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Fünf Hochwasserereignisse unter der Lupe

Im Dokument Der Hochwasserschutz an der Gürbe (Seite 103-117)

2. DIE GÜRBE

3.3 Fünf Hochwasserereignisse unter der Lupe

Obwohl die Gürbe und ihr Einzugsgebiet klein sind, weisen die histori-schen Schadensereignisse massive Unterschiede auf. Einige betrafen den Oberlauf, andere das Mündungsgebiet, dritte wiederum das ganze Tal.

Weiter können die Hochwasserereignisse während verschiedener Jahres-zeiten auftreten, durch Gewitter, langandauernde Niederschläge und Schneeschmelze verursacht sein oder verschiedene Ausmasse haben. Im

88 Vgl. IHW (Hg.) 1997: 7.

Abb. 3.6: Monatliche Verteilung des Auftretens der Schadensereignisse.

Quelle: Eigene darstellung.

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Folgenden soll diese Vielfalt anhand der näheren Betrachtung von fünf wichtigen Hochwassern beispielhaft aufgezeigt werden. Auch geben die detaillierteren Ausführungen Einblick in die Klassifizierung der Schäden.

1897

Vom 14. bis zum 20. Juni 1897 entluden sich über weiten Teilen des Kan-tons Bern, dabei besonders auch über dem Gantrischgebiet, intensive Sommergewitter.89 Alle grösseren Gewässer der Region führten darauf-hin grosse Hochwasserabflüsse und verursachten Überschwemmungen.

Das Einzugsgebiet der Gürbe war über mehrere Tage betroffen. Bereits am 14. Juni führte ein heftiges Gewitter zum starken Anschwellen des Fallbachs. Gemäss dem Zeitungsbericht des Intelligenzblatt[s] der Stadt Bern wurde «eine Unmasse von Geschiebe […] zu Thal gefahren».90 Die Was-sermassen rissen zwei Brücken mit, ansonsten entstand kein wesentlicher Schaden. Massivere Schäden zogen jedoch die anhaltend schweren Ge-witter der folgenden Tage nach sich. Am 17. Juni brach in der Ey ober-halb Wattenwil der Gürbedamm auf einer Strecke von 150 Metern ein, wodurch die Wasser- und Feststoffmassen mit vielen Tannen und Bau-holz ungehemmt in Richtung des Siedlungsgebiets flossen und dort in Gebäude eindrangen. Auch an den Hochwasserschutzbauten im Gebirgs-teil richtete das Ereignis grosse Schäden an. Im Meierisligraben wurden zehn grosse Holzsperren zerstört. Im noch nicht verbauten Abschnitt in der Übergangszone vom Ober- zum Unterlauf trat die Gürbe über ihr rechtes Ufer und übersarte Wiesen, Getreide- und Kartoffeläcker mit Kies, grossen Steinen und Schlamm. Zwischen Wattenwil und Forstsäge stand alles unter Wasser.91

Obwohl die noch jungen Hochwasserschutzbauten dafür gelobt wur-den, dass sie eine Katastrophe verhindert hätten, schien dennoch eine gewisse Ernüchterung zu herrschen. Das Intelligenzblatt der Stadt Bern berichtete:

89 Lanz-Stauffer, Rommel: 61; O. A.: Kantonale Nachrichten. Bern. In: Intelligenzblatt.

Tagesanzeiger für die Stadt und den Kanton Bern, 18.06.1897.

90 O. A.: Kantonale Nachrichten. Bern. In: Intelligenzblatt. Tagesanzeiger für die Stadt und den Kanton Bern, 18.06.1897.

91 Bettschen, Wilhelm: Gürbekorrektion. 08.07.1925. Dokument zur Verfügung gestellt von Erich Obrist, Wattenwil; O. A.: Kantonale Nachrichten. Bern. In: Intelligenzblatt.

Tagesanzeiger für die Stadt und den Kanton Bern, 18.06.1897.

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«Man ist denn auch dankbar für die neuen Verbauungen, die allerdings auch schwer geschädigt sind. Dagegen ist die Bevölkerung mit den vielen Krümmungen des neuen Gürbenbettes nicht einverstanden, da diese Stellen für Dammbrüche die denkbar günstigsten Angriffspunkte bieten. Die von der heutigen Katastrophe be-troffene Bevölkerung ist ziemlich entmutigt; es scheint, als ob die Gürbe noch auf Jahre hinaus ein Hindernis für die Prosperität unserer Gemeinde bleiben soll. Der Schaden an Kulturen, Material am Gürbenwerk selber beläuft sich auf Tausende von Franken.»92

Das Hochwasserereignis vom 14.–20. Juni 1897 ist beispielhaft für viele Ereignisse im Oberlauf der Gürbe: Ausgelöst durch intensive Sommerge-witter kann das Wasser der Gürbe und ihrer Zuflüsse sehr rasch anschwel-len und in kurzer Zeit grosse Geschiebemassen ins Tal tragen. Diese be-drohen die Infrastruktur, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders die Hochwasserschutzbauten in und entlang der Gewässer. Verlassen die Gürbe oder ihre Zuflüsse das Gewässerbett, gefährden sie auch das Sied-lungsgebiet. Durch die Übersarung von landwirtschaftlichen Nutzflächen können grosse Schäden entstehen, welche für die Bevölkerung schwer zu tragen sind. In der Übergangszone werden die Wasser- und Geschiebe-massen – ausser bei extremen Ereignissen – meistens abgebremst, so dass die weiteren Gemeinden in der Talebene verschont bleiben.

Da beim Hochwasserereignis von 1897 nur der Oberlauf betroffen war und die Schäden als gross einzustufen sind, ist dieses Ereignis für die Hochwasserchronik der vorliegenden Studie als gross (Kategorie 3) klas-sifiziert worden.

1910

Obwohl die Hochwasser üblicherweise entweder den Ober- oder aber den Unterlauf und nur in den schweren Fällen die ganze Gürbe betreffen, können auch kleinere Ereignisse Schäden im gesamten Gürbetal verursa-chen. Vom 18. bis zum 20. Januar 1910 führte der intensive Niederschlag im Tal wie auch in anderen Teilen des Mittellandes, in der Innerschweiz und in grossen Gebieten der Westschweiz zu Überschwemmungen.93 Die grossen Regenmengen führten in Kombination mit der raschen Schmelze der vergleichsweise grossen Schneemengen in den Bergen des

Gantrisch-92 O. A.: Kantonale Nachrichten. Bern. In: Intelligenzblatt. Tagesanzeiger für die Stadt und den Kanton Bern, 18.06.1897.

93 Zum Hochwasserereignis von 1910 vgl. Summermatter 2012: 231–235.

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gebiets zu einem Hochwasserereignis. Das Wasser und Geschiebe verur-sachten aber «im Gebiete der Gürbe in den höheren Lagen an den Ver-bauungen sowie im Thale gleicherweise ganz geringen Schaden».94 Einige Holzbauten oberhalb der Einmündung des Meierisligrabens wurden be-schädigt, in Lohnstorf ein in den 1850er-Jahren erstelltes Überfallbau-werk zerstört und in Belp das Gürbeufer oberhalb der Tuchfabrik «Bay &

Cie» auf einer Länge von 120 Metern abgeschwemmt.95 Diese nur gerin-gen Beschädigungerin-gen wurden der Wirksamkeit der Hochwasserschutzbau-ten zugeschrieben. Der Bund berichtete:

«Dass diese Bauten ihrem Zweck vollständig entsprechen, haben wir schon letztes Jahr, das so viele Wasserkatastrohen mit sich brachte, in reichem Masse erfahren;

denn die Gürbe verhielt sich ‹stille›.»96

Da nur einige wenige Hochwasserschutzbauten beschädigt wurden, was keine grösseren oder langfristigen Folgen nach sich zog, können die Schä-den von 1910 als gering eingestuft werSchä-den. In Kombination mit dem gros-sen räumlichen Ausmass (3 und mehr Gemeinden) wird dieses Ereignis als mittleres Schadensereignis klassifiziert (Klasse 2).

1938

Die 1920er- und 1930er-Jahre waren für die Gürbeanstösser zwei schwie-rige Jahrzehnte. Gleich sieben Mal ereigneten sich Hochwasserereignisse, vier davon waren sehr schwer oder katastrophal. Nach 1927, 1929 und 1930 war diejenige von 1938 das letzte dieser Reihe. Dieses Ereignis führte nicht nur wieder zu grossen Schäden, sondern hatte auch weitrei-chende Folgen für den Hochwasserschutz. Ausgelöst wurde das Hochwas-ser vom 15. Juli 1938 durch ein schweres Gewitter mit Hagelschlag im oberen Einzugsgebiet.97 Die Gürbe schwoll rasch an, trat nach dem Ge-fällsknick über die Ufer und setze weite Flächen des Wies- und

Acker-94 Vgl. Der Ingenieur des 4. Bezirks in Bern an die Baudirektion des Kantons Bern.

13.06.1910. StAB BB X 4227.

95 Vgl. Der Regierungsrat des Kantons Bern an den Bundesrat. 01.06.1910. BAR E 19 1000/43 Nr. 1413.

96 St., F.: Gürbekorrektion. In: Der Bund, 06.09.1911.

97 Auch in anderen Kantons- und Landesteilen richteten an diesem Tag schwere Gewitter Schäden an. Vgl. Gees 1997: Anh. D.

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landes unter Wasser.98 Sowohl im Ober- wie im Unterlauf waren die Ab-flusswerte der Gürbe sehr hoch: Die Pegelmessstation in Belp mass mit 59  m3/s den höchsten Abflusswert seiner bisherigen Betriebszeit.99 Für Burgistein geht das Institut für Hydromechanik und Wasserwirtschaft der ETH Zürich von einer Abflussspitze von 77 m3/s aus.100

Aus allen Talbereichen gingen Meldungen und Berichte über Schä-den ein, wobei sowohl der Gebirgsteil als auch das Perimetergebiet des Mittleren Gürbeschwellenbezirks besonders stark betroffen waren.Im Ge-birgsteil der Gürbe richteten die Wasser- und Geschiebemassen grosse Schäden an den Hochwasserschutzbauten an. Der Oberingenieur des II. Kreises schilderte dem Kantonsoberingenieur:

«Die Verheerungen sind teilweise derart, dass ohne Uebertreibung von einer Ge-fährdung des grossartigen Verbauungswerkes gesprochen werden darf. Sofortige Hilfe ist dringlich, Geldmittel stehen keine mehr zur Verfügung.»101

Die Wasser- und Geschiebemassen beschädigten Leitwerke, Uferschwellen, Flügelmauern und Sperren. In Wattenwil floss das Wasser die Strassen hinab.102 Im flachen Unterlauf trat die Gürbe an verschiedenen Stellen über die Ufer, überflutete die umliegenden Gebiete und überdeckte diese mit Schlamm. Insbesondere bei Brücken traten Probleme auf, da sich dort

98 IHW (Hg.) 1997: Anh. 2; BAFU: Hydrologische Daten und Vorhersagen. 2159 Gürbe Belp, Mülimatt, 01.01.1974–31.12.2014.

99 Scherrer, Simon; Frauchiger, Roger: Ergänzungen der hydrologischen Grundlagen im oberen Gürbetal. Reinach 2008: 12. Archiv WBV OG, Ordner WBV HWS Wa. Diese Quelle wird im Folgenden mit «Scherrer, Frauchiger 2008» abgekürzt.

100 Dieser Wert wurde aufgrund einer Rekonstruktion der Abflussganglinie in Burgistein, basierend auf den Messwerten von Belp, bestimmt. Die Pegelmessstation in Burgistein war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Betrieb. IHW (Hg.) 1997: 12. Der für Burgistein berechnete Wert liegt somit deutlich unter der gemessenen Abflussspitze von 93 m3/s am 29. Juli 1990, jedoch höher als der zweithöchste gemessene Wert von 52,4 m3/s im Jahr 2014. Vgl. AWA: Gürbe Burgistein. Abfluss 01.01.2009–09.02.2015; Scherrer, Frauchiger 2008: 12; Scherrer, Simon; Frauchiger, Roger: Abflussberechnungen für den Fallbach und den Gürbe-Oberlauf. Hydrologische Untersuchung zur Optimierung des Hochwasserschutzes von Blumenstein und Wattenwil mit den Hochwasserrück-haltebecken Pohlernmoos und Ochsenweid. Reinach 2011: 7. Archiv WBV OG. Diese Quelle wird im Folgenden mit «Scherrer, Frauchiger 2011» abgekürzt.

101 Der Oberingenieur des II. Kreises an den Kantonsoberingenieur. 22.09.1938. StAB BB X 4229.

102 IHW (Hg.) 1997: Anh. 2.

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das Holz verkeilte, wodurch das nachfolgende Wasser und Geschiebe zu-rückstaute und schliesslich das anstossende Land überflutete. Wie in den Beschwerden an den Regierungsrat zu lesen ist, waren die betroffenen Brü-cken bei ihrem Bau im Zuge der Grossen Gürbekorrektion zu tief gesetzt worden, da mit zu geringen Spitzenabflusswerten gerechnet worden war.103

Zur Bewältigung der Schäden musste sofort die finanzielle Hilfe des Kantons beigezogen werden. Die dringlichsten Wiederherstellungsarbei-ten wie die Errichtung von Brücken wurden von einer Hilfsmannschaft erledigt. Mehrere Talgemeinden boten ihre Hilfe an.104 Dennoch: Die Häufung von mehreren schweren Überschwemmungen innert kurzer Zeit sorgte im Tal für Unmut, und die wiederholten Schadensereignisse wurden dem ungenügenden Hochwasserschutz zugeschrieben. Dies zeigte beispielsweise das an die Regierung gerichtete Schreiben der Einwohner-gemeinden Burgistein und Lohnstorf. Im Namen ihrer Gürbeanstösser klagten diese: «Trotzdem er [der Gürbeanstösser] hohe Schwellentellen zu leisten hat, ist er zu wenig oder gar nicht geschützt gegen solche Schäden.»105 Um ähnliches in Zukunft zu verhindern, forderten sie wei-tere Präventionsmassnahmen. In den folgenden Monaten und Jahren wur-den daraufhin nicht nur dringliche Wiederherstellungsarbeiten wie die Ausräumungsarbeiten und das Erstellen von Notdämmen vorgenommen, sondern auch neue grosse Hochwasserschutz- und Aufforstungsprojekte durchgeführt.106

Da die Schäden als sehr gross einzustufen sind und die gesamte Gürbe betroffen war, wird dieses Ereignis als katastrophal (Klasse 5) klas-sifiziert.

103 Die Einwohnergemeinden Burgistein und Lohnstorf an den Regierungsrat des Kantons Bern. 06.08.1938. StAB BB X 4229.

104 Protokoll des engeren Bauausschusses. 25.06.1938. In: Protokolle der Schwellengenos-senschaft Wattenwil (1930–1949). Archiv WBV OG.

105 Die Einwohnergemeinden Burgistein und Lohnstorf an den Regierungsrat des Kan-tons Bern. 06.08.1938. StAB BB X 4229.

106 Die Schwellenkommission des mittleren Gürbeschwellenbezirks an den Oberingenieur des II. Kreises zu Handen der kantonalen Baudirektion: Ansuchen um Bewilligung von Kantons- & Bundesbeiträgen an die Wiederinstandstellung des Gürbehauptkanals im mittlern Bezirk. 23.06.1938. StAB BB X 4229; Der Forstmeister des Oberlandes an die Eidg. Inspektion für Forstwesen, Jagd und Fischerei. 01.07.1952. BAR E 3270 (A) 2005/214 Nr. 949.

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1990

Am Abend des 29. Julis 1990, nach einem schönen und heissen Sonntag, ereignete sich über dem Gantrischgebiet ein ausserordentliches Gewitter, das nicht nur in die meteorologischen Annalen eingehen, sondern auch die Hochwasserschutzgeschichte der Gürbe nachhaltig verändern sollte. Inner-halb von nur vier Stunden entluden sich über dem westlichen Gantrisch-gebiet aus einer sogenannten Superzelle riesige Niederschlagsmengen. Der Pluviograph der Tschingelalp mass rund 240 mm Niederschlag in drei bis vier Stunden, was für die Alpennordseite ein meteorologisches Rekorder-eignis war.107 Obwohl die betroffene Fläche im Einzugsgebiet der Gürbe nicht sehr ausgedehnt war, schwoll der Fluss durch den Zufluss dieser Was-sermassen rasch auf Rekordhöhe an. In Burgistein wurde die Abflussspitze bereits nach einer halben Stunde registriert.108 Die Pegelmessstation mass in Burgistein eine Abflussspitze zwischen 88 und 97 m3/s, wobei jedoch 8–12 m3/s ausgetreten waren und an der Messstelle vorbei talwärts flos-sen.109 Das Abflussvolumen war hingegen nicht extrem. Da Pegelmesssta-tionen in solchen Extremfällen keine zuverlässigen Daten liefern können, wurde nachträglich verschiedentlich versucht, die Abflusswerte der Gürbe zu rekonstruieren. Die Resultate fallen sehr unterschiedlich aus und bein-halten Werte zwischen 71 m3/s und 300 m3/s.110 Im Bericht des Bundes-amts für Wasser und Geologie wird der Abflusswert der Gürbe oberhalb des Zuflusses des Fallbachs auf 200–250 m3/s beziffert, was rund das Drei-fache des bis dahin auf 70 m3/s veranschlagten HQ100 (100-jährliches Er-eignis) wäre.111 Im Gewässerrichtplan Gürbe wird auf Basis der Einschät-zung des Instituts für Hydromechanik und Wasserwirtschaft der ETH Zürich von einem Abflusswert von 96–109 m3/s ausgegangen.112 In den

107 IHW (Hg.) 1997: 6. Seit Beginn der Niederschlagsmessungen war dieser Wert auf der Alpennordseite bis dahin unerreicht. Scherrer, Frauchiger 2011: 7.

108 Entwurf Gewässerrichtplan Gürbe 1999: 43. Archiv TBA OIK II. Das Gewitter wirkte sich auch auf den Abfluss der Sense aus und verursachte ein sehr schweres Schadens-ereignis. In Thörishaus wurde am 29.07.1990 mit 495 m3/s der mit Abstand grösste Abfluss gemessen. TBA OIK II, Tiefbauamt des Kantons Freiburg, Sektion Gewässer (Hg.) 2015: 15.

109 Scherrer, Frauchiger 2008: 12.

110 Zu den verschiedenen Studien bzw. ihren Modellen und Ergebnissen vgl. Jäckle 2013a: 78.

111 BWG (Hg.) 2004: 2.

112 Ein Ereignis von einer Wiederkehrperiode von über 100 Jahren würde rund 170 m3/s betragen. Vgl. Scherrer, Frauchiger 2011: 6–8, 16.

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weiter unten liegenden Gebieten im Talboden wurde die Hochwasser-spitze dann durch die Überflutungen rasch gedämpft, so dass der maxi-male Abfluss in Belp noch 44 m3/s betrug. Somit stellten bei dieser Mess-station weder Abflussspitze noch Abflussvolumen einen Höchstwert dar.

Die Wiederkehrperiode für diese Abflussspitze in Belp liegt nur bei etwa 10 Jahren.113

Die Wassermassen verursachten im gesamten Gürbetal grosse Schä-den. Hauptsächlich betroffen war der Oberlauf. Im Gebirgsteil zerstörten das Wasser und besonders das Geschiebe und Holz einen bedeutenden Teil der Wildbachverbauungen. Da die vorhandenen Schwellen für eine mit 90 m3/s viel zu kleine Aufnahmekapazität dimensioniert waren, der enorme Oberflächenabfluss aber bis zu 200 m3/s betrug, kam es zu star-ken Beschädigungen und Zerstörungen der Bauwerke und grossflächigen Überflutungen und Übersarungen.114 Das Wasser frass sich tief ins Bach-bett ein und senkte dessen Sohle um bis zu acht Meter. Viele Schwellen brachen ein oder aber ihre seitlichen Flanken wurden weggeschwemmt.

Mehrere Bauten wurden durch Unterspülung wirkungslos. Im Oberlauf wurden im Grenzbereich der Gemeinden Wattenwil und Blumenstein von insgesamt 140 Schwellen 80 vollständig weggerissen oder so stark be-schädigt, dass sie ersetzt werden mussten.115 Zudem brachen drei Kilome-ter des Längsdamms ein. Im Talbereich wurden über 200 000 Kubikme-ter MaKubikme-terial abgelagert und der Auslauf der Gürbe zu einem S geformt.116 Im Gebiet des Hohli oberhalb Wattenwils verliessen die Wasser- und Ge-schiebemassen das Bachbett und flossen in Richtung der Siedlungsgebiete von Mettlen, Wattenwil und Blumenstein. Das Wasser schwemmte dabei viele Feststoffe mit sich und lagerte diese auf den Feldern, Strassen und zwischen den Häusern ab (Abbildung 3.7).

Massive Schäden erlitt auch die Verkehrsinfrastruktur. Mehrere Brü-cken wurden weggerissen, Strassen zerstört und die Bahngeleise verschüt-tet.117 Die Gürbetalbahn musste den Betrieb für zwei Wochen einstellen, die Kantonsstrasse zwischen Wattenwil und Blumenstein blieb tagelang

113 Jäckle 2013a: 77.

114 Protokoll der Besichtigung der Gürbe durch die Geschäftsprüfungskommission des Bernischen Grossen Rates. 24.08.1995. Archiv TBA OIK II 3115.

115 WSL: Unwetterschadens-Datenbank.

116 Protokoll der Besichtigung der Gürbe durch die Geschäftsprüfungskommission des Bernischen Grossen Rates. 24.08.1995. Archiv TBA OIK II 3115.

117 Berner 1990: 14–15.

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gesperrt. Auf den hoch gelegenen Alpweiden sowie in den Waldgebieten des Oberlaufs verursachten Rutschungen und Murgänge Schäden.118 Auch der Talbereich blieb nicht verschont. Zahlreiche Gebäude, darunter In-dustrie-, Gewerbe- und Landwirtschaftsbetriebe, standen unter Wasser.

Zudem überschwemmte die Gürbe viel Kulturland und vernichtete durch die Schlammschicht Teile der Ernte. Besonders aus Mühlethurnen und Toffen, wo sich das Wasser hinter Brücken staute und dadurch über-schwemmte, trafen viele Schadensmeldungen ein. Gemäss Otto Berner wurden sogar lebende Fische auf die Felder und in Häuser geschwemmt.119 In Belp waren nur geringfügige Schäden zu beklagen. Hier war der Ab-fluss durch die Überflutungen im Talboden bereits stark gedämpft.120 Für die Räumungsarbeiten standen die lokalen Wehrdienste, die Feuerwehr Thun, die Gemeinde- und Forstdienste sowie Teile des Zivilschutzes im

118 TBA OIK II: Gürbe im Gebirge. Katastrophe vom 29. Juli 1990. Bauprogramm und fi-nanzielle Auswirkungen. Archiv WBV OG.

119 Berner 1990: 14–15.

120 WSL: Unwetterschadens-Datenbank.

Abb. 3.7: Geschiebe im Siedlungsgebiet von Mettlen (Wattenwil) nach dem Hoch-wasserereignis vom 29. Juli 1990.

Quelle: bild zur Verfügung gestellt von Lieselotte kappeler, wattenwil.

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Einsatz.121 Die Solidarität mit der unwettergeschädigten Bevölkerung war gross. Aus der Region und aus auch weiteren Landesteilen gingen zahl-reiche Spenden ein.122

Um bei erneuten Gewittern weitere Schäden zu verhindern, muss-ten neben den Räumungsarbeimuss-ten rasch wasserbauliche Notmassnahmen getroffen werden. Unter Mithilfe von Militär und Luftschutz wurde im Gebirgsteil das Gerinne wieder geöffnet.123 Die Ausschütte am Ausgang der Gebirgsstrecke wurde mit Leitdämmen gesichert und ein provisori-scher Grobrechen erstellt, welcher das Holz bei weiteren Ereignissen zu-rückhalten und so Verklausungen bei Brücken im Unterlauf verhindern sollte. Die eigentlichen Reparaturarbeiten dauerten dann Jahre und wa-ren besonders an den Wasserbauwerken im Gebirgsteil sehr umfangreich (vgl. dazu Kapitel 5.5). Als geschätzte Schadenssumme werden im Bericht des Bundesamts für Wasser und Geologie ca. 40 Millionen Franken ge-nannt.124 Im Protokoll der Besichtigung der Gürbe durch die Geschäfts-prüfungskommission des Bernischen Grossen Rates aus dem Jahr 1995 werden die Kosten der Schäden allein an den Wasserverbauungen auf 35 Millionen Franken beziffert.125

Die Betrachtung der Abflussspitzen, des räumlichen Ausmasses und vor allem der Schäden des Hochwassers vom 29.07.1990 macht deutlich, dass dies ein Ereignis von aussergewöhnlicher Schwere war. Aufgrund der massiven Schäden sowie des grossen räumlichen Ausmasses wird es als katastrophal klassifiziert (Klasse 5). Infolge der sehr unterschiedlichen Datenlage ist es schwierig zu beurteilen, ob das Ereignis von 1990 das schwerste Hochwasserereignis an der Gürbe war. Nach dem IHW war die Abflussspitze extrem, jedoch nicht singulär, so dass auch bei weiter

zu-121 Einsatzleitung der Unwetterschäden Gemeinde Wattenwil: Unwetterschäden Watten-wil. 29./30.07.1990. Archiv Forstrevier WattenWatten-wil.

122 Vgl. z. B.: Die Einwohnergemeinde Wattenwil an die Heilsarmee. 29.08.1990. Ge-meindearchiv Wattenwil, Ordner Unwetter 29.7.90; Die Einwohnergemeinde Watten-wil an den Gemeinderat Steffisburg. 16.10.1990. Gemeindearchiv WattenWatten-wil, Ordner Unwetter 29.7.90; Die Einwohnergemeinde Wattenwil an die Glückskette. 29.08.1991.

Archiv WBV OG, Ordner Gürbe 1991.

123 Protokoll der Besichtigung der Gürbe durch die Geschäftsprüfungskommission des Bernischen Grossen Rates. 24.08.1995. Archiv TBA OIK II 3115.

124 BWG (Hg.) 2004: 4.

125 Protokoll der Besichtigung der Gürbe durch die Geschäftsprüfungskommission des Bernischen Grossen Rates. 24.08.1995. Archiv TBA OIK II 3115.

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rückliegenden Hochwasserereignissen, wie demjenigen von 1695, ähnliche Abflusswerte und räumliche Ausmasse vorgekommen sein könnten.126 Für die Beurteilung der Schäden und des Ausmasses muss unbedingt auch das Schadenspotenzial beachtet werden, welches Ende des 20. Jahrhunderts deutlich höher war als in den Jahrzehnten und Jahrhunderten zuvor. Dies macht einen direkten Vergleich schwierig. Sicherlich war das Ereignis von 1990 aber eines der folgenreichsten für den Hochwasserschutz: Es löste nicht nur Wasserbauprojekte, sondern auch ein generelles Überdenken des Hochwasserschutzes an der Gürbe aus. Im Entwurf des Gewässerricht-plans Gürbe ist zu lesen:

«Dieses Ereignis bildet eine Zäsur in der jüngeren Geschichte der Gürbe. Es zwingt unweigerlich dazu, manches neu zu überdenken und hat entsprechend auch nach-haltige Auswirkungen auf das Integralprojekt zur Folge.»127

Das Ereignis vom 29.07.1990 führte auch dazu, dass der Philosophiewan-del im Hochwasserschutz schneller vonstatten ging (vgl. dazu Kapitel 5.5).

2007

Am 8. und 9. August 2007, nur zwei Jahre nach dem letzten Schadens-ereignis im Mündungsgebiet der Gürbe, führten intensive Niederschläge zu einer erneuten Überschwemmung. Betroffen war nicht nur das Gür-betal, sondern weite Teile des Schweizer Mittellands und des Juras.128 Der Auslöser dieses Hochwasserereignisses waren längere, ergiebige Nieder-schläge. Bereits in der Nacht vom 7. auf den 8. August regnete es im ge-samten Einzugsgebiet der Gürbe heftig. Am Nachmittag des 8. Augusts

Am 8. und 9. August 2007, nur zwei Jahre nach dem letzten Schadens-ereignis im Mündungsgebiet der Gürbe, führten intensive Niederschläge zu einer erneuten Überschwemmung. Betroffen war nicht nur das Gür-betal, sondern weite Teile des Schweizer Mittellands und des Juras.128 Der Auslöser dieses Hochwasserereignisses waren längere, ergiebige Nieder-schläge. Bereits in der Nacht vom 7. auf den 8. August regnete es im ge-samten Einzugsgebiet der Gürbe heftig. Am Nachmittag des 8. Augusts

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