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Frühe kleinräumige Massnahmen

Im Dokument Der Hochwasserschutz an der Gürbe (Seite 117-121)

4. DER HOCHWASSERSCHUTZ IN DER SCHWEIZ Die Vorgänge im Hochwasserschutz an der Gürbe waren untrennbar mit

4.1 Historischer Überblick

4.1.1 Frühe kleinräumige Massnahmen

Die ursprünglichen Flusslandschaften der Schweiz waren geprägt von vielarmigen und mäandrierenden Flüssen und Bächen mit Inseln, Altar-men, Sand- und Kiesbänken, von Auenwäldern, Schilffeldern und

Sumpf-1 Da der Kanton Bern ausgesprochen gewässerreich ist und hinsichtlich der Hochwasser-gefährdung über eine prekäre geografische Lage verfügt, hatte der Hochwasserschutz hier eine besondere Bedeutung. Mit einem Kantonsgebiet, das sich vom Jura bis zum Alpenraum erstreckt, war der Kanton in der Vergangenheit sowohl von den grossen al-pinen wie auch von den Mittelland-Überschwemmungen betroffen. Durch die grossen Projekte wie die Kanderumleitung und die Juragewässerkorrektion, aber auch aufgrund der vorbildhaften Wasserbaugesetze kann Bern als Pionierkanton im Schweizer Wasser-bau bezeichnet werden. Vgl. Summermatter 2012: 75; Uttendoppler 2012: 38.

2 Zu den Hochwasserschutzmassnahmen an Seen vgl. Vischer 2003: 173–190.

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gebieten. Da die Überschwemmungen die Gewässer und ihr Umland im-mer wieder umgestalteten, war die Landschaft einem steten Wandel unterzogen.3 Das Verhalten der Flüsse beeinflusste die ansässige Bevölke-rung stark, brachte dieser das Siedeln in Wassernähe doch sowohl Leben als auch Verderben. Einerseits dienten die Gewässer als Nahrungsgrundlage, der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, dem Transport und der Energiegewinnung. Andererseits beschädigten Überschwemmungen die Siedlungsgebiete und Infrastrukturen, schwemmten anbaufähigen Boden weg, überdeckten ihn mit Wasser und Geschiebe und bedrohten so die Lebensgrundlagen und die Menschen an Leib und Leben. Nicht nur die eigentlichen Fluten waren problematisch, sondern auch die Folgeschäden wie die Versumpfungen.4 Wo sich die Nutzung der gewässernahen Gebiete als Siedlungs- und Kulturland gesamthaft lohnte oder aber keine anderen Möglichkeiten bestanden, arrangierten sich die Menschen bestmöglich mit der Hochwassergefahr und versuchen ihre für schützenswert erachteten Gü-ter vor den negativen Auswirkungen des Wassers zu bewahren.5

Im Zuge des Bevölkerungswachstums ab dem 18. Jahrhundert wurde der Raum stetig knapper, und immer mehr Menschen wurden zum Sie-deln in Gewässernähe gezwungen. Vor allem die Unterschichten und die Neuzuzüger wurden in die überschwemmungsgefährdeten Gebiete ab-gedrängt.6 Um die flussnahen Flächen nutzen zu können, musste auch die Bändigung des Wassers an die Hand genommen werden. Für den Hoch-wasserschutz verantwortlich waren in der Regel die Anliegergemeinden und die Nutzungsberechtigten. Damit waren die verwundbarsten Mit-glieder der Gesellschaft nicht nur am stärksten den Hochwasserrisiken ausgesetzt, sondern sie trugen gleichzeitig auch die grössten Lasten.7

Die frühen Hochwasserschutzmassnahmen waren punktuell und kleinräumig. Ausgeführt wurden vor allem Objektschutz- und

Ufer-3 Vgl. Pfister 1995: 327. Zur natürlichen Dynamik von Flüssen und deren Bedeutung für den Menschen siehe auch Jäger 1994: 34–37. Die Dynamik eines Flusses im Wechsel-spiel von Natur und Mensch erarbeitete Renate Gerlach beiWechsel-spielhaft für den Main. Vgl.

Gerlach 1990.

4 Nach Rohr 2007: 349 war die fortschreitende Versumpfung grosser landwirtschaftlich genutzter Gebiete für die ökonomische Basis oftmals verheerender als die eigentlichen Überschwemmungen.

5 Vgl. dazu Rohr 2007: 353, 375.

6 Vgl. Pfister 1995: 327.

7 Summermatter 2012: 83.

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befestigungsmassnahmen.8 Die Flussanlieger schützten ihr Land durch Längs- und Querwerke, konkret durch hölzerne Schwellen, Dämme und vor allem durch Wuhren. Die aus Steinen und Flechtwerk gebauten Wuh-ren lassen sich in Schupf- oder StreichwuhWuh-ren unterteilen. Erstere ragten schräg in das Gewässer hinein und leiteten so den Lauf auf die gegenüber-liegende Seite, wodurch die Ufererosion lokal verhindert wurde. Streich-wuhren (auch LängsStreich-wuhren genannt) hingegen sollten die Flüsse gerade halten. Überflutungen wurden soweit als möglich durch die Erhöhung der Ufer mittels Dämmen und Mauern verhindert.9 Die Präventionsmass-nahmen beschränkten sich vorwiegend auf die eigenen Grundstücke, wo-bei auf die weiteren Anlieger wenig Rücksicht genommen wurde. Ge-schützt wurde dort, wo sich die Gefahr zeigte. Damit wiesen die Massnahmen einen reaktiven Charakter auf und waren grösstenteils in-effizient.10

Nicht nur in den Flusstälern und entlang der Seeufer, auch an den Wildbächen wurden schon früh Präventionsbauten errichtet.11 Hier kon-zentrierten sich die Anstrengungen vorrangig auf die Sicherung der Un-terläufe und der Schwemmkegel.12 Obwohl Überschwemmungen, Über-sarungen und Murgänge aus den steilen Schluchten diese unteren Abschnitte der Wildbäche gefährdeten, waren sie ein beliebter Siedlungs- und Nutzraum, da hier im Vergleich zu den umliegenden Gebieten bes-sere Bedingungen herrschten: Die Böden waren weniger versumpft als in den flacheren Partien und boten somit einen besseren Baugrund. Auch eigneten sie sich gut als Landwirtschaftsland, da die fruchtbaren Fein-ablagerungen zu günstigen Anbaubedingungen führten. Die Massnah-men zum Schutz der Wildbach-Schuttkegel glichen denjenigen entlang der Talflüsse: Das Wasser sollte durch Eindämmungen, Fixierungen der Gewässerläufe, Kanalisierungen, Ablenkmauern und gepflästerte Schalen

8 Vischer 2005: 23. Dasselbe Bild zeigt sich auch in anderen westeuropäischen Regio-nen. Vgl. z. B. Schmidt 2000: 61–65.

9 Vgl. Vischer 2003: 40; Summermatter 2012: 85.

10 Vgl. Götz 2002: 201; Vischer 1986: 9.

11 Bereits aus dem Mittelalter sind Quellenbelege zu frühen Wildbachverbauungen vor-handen. Vischer nennt als Beispiele die Umleitung der Lütschine im 12. oder 13. Jahr-hundert, die Uferverbauungen auf dem Schuttfächer der Dranse in Martigny um 1310, die Verbauungen an der Saltina in Brig um 1330 oder die Umleitung der Engelberger Aa von 1471. Vgl. Vischer 2003: 144.

12 Vgl. Romang 2004: 5.

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gelenkt und gezähmt werden.13 Auch diese Massnahmen waren aber nur begrenzt wirksam. Die Querschnitte der künstlichen Gewässerrinnen wa-ren oft zu klein, um die dauernde Geschiebezufuhr abzufühwa-ren, wodurch sich die Bäche nach kurzer Zeit wieder einen eigenen Weg wählten.14 Um dem Geschiebeproblem Herr zu werden, wurden schon früh auch erste Formen von Geschiebeauffangbecken gebaut. Insgesamt waren diese ers-ten Schutzmassnahmen an Wildbächen auf Dauer aber nicht nur wir-kungslos, sondern bildeten sogar einen Gefahrenherd, da es zu Damm-brüchen kommen konnte, wenn die Geschiebeablagerungen in den kanalisierten Bächen über die Schwemmkegel hinaus wuchsen.15

Obwohl die frühen Hochwasserschutzmassnahmen sowohl an den Tal-flüssen wie an den Wildbächen hauptsächlich lokalen Charakter hatten, sind aus der Zeit vor 1800 auch grössere Eingriffe in Flusssysteme be-kannt. Bereits im 15. Jahrhundert wurde beispielsweise die Engelberger Aa umgeleitet.16 Besonders hervorstechend ist die Ableitung der Kander in den Thunersee. Die Kander floss ursprünglich am Thunersee vorbei und mündete rund zweieinhalb Kilometer nördlich von Thun in die Aare. In diesem flachen Gebiet trat der Fluss regelmässig über die Ufer und richtete in den Gemeinden Allmendingen, Thierachern und Ueten-dorf grosse Schäden an. Durch das Geschiebe der Kander und der gegen-über einmündenden Zulg staute sich die Aare teilweise so stark zurück, dass auch die Stadt Thun betroffen war. Um dies zu verhindern, wurde die Kander von 1711–1714 gemäss einem Plan von Samuel Bodmer in den Thunersee geleitet.17 Das Grossprojekt stellte nach Christian Pfister «eu-ropaweit einen der ersten Versuche dar, den Uferschutz über die lokale Dimension hinaus durch grossräumige Eingriffe ins Flusssystem zu erweitern».18 Der Kanderdurchstich hatte unerwartete Folgen. Durch das zusätzliche Wasser stieg der Thunersee schneller an. Da sein Abfluss aber nicht vergrössert worden war, überschwemmte der See nun häufiger die

13 Vischer 2003: 143.

14 Götz 2002: 200.

15 Schnitter 1992: 123.

16 Zu den frühen Eingriffen an Schweizer Gewässern vgl. Vischer 2003: 51–60.

17 Zur Kanderkorrektion siehe Vischer 2003: 61–70; Vischer 1989: 22–25; Hügli 2007:

45–51; Bütschi 2008: 74–76.

18 Pfister 1995: 327. Ausser der Ableitung der Brenta bei Venedig im 15. Jahrhundert hatte diese Korrektion in Europa keine weiteren Vorbilder. Pfister 1995: 328.

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Uferbereiche und Teile der Stadt. Auch die Aare wurde in der Folge im Gebiet zwischen Thunersee und Mündung der Zulg sowie zwischen Münsingen und Belp nun öfter zum reissenden Fluss und trat über die Ufer.19 Unterhalb der ehemaligen Kandermündung vertiefte die Aare durch das nun fehlende Geschiebe der Kander die Flusssohle massiv, wo-durch die Schutzbauten unterspült wurden.20 Auch flussaufwärts der Kan-der hatte die Umleitung negative Konsequenzen. Hier führte das durch den verkürzten Lauf vergrösserte Gefälle zu einer bedeutenden Erosion des Flussbetts. Trotz des zweifelhaften Erfolgs kommt der Kanderkorrek-tion eine zentrale Bedeutung in der Hochwasserschutzgeschichte zu: Sie ist der erster grossräumige Eingriff und Vorläuferin für die rund hundert Jahre später einsetzende Ära der grossen Flusskorrektionen in der Schweiz.

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