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Das Umdenken zum naturnäheren Hochwasserschutz

Im Dokument Der Hochwasserschutz an der Gürbe (Seite 138-143)

4. DER HOCHWASSERSCHUTZ IN DER SCHWEIZ Die Vorgänge im Hochwasserschutz an der Gürbe waren untrennbar mit

4.1 Historischer Überblick

4.1.5 Das Umdenken zum naturnäheren Hochwasserschutz

Über lange Jahrzehnte erfolgte die Hochwasserprävention in der Schweiz nach den im 19. Jahrhundert entwickelten Grundsätzen und war, so Ste-phanie Summermatter, abgesehen von finanzpolitischen Fragen auf den bestehenden Strukturen festgefahren.101 Diese Stagnation wurde erst von der aufkommenden Umweltdebatte und von neuen, schweren Über-schwemmungen erschüttert.

Basierend auf der Zivilisations- und Industriekritik hatten sich in der Schweiz bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erste Vorläufer des Naturschutzes entwickelt.102 Da die Natur als Teil des Kulturguts der Heimat angesehen wurde, war der Naturschutz lange mit dem Heimat-schutz verbunden. Die erste NaturHeimat-schutzorganisation der Schweiz, der Schweizerische Bund für Naturschutz (seit 1997 Pro Natura), wurde 1909 gegründet. In der Zeit der Weltkriege und der Zwischenkriegszeit traten die Anliegen des Naturschutzes wieder in den Hintergrund. Einen

98 Vgl. ASF (Hg.) 1977: 22.

99 Vgl. Schnitter 1992: 125.

100 Vgl. ASF (Hg.) 1977: 22.

101 Summermatter 2012: 284.

102 Zur Entstehung des frühen Umweltbewusstseins und des Naturschutzes in der Schweiz siehe Walter 1996: 71–104; Bachmann 1999.

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sen Aufschwung erlebten sie ab den 1950er-Jahren aufgrund der wach-senden Umweltprobleme in Folge der Anbauschlacht während der Kri-sen- und Kriegsjahre und der darauffolgenden Boomphase. Der bislang vorwiegend von ästhetischen Argumenten geprägte Naturschutz wurde nun zunehmend von einem ökologisch ausgerichteten, ganzheitlicheren Naturschutzkonzept abgelöst. Schon ab den 1950er-Jahren rückten dabei besonders die Gewässer in den Vordergrund.103

Im Laufe der Jahrzehnte setzte sich der Umweltschutzgedanke weiter durch, und vor diesem Hintergrund wurden zunehmend auch die Ziele und Grundsätze des herkömmlichen Hochwasserschutzes in Frage gestellt. Ab den 1970er-Jahren forderte die Naturschutzbewegung immer nachdrück-licher den Erhalt oder die Wiederherstellung von naturnahen Gewässern.104 Dies hing auch mit dem Hervortreten der unintendierten Folgen des bis-herigen Hochwasserschutzes zusammen: Die Kanalisierung und Begradi-gung der Fliessgewässer hatte zu immer schnelleren Abflüssen geführt und das Hochwasserrisiko in den Unterläufen vergrössert, da dabei auch die Re-tentionsräume verloren gegangen waren. In Kombination mit der intensi-veren Nutzung der gefährdeten Gebiete, welche aus einem falschen Sicher-heitsgefühl entstand, löste dies einen enormen Anstieg der Schadenssummen aus. Besonders bei Extremereignissen stand zu wenig Raum zur Verfügung.

Auch die ökologischen Folgen, wie der Verlust der Kleinstgewässer und Au-engebiete, gelangten immer stärker in das Bewusstsein.105

Ab den 1960er-Jahren veröffentlichte der Bund mehrere Wegleitun-gen zum Umgang mit Hochwasserschutzprojekten, in welchen er die neuen Grundsätze miteinbezog. Von grosser Bedeutung war besonders die 1982 herausgegebene Wegleitung Hochwasserschutz an Fliessgewässern.106 Darin wurden die aktuellen Grundlagen, Gesetze und Verordnungen aus den betroffenen Bereichen Wasserbau, Forstwesen, Natur- und Heimat-schutz, GewässerHeimat-schutz, Fischerei und Raumplanung festgehalten – die Wegleitung sollte unter anderem die Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen erleichtern und fördern. Diese Richtlinien beinhalteten nicht mehr nur aktive, sondern nun auch passive Massnahmen wie die Gefahren- und

103 Zur schrittweisen Durchsetzung der Umweltschutzideen auf Bundesebene siehe Summermatter 2012: 284–286.

104 Vgl. Zaugg Stern 2006: 164–165.

105 Vgl. dazu und zu weiteren unintendierten Folgen des technischen Hochwasserschutzes Zaugg Stern 2006: 84–86.

106 Vgl. BWW (Hg.) 1982.

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Schutzzonen oder Bauverbote.107 Mit der neuen Praxis sollte der Teufels-kreis von steigendem Sicherheitsanspruch und wachsendem Schadens-potenzial durchbrochen und der neue Blick auf die Umwelt mit einbezogen werden.108 Die Wegleitungen zeigen zudem, dass in den 1960er-Jahren ein erneuter Philosophiewandel im Hochwasserschutz eingesetzt hatte.109 Die primär auf den Überschwemmungsschutz ausgerichtete technologie-orientierte Hochwasserprävention sollte nun einem ausgewogeneren Ver-hältnis zwischen dem Schutz vor Überschwemmungen und dem Schutz der Gewässer und ihrer angrenzenden Gebiete, mit den darin lebenden Pflanzen und Tieren, weichen. Ernsthafte Schäden sollten weiterhin ab-gewehrt, dabei aber Restrisiken kalkuliert und akzeptiert werden. Die Gewässer sollten natürlich erhalten bleiben oder möglichst naturnah ge-staltet werden.110

Beschleunigt wurde die Durchsetzung der neuen Grundsätze – wie schon in den 1860er- und 1870er-Jahren – durch schwere Überschwem-mungen. Im Sommer 1987 führten gleich mehrere grosse Katastrophen-ereignisse zu riesigen Schäden und stellten die Gültigkeit der alten Hoch-wasserschutzphilosophie endgültig in Frage.111 Verantwortlich für die weitreichenden Folgen der Überschwemmungen von 1987 war die ge-ringe Zahl der verheerenden Naturereignisse in den vorangegangenen Jahrzehnten: Zwischen 1882 und 1976 war die Schweiz weitgehend vor Naturkatastrophen verschont geblieben, was dazu beigetragen hatte, dass das Katastrophenrisiko im Verlauf des 20. Jahrhunderts fast vollständig vergessen ging. Christian Pfister spricht deshalb von einer Katastrophen-lücke. Diese habe zur Folge gehabt, dass die Behörden auf nichtmilitärische Katastrophen nur ungenügend vorbereitet gewesen seien, was sich im

107 BWW (Hg.) 1982: 17. Diese Massnahmen gehören zu den nicht-technischen Hoch-wasserschutzmassnahmen. Vgl. dazu auch Plate 1997: 453–455.

108 Summermatter 2012: 326.

109 Der Philosophiewandel im Umgang mit Hochwasser und dem Hochwasserschutz war keine rein schweizerische Entwicklung, sondern zeigte sich auch in vielen weiteren Ländern. Vgl. z. B. Kruse 2010; Lange, Garrelts 2007; Bebermeier 2011: 69; Bernhardt 2016: 494–495; oder Petrow et al. 2006 für Deutschland, van der Werff 2004 für Hol-land; Adams, Perrow, Carpenter 2004 sowie Johnson, Tunstall und Penning-Rowsell 2005 für England und Wales; oder Lübken 2014: 295–300 für die USA.

110 Vgl. dazu Zaugg Stern 2006: 77–104. Zu den möglichen Massnahmen zur naturnahen Gestaltung von Gewässern vgl. Patt, Jürging, Kraus 2011: 265–321.

111 Götz 2002: 204. Vgl. zu den Überschwemmungen im Jahr 1987 BWW, BUWAL, Lan-deshydrologie und -geologie (Hg.) 1991. Siehe auch Petrascheck 1989: 1–3, 8.

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Sommer 1987 deutlich gezeigt habe.112 Die Schäden und die in der Folge der Ereignisse intensiv geführte Ursachendiskussion rückten das Thema dann aber ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit.113 Die Behörden nutzten dies zur gesetzlichen Verankerung der neuen Grundsätze, wobei auf Bundesebene noch finanzpolitische Überlegungen dazukamen (vgl.

dazu Kapitel 4.2.2).

Weitere Überschwemmungen in den 1990er- und 2000er-Jahren verstärkten die Haltung, dass die Fliessgewässer mehr Raum brauchten:

Da nun jedem Gewässer für sein Funktionieren ein über die sichtbare Wasserfläche hinausgehender Raumbedarf zugestanden wurde, sollte den Flüssen und Bächen nun «ein Korridor zur Verfügung stehen, der genügend Raum für ihre Funktionen gewährleistet».114 In der 2001 herausgegebenen Wegleitung für den Hochwasserschutz an Fliessgewässern spitzte das Bun-desamt für Wasser und Geologie (BWG) die in den Jahrzehnten zuvor entwickelten Ideen weiter zu und mass der Nachhaltigkeit eine zentrale Bedeutung bei. Es räumte den präventiven Massnahmen noch verstärkter die erste Priorität ein und legte klar fest, dass ein Restrisiko bleiben darf, statt dass alles geschützt werden soll.115

Die nach dem neuen Hochwasserschutzkonzept erstellten Massnahmen waren sehr vielfältig, auch weil das Konzept vorsah, dass die Schutzmass-nahmen angepasst an die lokalen Gegebenheiten durchgeführt werden mussten.116 Generelle Vorgaben, wie beispielsweise die bis zum

Philoso-112 Vgl. Pfister 2009a: 244–245. Die Naturkatastrophen in der Schweiz seit 1800 sind zu-sammengestellt und ausführlich erläutert in Summermatter 2012: 61–68. Die Katastro-phenlücke gilt für die nationale Ebene, was nicht heisst, dass nicht einzelne Teile der Schweiz – einzelne Gemeinden oder gar Kantone – in dieser Zeit keine Naturkata-strophen erlebten.

113 Mit der Ursachendiskussion nach dem katastrophalen Hochwasserereignis von 1987 setzte sich zunehmend die Ansicht durch, dass zu häufig in Hochwasser-Gefahren-gebiete gebaut worden war sowie durch die Kanalisierung der Fliessgewässer deren Abflüsse beschleunigt und die Abflussspitzen erhöht wurden. BUWAL (Hg.) 2000: 1.

114 BUWAL (Hg.) 2000: 1.

115 BWG (Hg.) 2001: 49.

116 Einblick in die Umsetzung von aktuellen Hochwasserschutzprojekten liefern Thomi, Zischg, Suter 2015. Folgende Publikationen zu konkreten Renaturierungsprojekten zeigen Beispiele der Umsetzung der neuen Grundsätze: Zur Emme vgl. TBA OIK IV (Hg.) 2005 oder Lehmann 2001; zur Thur Baumann et al. 2005; zu den Fliessgewässern im Kanton Zürich Göldi 2005; oder zu den Renaturierungsprojekten am Alpenrhein Schlegel 2005.

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phiewandel übliche Ausrichtung der Schutzbauten auf ein Jahrhundert-hochwasser hin, verloren ihre Gültigkeit.117 Die einzelnen Gewässer-abschnitte wurden auch durch die Formulierung verschiedener Schutzziele differenziert behandelt. Da die Schäden nun nicht mehr allein durch Schutzbauten, sondern auch durch eine angepasste Raumnutzung verhin-dert werden sollten, kam der Gefahrenzonen- und Raumplanung nun-mehr eine wichtige Bedeutung zu.118

In der Praxis waren die Renaturierungen aufgrund der zahlreichen Nutzungen in den Gewässerräumen häufig nur in eingeschränkten Be-reichen möglich.119 Besonders schwierig gestaltete sich die Umsetzung des Raumbedarfs. Immer wieder kam es zu Interessenskonflikten zwischen verschiedenen Ansprüchen (Landwirtschaft, Freizeit- und Erholungs-bedürfnisse, Natur- und Gewässerschutz). Besonders für die Landwirte war der Verlust von Anbauflächen unattraktiv, da dies für sie auch den Verlust von Direktzahlungen bedeutete.120

Nicht nur in den Talebenen, auch an den Wildbächen versuchten die Wasserbauexperten den neuen Grundsätzen Rechnung zu tragen. Nach Niklaus Schnitter verwendeten sie beispielsweise wieder vermehrt natür-liche Baumaterialien wie Weidenruten, Baumstämme und Felsblöcke an-stelle von Beton.121 Die Anwendung dieser naturnäheren Massnahmen war in den steilen Schluchten jedoch nur punktuell möglich. Die grossen Betonsperren blieben nach wie vor dominant, da die Zurückhaltung des Geschiebes für den Schutz der Unterläufe weiterhin als zentrale Schutz-massnahme angesehen wurde. Bessere Möglichkeiten zur Umsetzung der neueren Konzepte bestanden auf den Schwemmfächern. Doch wie in den Talebenen erwies sich die Umsetzung der neuen Schutz- und Nutzungs-konzepte auch in diesen intensiv genutzten Gebieten häufig als konflikt-trächtig (vgl. dazu Kap. 5.5).122

117 Zur Umsetzung der neuen Konzepte in der Praxis, vor allem hinsichtlich der kantons-spezifischen Rahmenbedingungen, siehe Zaugg Stern, Ejderyan, Geiser 2004.

118 Götz 2002: 204. Zur Bedeutung der Raumplanung für den Hochwasserschutz vgl. Egli 1996.

119 Götz 2002: 207.

120 Vgl. Zaugg Stern 2006: 98–99.

121 Schnitter 1992: 128. Zu den Baumaterialien im naturnahen Wasserbau vgl. auch Patt, Jürging, Kraus 2011: 329–350.

122 Schnitter 1992: 128.

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Der jüngste Philosophiewandel im schweizerischen Hochwasser-schutz vollzog sich nicht auf allen Ebenen mit derselben Geschwindigkeit.

Besonders auf Gemeindeebene, wo die Massnahmen konkret durchge-führt wurden und daher die Spannungen zwischen unterschiedlichen In-teressen am unmittelbarsten auftraten, setzten sich die neuen Ansätze oft-mals nur zögerlich durch.123

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