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Gründe und Ziele

Im Dokument Der Hochwasserschutz an der Gürbe (Seite 177-181)

5. DIE SCHUTZBEMÜHUNGEN AN DER GÜRBE

5.1 Frühe Hochwasserschutzmassnahmen und der holprige Weg zur Gürbekorrektion

5.2.1 Gründe und Ziele

Nach Daniel L. Vischer führten vier Faktoren zum Übergang von den kleinräumigen Hochwasserschutzmassnahmen zu den grossen Gewässer-korrektionen: Die Fortschritte in Wissenschaft und Technik, der Wandel der politischen Strukturen, die Häufung von verheerenden Überschwem-mungen und schliesslich der Landhunger der wachsenden Bevölkerung.53 Diese vier Faktoren sollen für die Untersuchung der Gründe und der Ziele der Gürbekorrektion als Grundlage dienen.

Obwohl sich die Entwicklung der ersten beiden Faktoren vorwie-gend auf den übergeordneten Ebenen abspielte, hatten beide grossen Ein-fluss auf den Hochwasserschutz an der Gürbe. Sowohl durch die Fort-schritte in Wissenschaft und Technik wie auch durch die politischen Änderungen – vor allem die Wasserbaugesetzgebung und die damit ver-bunden Subventionierungsgrundsätze – wurde die Umsetzung der gross-räumigen Eingriffe überhaupt erst ermöglicht. Ihre Wirkung entfalteten diese Faktoren auch bei anderen Gewässerkorrektionen, welche neue Möglichkeiten aufzeigten und Begehrlichkeiten auslösten. Für die Gürbe war dabei besonders die Aarekorrektion ein wichtiges Vorbild.54

Die besonders auf einer lokalen Ebene wirkenden Vischer-Faktoren drei und vier, die Überschwemmungen und der Landhunger der Bevöl-kerung, kamen an der Gürbe in grossem Masse zum Tragen. Obwohl das verhältnismässig kleine Einzugsgebiet des Gewässers mit seiner Lage zwi-schen Mittelland und Voralpen grundsätzlich über ein eigenes, kleinräu-miges Niederschlagsmuster verfügte und die schadenbringenden

Hoch-52 TBA (Hg.) 1951: 55.

53 Vischer 2005: 24–25. Die Gründe sind in Kap. 4.1.2 detailliert erläutert.

54 Zur Korrektion der Aare vgl. Kap. 4.1.2.

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wasserereignisse mehrheitlich durch Gewitter ausgelöst wurden und somit lokalen Charakter hatten, zeigt sich das für die gesamte Nordschweiz er-mittelte Muster der Häufung von Überschwemmungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch hier: Zwischen 1845 und 1852 ereigneten sich gleich sechs schwere oder sehr schwere Hochwasserereignisse.55 Die wie-derholte Überflutung grosser Talbereiche hatte für die ansässige Bevölke-rung gravierende Auswirkungen. Beispielsweise standen im Sommer 1846 nach den Überschwemmungen der Aare und Gürbe in Belp rund 70 Fa-milien gänzlich ohne Lebensmittel da.56 Besonders schwer trafen die Naturereignisse die arme Bevölkerung, die im Gürbetal wie in den wei-teren ländlichen Regionen des Kantons Bern ab Ende des 18. Jahrhun-derts immer stärker anwuchs, so dass die unterbäuerliche Schicht teilweise sogar zur Mehrheit wurde.57 Durch diese Bevölkerungszunahme wurde das Ausweichen in Gefahrengebiete notwendig:Insbesondere die Unter-schichten und die Neuzuzüger wurden in die schlechten Lebens- und Wohnräume in Gewässernähe abgedrängt und waren damit dem Hoch-wasserrisiko am meisten ausgesetzt.58 Karl von Werdt, der Besitzer des Schlosses Toffen, kommt darauf in der Diskussion des Gürbegesetzes im Grossen Rat im November 1854 zu sprechen:

«Die Verhältnisse sind gegenwärtig ganz anders, denn in Folge der Vermehrung der Bevölkerung und der damit Hand in Hand gehenden Verarmung war man genö-tigt, dort [in der Nähe des Gewässers] Land auszuteilen, auf welches vorzugsweise die Armen angewiesen wurden. Da sie kein anderes Erdreich haben, so besteht aus diesem Stücke Land in der Regel des Armen ganzes Besitzthum. Wenn nun die Gürbe und Müschen austreten, was in den letzten Jahren besonders in den Mona-ten August und September der Fall war, so wird dieses (ich möchte sagen) Armen-land ganz in Wasser gesetzt und der Erwerb völlig vernichtet.»59

55 Vgl. dazu Kap. 3.2.2 und die Chronik der historischen Schadenereignisse an der Gürbe (Kap. 3.2 und Anhang 3).

56 Protokoll der Sitzung des Grossen Rathes vom 06.11.1846. In: Tagblatt des Grossen Rathes des Kantons Bern 30/2 (1846): 6. StAB LS AMS 3 TGR.

57 Nach Pfister setzte die europaweite Periode des verstärkten Bevölkerungswachstums in den ländlichen Regionen des Kantons Bern erst um 1770 ein. In der ersten Struktur-periode dieser Wachstumsphase, der bis 1850 dauernden agrarischen Periode, verdop-pelte sich die Bevölkerung im Kanton. Pfister 1995: 95.

58 Graf 1991: 12. Die Siedlungsentwicklung wird in Kap. 6.5.4 ausführlicher dargestellt.

59 Protokoll der Sitzung des Grossen Rathes. 28.11.1854. In: Tagblatt des Grossen Rathes 30 (1854): 220–221. StAB LS AMS 3 TGR.

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Die arme Bevölkerung litt einerseits an der Zerstörung ihrer Anbau-flächen, also den kurzfristigen Folgen der Überschwemmungen, anderer-seits aber auch an den längerfristigen Folgen, wie der zunehmenden Ver-sumpfung. Nach Walter Kirchhoff führte diese gar dazu, dass «die Bewohner immer mehr verarmten, was zur Unterernährung führte und diese Unterernährung führte zusammen mit dem nun oft auftauchenden Sumpffieber zu übermässigem Schnapskonsum, was alles die völlige De-generation der Bevölkerung zur Folge hatte.»60 Kirchhoff greift in seiner Argumentation auch die Malaria auf. Diese Krankheit trat in der Schweiz in sumpfigen Regionen im 19. Jahrhundert noch häufig auf. Die Bekämp-fung des sogenannten Sumpffiebers und damit die Verbesserung des Ge-sundheitszustands der Bevölkerung wurden bei Hochwasserschutz- und Entsumpfungsprogrammen vielfach als Argument für notwendige Mass-nahmen eingesetzt (vgl. dazu auch Kapitel 4.1.2). Der Zusammenhang zwischen den Überschwemmungen, den Versumpfungen und der schlechten Lage der Bevölkerung stellte auch Carl Culmann in seinem Bericht über den Zustand der Schweizer Wildbäche von 1864 her. Er schrieb über das Gürbetal: «Mit der Versumpfung des Bodens nahm auch das Verderben der Bevölkerung zu, sie ergab sich dem Branntweintrinken und verarmte zusehends.»61 Wie schlimm die Situation tatsächlich war, lässt sich anhand der Hochwasserschutzquellen schwer beurteilen. Hier lohnt sich ein Blick weiter zurück: Emanuel von Graffenried erwähnte 1761 einerseits diverse Mängel – sei es das Futter für die Tiere oder das Brot für die Menschen –, kam aber andererseits zum Schluss: «Dagegen sind unter ihnen [den Bauern] ziemlich viele Arme; weil ihnen aber die übrigen reichlich steuern, so kan man mit Grund nicht sagen, dass jemand Mangel leide.»62 Mit dem Bevölkerungswachstum, welches im Gürbetal wie in den übrigen ländlichen Regionen des Kantons Bern Ende des 18.

und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders gross war, dürfte sich die Lage jedoch zunehmend verschlimmert haben. Quellenkritisch

60 TBA (Hg.) 1951: 2.

61 Culmann 1864: 349. Hinsichtlich des Alkoholkonsums war von Graffenried in seinem Bericht von 1761 noch zu einem anderen Ergebnis gekommen: «Sie sind ziemlich nüchtern; die grossen Markt-Tage ausgenommen, trifft man hier fast niemals einen Trunkenen an. Die Weiber trinken noch weniger Wein; die ganze Woche hindurch geht niemand ins Wirthshaus, und am Sonntag sehr wenige. Wann die Kirschen gera-then, machen sie ziemlich viel Brandtenwein davon.» Graffenried 1761: 394.

62 Graffenried 1761: 395.

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muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass alle Texte mit einer nega-tiven Darstellung der Lage der Gürbetaler Bevölkerung von Akteuren des Hochwasserschutzes verfasst wurden. Deren Anliegen war es, die Korrek-tion anzustossen oder im Nachhinein zu legitimieren – auch im Hinblick auf die weiteren, oft nicht kritiklos begrüssten ergänzenden Massnahmen (vgl. dazu auch Kapitel 6.2 und 6.4). Die pessimistische Darstellung der Lage der Bevölkerung unterstützte zudem die durch die Hochwasser-schutzakteure favorisierte Darstellung, nach welcher der Anstoss für die Grosse Korrektion von der Bevölkerung ausgegangen sei.

Zurück zu den Gründen für die Grosse Gürbekorrektion: Sowohl der Hochwasserschutz wie auch der zu erwartende Landgewinn waren also wichtige Motive für die Initiierung des Projekts.63 Obwohl der Land-hunger üblicherweise mit der schlechten Situation der wachsenden armen Bevölkerung begründet wurde, finden sich auch einige wenige Hinweise, in welchen die Vorteile des Kulturlandgewinns auch für die restliche Be-völkerung angesprochen werden. In der Ratssitzung von 1846 betonten etwa die Befürworter des Projekts, dass dieses nicht nur die Lage der ar-men Bevölkerung verbessern, sondern für «den Wohlstand der Gegend von unermesslichem Erfolge» sein würde.64 Acht Jahre später argumen-tierte Karl von Werdt in der Diskussion des Gürbegesetzes im Gros sen Rat auf ähnliche Weise:

«Es ist statistisch erwiesen, dass die Schweiz auch in den günstigsten Jahren nicht genug Lebensmittel auf ihrem Gebiete erhält, namentlich Cerealien; Hunderttau-sende gehen jährlich für den Ankauf von Lebensmitteln in’s Ausland; und hierin liegt ein Grund, warum so viele Mitbürger jährlich auswandern. Ist es solchen Thatsachen gegenüber nicht unverantwortlich, dass wir in unserem Lande so viele tausend Jucharten Landes haben, die nicht urbar gemacht sind? Bei 5000 Jucharten solchen Landes liegen gleichsam vor den Thoren der Bundesstadt».65

Von Werdt führte seinen Ratskollegen vor Augen, dass mit der Korrek-tion der Gürbe einerseits den Armen geholfen werden könne, andererseits

63 Damit ist der Aussage von Hans-Rudolf Egli zu widersprechen, dass die Entsumpfungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur dem Hochwasserschutz und der Eindäm-mung der Malaria dienten und nicht im Zusammenhang mit der Erschliessung landwirt-schaftlicher Produktionsflächen gesehen werden können. Vgl. Egli 1986: 198–199.

64 Protokoll der Sitzung des Grossen Rathes vom 14.11.1846. In: Tagblatt des Grossen Rathes des Kantons Bern 43/2 (1846): 2. StAB LS AMS 3 TGR.

65 Protokoll der Sitzung des Grossen Rathes. 28.11.1854. In: Tagblatt des Grossen Rathes 30 (1854): 220–221. StAB LS AMS 3 TGR.

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aber auch viel Kulturland zu gewinnen sei. Letzteres wurde schliesslich auch als einleitende Erklärung ins Gürbegesetz übernommen. Die Ziele der Korrektion sind darin prägnant zusammengefasst: «Zweck des Unter-nehmens ist, die anliegenden Ländereien so viel wie möglich vor Ueber-schwemmungen zu sichern und zu entsumpfen oder der Entsumpfung zugänglich zu machen.»66

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