung von Smart-phones wie auch von anderen mobilen Endgeräten verändert sich unser Ent-scheidungs- und Kommunikationsverhalten. Die Technik hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge, Nutzer:innen können viele Aufgaben oder Konsumhandlungen zeitverdichtet an Ort und Stelle erledigen, wo sie sich gerade befinden. Solange die bewusste Entscheidung der Nutzer:innen am Ende erhalten bleibt, wäre hier zunächst kein Problem zu konstatieren. Wenn jedoch digitale Agenten und Algo-rithmen mehr und mehr Entscheidungen treffen, die vormals menschlichen We-sen vorbehalten waren, oder Lernfähigkeiten entwickeln, die zunehmend eine eigene Form der Intelligenz („Künstliche Intelligenz“) oder des Bewusstseins und eine Subjektivität darstellen, erwachsen gravierende ethische, juristische und anthropologische Fragen:

„Wir stehen über dem, was wir sind und was wir produzieren, insbesondere wenn diese Produktion das betrifft, was wir für unsere wahre Natur und vor allem für un-ser Selbst halten. Dieses ‚über der eigenen Natur stehen‘ in und durch Technologie kann als nicht-metaphysische Quelle der Selbstachtung erlebt werden – also als et-was, das wir nicht leichtfertig aufgeben für irgend etwas anderes, das wir produzie-ren oder nutzen“ (Capurro, 2017, S. 54).

Vielmehr gilt es für den Menschen im digitalen Zeitalter in besonderer Weise, sich über diese Grenze zwischen menschlichem Sein und Handeln und den Kompetenzen und zugewiesenen Handlungsmöglichkeiten von Maschinen Klar-heit zu verschaffen. Konkret geht es darum, im Angesicht der rapide wachsenden technischen Möglichkeiten auch die ethische Reflektion und die juristische

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mung mitzuentwickeln, die sicherstellen, dass z. B. moralische Entscheidungen bei Menschen verbleiben.

b) Datenautonomie: Die Gefahren der Digitalisierung bring Welzer (2016) auf den Punkt, indem er beschreibt, wie die Nutzung sozialer Medien die Privatsphäre zu-nehmend öffentlich und kontrollierbar macht. Während Diktaturen des 20. Jahr-hunderts stets versuchten, in die Privatsphäre der Menschen einzudringen, um Opposition und Widerstand zu unterbinden, gibt die Smartphone-Generation diese Privatsphäre durch ihren offenen Umgang mit Daten freiwillig preis. In Autokratien oder Diktaturen ist daher schon heute beobachtbar, dass diese versu-chen, die Privatsphäre über Daten entsprechend zu kontrollieren. Es bleibt hier gleichwohl anzumerken, dass die sozialen Medien und die Internettechnologien nicht inhärent diktatorisch oder kontrollierend sind, sondern Nutzungen in ver-schiedene Richtungen ermöglichen und z. B. auch zu einem zentralen Kommu-nikations- und Vernetzungstool sozialer Bewegungen, wie demokratischer Pro-testbewegungen oder der Klimabewegung, avanciert sind.

Essenziell ist daher die Art und Weise des Umgangs mit Daten und ihre Frei-gabe- und Nutzungsregelungen. Demokratische Gesellschaften haben daher im Rahmen der rapide wachsenden Möglichkeiten die Aufgabe, sich über die Bereit-schaften, die Grenzen und die Mittel und Wege der privaten Daten insbesondere aus den sozialen Medien zu verständigen und einschlägige Regelungen zu schaf-fen, insbesondere im Bereich des Datenschutzes, aber auch des Wettbewerbs-rechts, um die Entstehung von Quasi-Monopolen, die bei Internetgiganten wie Microsoft, Google, Facebook, Amazon zu beobachten sind, zu verhindern.

Für die oder den Einzelne:n ergibt sich die Notwendigkeit, über die Nutzungs-möglichkeiten der eigenen Daten zu reflektieren und autonom zu bleiben hin-sichtlich der Verhinderung der Weitergabe oder ungewollten Nutzung der eige-nen Daten. Auch ein bürgerschaftliches Engagement zur Etablierung einschlägi-ger und wirksamer Regelungen zu Datenschutz und Transparenz sind zentral für die gesellschaftliche Veränderung und die Sicherung demokratischer Grund-rechte. Nur über die Autonomie über die eigenen Daten kann Fremdkontrolle und Manipulation ausgeschlossen oder zumindest eingeschränkt werden, sodass selbstbestimmtes Handeln möglich bleibt.

c) Digitale Kompetenz: In den Bildungswissenschaften entwickeln sich Ansätze eines digitalen Kompetenzverständnisses von Fähigkeiten und Kenntnissen, die für den Umgang mit und die Nutzung von digitalen Technologien relevant wer-den:

„Digital Competence is the set of knowledge, skills, attitudes [...] that are required when using ICT and digital media to perform tasks, solve problems, communicate, manage information, collaborate, create and share content, and build knowledge ef-fectively, efficiently, appropriately, critically, creatively, autonomously, flexibly, ethi-cally, reflectively for work, leisure, participation, learning, socializing, consuming and empowerment.“ (Ferrari, 2012, S. 3 f.)

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In diesem Sinne zielt die digitale Kompetenz zum einen auf die Beherrschung zentraler Funktionen für die erfolgreiche Nutzung von Informations- und Kom-munikationstechnologien zur Problemlösung. Während der Corona-Pandemie ist diese Form der digitalen Kompetenz in vielen Bildungs- und Lernprozessen in besonderer Weise gefordert worden. Vermutlich liegt im korrespondierenden Aufbau entsprechender digitaler Kompetenzen von Lernen auch eine der wesent-lichen zunächst nicht intendierten Nebenfolgen der Pandemie.

Zum anderen umfasst die genannte digitale Kompetenz auch den kritisch-krea-tiven Umgang und die reflexive Nutzung der Informations- und Kommunika-tionstechnologien auch für Zwecke der politischen Beteiligung und Mitgestal-tung des Gemeinwesens. Hier sind wiederum die Möglichkeiten der Vernetzung und der Schaffung von Beteiligungsformen angesprochen, die für demokratische Gesellschaften im Rahmen der Digitalisierung essenziell sind.