• Keine Ergebnisse gefunden

Auswertung der Chronik

Im Dokument Der Hochwasserschutz an der Gürbe (Seite 99-103)

2. DIE GÜRBE

3.2 Rekonstruktion der historischen Schadensereignisse der Gürbe und ihrer wichtigen Zuflüsse

3.2.2 Auswertung der Chronik

Die älteste Kunde über ein schadenbringendes Hochwasserereignis an der Gürbe ist im Taufrodel von Belp zu finden. Im Frühling 1575, am 17. Maijul (27.Maigreg),79 sei «die Gürben so gross gsin, dass sie gangen an dess Junkers stäg by dem thor, do man in daz schloss gad, am Pfisterhuss bis an die kleinen Fenster.»80 Diesem schweren Schadensereignis folgten in den kommenden Jahrhunderten viele weitere: Insgesamt konnten für den Zeitraum 1575 bis 2010 75 Hochwasserereignisse ermittelt werden

78 Die Klassifizierung der Ereignisse wurde für die vorliegende Studie mehrfach durch-geführt, dabei auch mit zeitlichem Abstand. In Zweifelsfällen wurde eher die niedri-gere Stufe gewählt.

79 Im Kanton Bern erfolgte die Umstellung vom julianischen zum gregorianischen Ka-lender vom Jahr 1700 auf das Jahr 1701. Damit die Daten der Chronik kompatibel sind, müssen sie homogenisiert werden.

80 Erster Taufrodel von Belp, 1575. Zitiert nach Egger 1958: 18.

9 8 « L A N d u N T E r » A N d E r g ü r b E

(Abbildung 3.4). 20 Ereignisse wurden der Schadensklasse 1 (leicht) zu-geteilt, 27 der Klasse 2 (mittel), 14 der Klasse 3 (schwer), 12 der Klasse 4 (sehr schwer) und 3 der Klasse 5 (katastrophal).

An der grafischen Darstellung der Schadenschronik zeigt sich die un-terschiedliche Datenlage deutlich. Für die frühen Jahrhunderte sind sehr wenige und ausschliesslich schwere Überschwemmungen überliefert. Die mittleren und leichten Ereignisse, welche zweifelsfrei auch auftraten, fan-den keinen Niedergang in fan-den Quellen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ändert sich dies massgeblich: Mit der Inangriffnahme der Korrektion, welche zu einer Flut von Akten führte, den nun zahlreich vorhandenen Presseberichten und der allgemein höheren Zahl von Schriftdokumenten sind viele Belege zu Hochwasserereignissen verschiedener Intensität vor-handen. Dank dieser nun sehr dichten Quellenlage dürfte ein Grossteil der Schadensereignisse dieses Zeitraums bekannt sein.

Die grafische Darstellung der Ereignisse ab der Mitte des 19. Jahr-hunderts zeigt deutlich, dass an der Gürbe sehr häufig schadenbringende Hochwasser auftraten, was in Anbetracht der naturräumlichen Gegeben-heiten besonders im Oberlauf des Gewässers nicht erstaunt. Die Aussagen in den Quellen, nach welchen an der noch unverbauten Gürbe fast jähr-lich Überschwemmungen auftraten,81 scheinen realistisch zu sein, vor allem da die Berichte aus der Zeit stammen, als der Talboden zunehmend

in-81 Vgl. z. B. Graffenried 1761: 384.

Abb. 3.4: Schadenschronik der Gürbe und ihrer wichtigen Zuflüsse 1575–2010.

Quelle: Eigene darstellung.

r E k o N s T r u k T I o N d E r H I s T o r I s c H E N s c H A d E N s E r E I g N I s s E 9 9

tensiver genutzt wurde und dadurch viele Hochwasser überhaupt erst zu Schadensereignissen wurden.82

Abbildung 3.4 zeigt, dass die für die Nordschweiz festgestellte Häu-fung von schweren Überschwemmungen um die Mitte des 19. Jahrhun-derts auch an der Gürbe auftrat.83 Die Schadensereignisse waren ein wich-tiger Faktor für die Inangriffnahme der umfassenden Korrektion und Verbauung des Gewässers (vgl. dazu Kapitel 5.2.1). Im Gegensatz zu an-deren grossen Schweizer Flüssen nahm die Anzahl der schweren Über-schwemmungen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts aber nicht ab. Immer wieder richteten die Hochwasserereignisse der Gürbe schwere Schäden an. In den 1920er- und 1930er-Jahren traten innerhalb weniger Jahre gleich vier sehr schwere oder katastrophale Überschwemmungen auf (1927, 1929, 1930, 1938). Es zeigt sich also, dass die von Christian Pfister für die nationale Ebene ermittelte Katastrophenlücke für dieses kleine Gewässer nicht zutrifft. Zu begründen ist dies mit dem stark von den tal-spezifischen Gegebenheiten abhängigen Abflussverhalten der Gürbe.84

Bereits die Häufigkeit der Überschwemmungen und die naturräum-lichen Voraussetzungen lassen vermuten, dass viele der Hochwasserereignisse durch Gewitter verursacht wurden. Von den insgesamt 75 Schadensereig-nissen wurden 52 tatsächlich von Gewittern verursacht (68,4 Prozent), 17 von langandauernden Niederschlägen (22,4 Prozent) und 7 von Niederschlägen in Kombination mit der Schneeschmelze (9,2 Prozent).85 Die drei katastro-phalen Schadensereignisse wurden alle durch Gewitter ausgelöst, bei den sehr schweren Ereignissen traten hingegen sämtliche drei Varianten auf.

82 Vgl. dazu Kap. 5.2.1.

83 Nach Christian Pfister häuften sich im Schweizer Alpenraum um der Mitte des 19.  Jahrhunderts schwere Niederschläge: So ereigneten sich mehrfach bedeutende Hochwasserereignisse (z. B. die grossen Mittellandüberschwemmungen von 1852 und 1876). Eine Zunahme der Niederschläge im Sommer und vor allem im Herbst sei ab 1835 zu beobachten. Gemäss Pfister wurden in den Schweizer Alpen zwischen 1864 und 1895 im Herbst im Schnitt 28 % mehr Niederschläge gemessen als zwischen 1901–1960. Vgl. dazu Pfister 1999: 57–77, 214–245.

84 Als Katastrophenlücke bezeichnet Christian Pfister die Zeit zwischen 1882 und 1976, in welcher die Schweiz weitgehend vor Naturkatastrophen verschont blieb. Dies hatte tiefgreifende Folgen für den Umgang mit Naturkatastrophen. Vgl. dazu Pfister 2009a.

Siehe dazu auch Kap. 4.1.5.

85 Die Ursache ist nicht bei allen Hochwasserereignissen explizit in den Quellen erwähnt, lässt sich für die Gürbe anhand verschiedener Hinweise wie der Dauer des Ereignisses oder auch des betroffenen Gebiets aber gut abschätzen.

1 0 0 « L A N d u N T E r » A N d E r g ü r b E

Dass die Gewitter den meisten Schaden verursachen, zeigt sich auch in der jahreszeitlichen und monatlichen Verteilung der Schadensereignisse (Abbildung 3.5 und 3.6). Am häufigsten ereigneten sich die schadenbrin-genden Hochwasser im Sommer, wo die Gewitterbildung im Quellgebiet häufig ist. In den anderen Jahreszeiten waren die Hochwasserereignisse deutlich seltener. Durch die voralpine Lage des oberen Einzugsgebiets ist die zurückhaltende Wirkung von Schnee begrenzt, Gletscher sind keine vorhanden. Trotz Konzentration auf die Sommermonate können die Überschwemmungen aber grundsätzlich während des ganzen Jahres auf-treten, was die Bauarbeiten an der Gürbe wiederholt erschwert hat.86

Die unterschiedlichen Wetterlagen, die Hochwasser verursachten, hatten eine regionale Differenzierung zur Folge, denn nicht alle Hoch-wasserereignisse traten notwendigerweise gleichzeitig am Ober- und Un-terlauf der Gürbe auf (vgl. dazu auch Kapitel 3.1.1). Von den 75 Schadens-ereignissen betrafen gemäss der vorhandenen Informationen 33 nur den Oberlauf, 14 nur den Mittel- oder Unterlauf und 28 den Oberlauf und den Talbereich.87 Letzteres kam vor allem bei grossen Ereignissen vor. Da die Informationen zu einigen Ereignissen spärlich sind und somit schwierig

86 Vgl. dazu Kap. 5.2.1 und 5.3.

87 Im Mündungsgebiet traten auch Überschwemmungen der Aare auf. Diese wurden in der Chronik nur berücksichtigt, wenn auch das Wasser der Gürbe Schäden verursachte.

Zu den historischen Hochwassern an der Aare zwischen Thun und Bern vgl. Hügli 2007: 31–43.

Abb. 3.5: Jahreszeitliche Verteilung des Auftretens der Schadensereignisse.

Quelle: Eigene darstellung.

f ü N f H o c H w A s s E r E r E I g N I s s E u N T E r d E r L u p E 1 0 1

abzuschätzen ist, ob nicht auch noch weitere Talbereiche betroffen waren, sind diese Zahlen nur als Annäherung zu verstehen. Die Schadenschronik lässt aber klar erkennen: Zwischen der Ursache der Hochwasserereignisse und dem betroffenen Gewässerabschnitt besteht an der Gürbe ein Zusam-menhang. Im Oberlauf führen üblicherweise Gewitter zu grossen Abfluss-spitzen, im Unterlauf und dabei vor allem im unteren Talbereich hinge-gen langandauernde Rehinge-genfälle.88 Von den schweren, weite Teile der Nordschweiz betreffenden und durch grossskalige Niederschlagsevents ausgelösten Hochwasserereignissen (z. B. die grossen Mittellandüber-schwemmungen 1852, 1876, 1910 oder 2005) war jeweils die gesamte Gürbe betroffen.

Im Dokument Der Hochwasserschutz an der Gürbe (Seite 99-103)