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4  Rechtliche Anforderungen an Packungsbeilagen

4.2  Anforderungen in der Europäischen Union

4.2.4  Großbritannien

4.2.4.1 Historische Entwicklung von Packungsbeilagen in Großbritannien

In Großbritannien sind Packungsbeilagen erst seit dem 1. Januar 1999 verbindlich für alle Human-arzneimittel vorgeschrieben672673. Zuvor wurden Arzneimitteln nur vereinzelt Patienteninformationen beigelegt674 675. Dies traf beispielsweise auf Inhalativa zu, bei denen zusätzliche Informationen zur Handhabung erforderlich waren197. Für deren Gestaltung existierten bereits erste Empfehlungen des britischen Bundesverbands der pharmazeutischen Industrie, der seinen Mitgliedern außerdem bereits im Jahr 1987 die Verwendung einer Packungsbeilage empfahl676677678. Seit der verbindlichen Einfüh-rung der Packungsbeilagen wird auf eine patientenfreundliche Gestaltung Wert gelegt und es sind eine Vielzahl von nationalen Empfehlungen bei ihrer Erstellung zu beachten. Großbritannien hat momentan eine Vorreiterstellung in Europa übernommen.

4.2.4.2 Anforderungen an Inhalt und Gestaltung in Großbritannien

Packungsbeilagen müssen in Großbritannien den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Europä-ischen Union entsprechen. Hinzu kommen nationale Anforderungen an Angaben zu bestimmten Arzneistoffen sowie Empfehlungen zur generellen Gestaltung von Packungsbeilagen.

Basis für Packungsbeilagen bildet eine auf Artikel 86 Abs. 1 des britischen Arzneimittelgesetzes, des sogenannten „Medicines Act“, basierende Verordnung183. Die erste Fassung aus dem Jahr 1977 diente der Umsetzung der Richtlinie 75/319/EWG und enthielt erste Anforderungen an Packungsbeilagen184. Sie galt gemäß Artikel 3 nur für die Packungsbeilagen, die Arzneimitteln damals bereits beigelegt waren oder beigelegt werden sollten. Eine Änderung der Verordnung erfolgte mit der Umsetzung der Richtlinie 92/27/EWG, wodurch zahlreiche weitere Pflichtangaben erforderlich wurden185. Erst mit der

Änderung des britischen Arzneimittelgesetzes von 1994 wurden Packungsbeilagen für Arzneimittel, die den Regelungen der Kapitel II bis V der Richtlinie 65/65/EWG unterliegen, verbindlich vorge-schrieben186. Dies umfasst Arzneimittel, die zur Anwendung beim Menschen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den Verkehr gebracht werden. Die daraufhin im Jahr 1994 neu erlassene Verordnung verweist in Bezug auf die Gestaltung von Packungsbeilagen auf die Vorgaben der Richtlinie 92/27/EWG, später ersetzt durch den Hinweis auf Richtlinie 2001/83/EG bzw. deren durch Richtlinie 2004/27/EG geänderte Fassung187189191. Infolgedessen müssen Packungs-beilagen dieser Arzneimittel stets den Anforderungen des europäischen Gemeinschaftsrechts genügen.

Zusätzliche nationale Anforderungen sind im Jahr 1998 durch Änderung der Verordnung von 1994 als Anhang 5A ergänzt worden und betreffen Arzneimittel, die z.B. Paracetamol oder Acetylsalicylsäure enthalten188190. Für homöopathische und pflanzliche Arzneimittel, die nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung von 1994 fallen, wurden dagegen spezielle Vorschriften erlassen679680681682.

Die britische Arzneimittelbehörde („Medicines and Healthcare products Regulatory Agency“, MHRA) fordert außerdem die Übereinstimmung der Packungsbeilagen mit den europäischen Leitli-nien158159. Darüber hinaus sind zusätzlich Angaben in der Packungsbeilage von Arzneimitteln erforder-lich, die nicht für Kinder zugelassen sind, jedoch therapeutisch für diese eingesetzt werden193. Auch für Neuroleptika und Dopamin-Agonisten werden spezielle Angaben gefordert194 195. Für einige Arznei-mittel ergeben sich des Weiteren besondere Hinweispflichten je nach deren Verschreibungsstatus683. Zudem hat die MHRA generelle Empfehlungen zum Inhalt und zur Gestaltung von Packungsbeilagen veröffentlicht196. So werden pharmazeutische Unternehmer darauf hingewiesen, bei der Schriftgröße und Gestaltung der Packungsbeilage auf eine hohe Lesbarkeit Wert zu legen192 196197. Für den Text wird eine Schriftgröße von mindestens 12 PostScript-Punkten (pt) sowie für Überschrif-ten von 14 pt bei einem 1,5-fachen Zeilenabstand empfohlen. Für PatienÜberschrif-ten mit Sehbehinderung soll die Schriftgröße 16 bis 20 pt betragen197. Ferner werden detaillierte Anforderungen an die Satzlänge, die Gliederung und die farbliche Gestaltung formuliert. Der Packungsbeilage soll gegebenenfalls ein deutlich hervorgehobener Abschnitt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Informationen zum jeweiligen Arzneimittel vorangestellt werden mit nicht mehr als sechs Hinweisen197. Außerdem sollen auch Informationen zur Notwendigkeit und zum Nutzen der Pharmakotherapie in der Packungsbeilage aufgeführt werden197. Bei der Angabe der Nebenwirkungen sollten auch der Zeitpunkt des eventuellen Eintritts sowie die durchschnittliche Dauer aufgeführt werden197. Für zahlreiche Nebenwirkungen werden zudem bestimmte patientenfreundliche Formulierungen empfohlen197.

Darüber hinaus hat die MHRA ein unabhängiges Expertengremium („Patient Information Expert Advisory Group“; PIEAG) einberufen, welches weitere Möglichkeiten zur Verbesserung der Packungsbeilagen entwickeln und deren Umsetzbarkeit bewerten soll684.

4.2.4.3 Haftungsrechtliche Anforderungen nach britischem Recht

Wie in Österreich gibt es auch in Großbritannien keine spezielle Haftungsregelung für Arzneimittel-schäden. Eine Spezialregelung existiert lediglich für Folgeschäden durch bestimmte Impfstoffe685. Ansprüche aufgrund von Arzneimittelschäden können auf der Grundlage des „common law“ wegen Sorgfaltspflichtverletzung oder wegen Verletzung eines Schutzgesetzes resultieren. Jedoch kommt eine Haftung auch nach dem „Consumer Protection Act“ in Frage (Abbildung 12)221.

Schadensersatzansprüche aufgrund:

„tort-of-negligence“-Haftungbasierend auf

dem „common law“

„Consumer Protection Act“

(CPA)

„breach of statutory duty“

Verletzung einer Sorgfaltspflicht

Inverkehrbringen eines fehlerhaften Produktes

Verletzung eines Schutzgesetzes Schadensersatzansprüche aufgrund:

„tort-of-negligence“-Haftungbasierend auf

dem „common law“

„Consumer Protection Act“

(CPA)

„breach of statutory duty“

Verletzung einer Sorgfaltspflicht

Inverkehrbringen eines fehlerhaften Produktes

Verletzung eines Schutzgesetzes

Abbildung 12: Mögliche Anspruchsgrundlagen zur Haftung bei Arzneimittelschäden in Groß-britannien

Auf der Grundlage des „common law“ können Ansprüche im Falle einer Vertragsbeziehung gestützt auf diesen Vertrag oder vertragsunabhängig wegen rechtwidrigen und schuldhaften Verhaltens des Schuldners gestellt werden. Dies hat sich im Wesentlichen basierend auf Richterrecht („case law“) herausgebildet318. Die vertragliche Haftung spielt im Falle von Arzneimittelschäden wegen der nicht vorhandenen Vertragsbeziehung des pharmazeutischen Unternehmers mit dem Patienten keine Rolle.

Von Bedeutung ist daher die vom „House of Lords“ entwickelte „tort-of-negligence“-Haftung (Fahr-lässigkeitsdelikt). Das Prinzip der negligence-Haftung ist auf Produkte anwendbar, die den Endver-braucher ohne Einschaltung von Drittpersonen, also ohne die Möglichkeit einer Zwischenunter-suchung, erreichen686. Auch Arzneimittel werden erfasst. Dem Produkthersteller obliegt grundsätzlich eine objektive Sorgfaltspflicht gegenüber allen Personen, denen aus dem Verhalten des Herstellers ein Schaden entstehen kann685687. Dies bezieht sich auf die Personen, die naturgemäß unmittelbar von dem Verhalten des Herstellers betroffen sein können688. Die Sorgfaltspflicht orientiert sich dabei am Ver-halten eines vernünftigen Herstellers zur Gefahrenabwehr bzw. an der in der Branche üblichen Praxis und betrifft auch die Instruktion688689690.

Ein möglicher Schadensersatzanspruch resultiert dann aus der wenigstens fahrlässigen Verletzung der geforderten Sorgfalt und einem vorhersehbar gewesenen Schaden417691. Um Schadensersatzansprüche auszuschließen, muss das Produkt bei bestimmungsgemäßer oder naheliegender Verwendung sicher sein, wobei eine vernünftige Sicherheit des Produkts stets ausreichend ist692693. Diese hängt von der Größe der Gefahr einer Verletzung, der Erkennbarkeit des Risikos sowie den Möglichkeiten und Kos-ten eventueller Sicherheitsmaßnahmen ab313. Sofern erforderlich, sind Warnungen vor Gefahren auszu-sprechen, die der Verbraucher stets zu beachten hat694695. Dies gilt insbesondere für unvermeidbar ge-fährliche Produkte wie Arzneimittel. Die Warnungen müssen hinreichend deutlich erfolgen und be-sonders auf versteckte Gefahren hinweisen, die von außen nicht erkennbar sind696 697. Auch auf die Größe der Gefahr bei Nichtbeachtung der Hinweise muss verwiesen werden696. Vor bekannten oder erkennbaren Risiken oder einem fernliegendem Fehlgebrauch muss hingegen auch in Großbritannien nicht gewarnt werden417. Außerdem besteht eine Produktbeobachtungspflicht, nach der vor Gefahren, die dem Hersteller nach dem Inverkehrbringen bekannt werden, zu warnen ist696698.

Eine weitere Grundlage für Ansprüche bildet der „Consumer Protection Act“ (CPA), welcher der Umsetzung der EU-Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG in nationales Recht dient221. Mit dem CPA wurde die verschuldensunabhängige Haftung für fehlerhafte Produkte in Großbritannien eingeführt.

Auch Arzneimittel werden vom CPA erfasst699. Es besteht eine Anspruchskonkurrenz gegenüber den Grundsätzen der „negligence“-Haftung, die parallel geltend gemacht werden können699 700. Die Haftung nach CPA trifft neben dem Hersteller auch den Quasi-Hersteller, der z.B. durch Anbringung

von Warenzeichen den Anschein des Herstellers erweckt. Zu den ersatzfähigen Schäden zählen Tod, Körperverletzung sowie Sachschäden313. Als Sicherheitserwartung wird im CPA die Erwartung eines typischen Verbrauchers zugrunde gelegt. Der Hersteller haftet verschuldensunabhängig für Schäden durch fehlerhafte Produkte, die von den berechtigten Sicherheitserwartungen, die auch durch die Produktpräsentation bestimmt werden, abweichen701. Demzufolge ist auf eine gute Gebrauchsanwei-sung und ausreichende Warnungen Wert zu legen, die sich an dem Gebrauch zu orientieren haben, mit dem der Hersteller rechnen muss313.

Der Hersteller kann gemäß Artikel 4 des CPA entlastet werden, sofern eine Einhaltung gesetzlicher Vorschriften den Fehler verursachte oder wenn von ihm nach dem Stand der Wissenschaft und Tech-nik nicht erwartet werden konnte, den Fehler zu entdecken. Eine Haftung für Druckfehler in Instruk-tionen wird nach diesem Gesetz auch in Großbritannien ausgeschlossen.

Die Regelungen der „General Product Safety Regulations“ zur Umsetzung der gemeinschaftsrecht-lichen Anforderungen an die Produktsicherheit treten ergänzend hinzu und erfassen auch Arznei-mittel213222702. Demzufolge sind die Hersteller verpflichtet, den Verbrauchern alle relevanten Informa-tionen zur Verfügung zu stellen, um nicht erkennbare Risiken vermeiden sowie bewerten und bei deren Eintritt sachgerechte Maßnahmen ergreifen zu können. Artikel 3 Abs. 2 der „General Product Safety Regulations“ räumt jedoch Spezialregelungen zur Sicherheit bestimmter Produkte den Vorrang ein wie dem „Medicines Act“, der Regelungen zur Sicherheit von Arzneimitteln enthält.

Werden Arzneimittel ohne die vorgeschriebene Packungsbeilage in den Verkehr gebracht oder ent-spricht diese nicht den gesetzlichen Anforderungen, resultiert eine Geldstrafe187. Eine zivilrechtliche Haftung nach dem Prinzip des „breach of statutory duty“ ist ebenso vorstellbar703. Ein Schadens-ersatzanspruch resultiert demzufolge aufgrund der Verletzung eines Schutzgesetzes wie die Anfor-derungen an die Gestaltung von Packungsbeilagen, durch die Anwender des Arzneimittels vor Eintritt eines Schadens geschützt werden sollen704.

4.2.4.4 Heilmittel- und wettbewerbsrechtliche Anforderungen nach britischem Recht

Packungsbeilagen, die den nationalen sowie gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen entsprechen, werden nicht als Werbung gemäß Artikel 92 Abs. 3 lit. b des „Medicines Act“ angesehen183705. Ent-spricht die Packungsbeilage nicht den gesetzlichen Vorschriften, unterliegt sie den Anforderungen an Werbung nach Artikel 93 des „Medicines Act“, gemäß dem das Betreiben falscher oder irreführender Werbung für Arzneimittel als Straftat angesehen wird649. Außerdem greifen in diesem Fall ent-sprechende Verordnungen und Kodizes706707708. Werbung in Packungsbeilagen ist zudem nach der im Kapitel 4.2.4.2 beschriebenen Verordnung von 1994 mit einer Geldbuße belegt187.

4.2.4.5 Das Recht des Patienten auf Information in Großbritannien

Das Recht des Patienten auf Information und das daraus folgende Recht auf Selbstbestimmung wird in Großbritannien als ein grundsätzliches Menschenrecht angesehen243244709. Wird ein Patient nicht auf-geklärt, so wird der Eingriff als Körperverletzung angesehen710 711. Die Notwendigkeit der ärztlichen Aufklärung wird außerdem in zahlreichen Empfehlungen betont 712 713. Daher ist der Patient über signifikante Risiken, die seine Entscheidung beeinflussen könnten, zu informieren714. Über sehr seltene

Gefahren muss er hingegen nicht in Kenntnis gesetzt werden. Mit dem vermittelten Wissen soll er eine selbstbestimmte Entscheidung über einen Eingriff treffen können, wobei die Entscheidung über die Relevanz der Informationen im Interesse des Patienten in den Händen des behandelnden Arztes liegt (sogenannte „learned intermediary rule“)715716717.

Der Grad der Aufklärung wird demzufolge in erster Linie als Frage des ärztlichen Urteils betrachtet.

Erfolgt die erforderliche Aufklärung nicht, ist der Arzt haftbar718. Die Packungsbeilage bildet stets die Grundlage für die ärztliche Aufklärung und liefert die Mindestinformationen zum Arzneimittel672. Seit der verbindlichen Einführung von Packungsbeilagen ist die „learned intermediary rule“ jedoch in den Hintergrund getreten und der Hersteller ist auch dem Patienten gegenüber zur Information und War-nung verpflichtet. Unter bestimmten Umständen kann jedoch eine WarWar-nung des Arztes zu rezept-pflichtigen Arzneimitteln ausreichend sein und den Hersteller von Schadensersatzansprüchen schüt-zen. Ob dies der Fall ist, hängt von der Schwere des Risikos und der Wahrscheinlichkeit der Verwirk-lichung eines Schadens ab sowie der Umsetzbarkeit einer direkten Warnung des Verbrauchers719. Zu beachten ist, dass in Großbritannien Arzneistoffe, sogenannte „prescription only medicines“, der-zeit vermehrt aus der Verschreibungspflicht entlassen werden. Die Arzneimittel bleiben entweder apo-thekenpflichtig als „pharmacy medicines“ oder können fortan als „general sale list medicines“ auch außerhalb von Apotheken vertrieben werden. Da im Falle von rezeptfrei erhältlichen Arzneimitteln meist kein Arzt konsultiert wird, obliegt dem Hersteller in diesen Fällen eine besondere Pflicht zur Information des Patienten mittels der Packungsbeilage und je nach Verschreibungsstatus sind darin zusätzliche Hinweise erforderlich683. Die „learned intermediary rule“ greift in solchen Fällen nicht.

Sofern das Arzneimittel apothekenpflichtig ist, muss der Apotheker die erforderlichen Informationen zum Arzneimittel liefern und notwendige Warnungen aussprechen720 721 722 723. Der Patient soll in diesem Zusammenhang alle Informationen erhalten, um eine selbstbestimmte Entscheidung treffen sowie das Arzneimittel sachgerecht anwenden zu können724725. Nur damit erfüllt der Apotheker seine gesetzliche Sorgfaltspflicht sowie die allgemeine Sorgfaltspflicht eines Einzelhändlers, die sich aus der „negligence“-Haftung herleitet245694726.

Die Möglichkeit der Beratung durch den Apotheker entfällt allerdings beim Vertrieb außerhalb der Apotheke. Packungsbeilagen kommt in Großbritannien insofern eine große Bedeutung zu, da die Auf-klärung des Patienten in diesen Fällen allein über die Packungsbeilage erfolgt.