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4 Design und Methoden

4.2 Erhebungs- und Analyseverfahren

4.2.3 Expert_inneninterviews

In der Beschreibung des Forschungsdesigns wurde deutlich, dass die Ex-pert_inneninterviews zu zwei Zwecken durchgeführt wurden: zum einen, um ein besseres Verständnis des jeweiligen Falles zu bekommen und das notwendige Kontextwissen für die Interpretation der Akteursdokumente zu erhöhen, und zum anderen, um spezifisch nach den Einflüssen europäischer Prozesse auf die nationalen Durchlässigkeitsstrukturen zu fragen.

Um diese Aufgaben zu erfüllen, können die geführten Ex-pert_inneninterviews als explorative, aber auch als systematisierende Interviews beschrieben werden. Nach Bogner und Menz (2009: 64) helfen explorative Inter-views Orientierung in einem neuen Forschungsfeld zu bekommen und das zu untersuchende Phänomen einzugrenzen bzw. zu strukturieren. Systematisierende Interviews zielen dagegen zuerst auf eine systematische und möglichste lücken-lose Informationsgewinnung. Die Hauptfunktion des Interviews ist die Aufklä-rung im Hinblick auf eine spezifische Fragestellung. Mithilfe des Interviews soll so die Rekonstruktion von Prozessen oder sozialen Situationen ermöglicht wer-den (Bogner/Menz 2009).

65 Da die Inhaltsanalyse in dieser Arbeit auf eine bereits durchgeführte Analyse im Rahmen des INVEST-Projekts aufbaute (vgl. Powell et al. 2012a), konnten zudem auch bereits getestete Kodierregeln und Kategorien verwendet werden. Im Rahmen des Projekts wurden diese Regeln von bis zu vier Personen erarbeitet und geprüft. Durch diese Familiarität bereits intersubjektiv geprüfter Kategorien kann auch für diese Arbeit ein höheres Maß an Reliabilität angenommen

Was aber ist ein Experte bzw. eine Expertin? Gläser und Laudel (2006: 10) definieren sie und diese Interviewform folgendermaßen: „Experten sind Men-schen, die ein besonderes Wissen über soziale Sachverhalte besitzen, und Exper-teninterviews sind eine Methode, dieses Wissen zu erschließen.“ Der Ex-pert_innenstatus ist somit immer auch von der Forschungsfrage abhängig. Meu-ser und Nagel (2009: 37) betonen daher, dass der Expert_innenstatus von den Forschenden vergeben wird, da angenommen wird, dass die Person über ein ex-klusives Wissen über z.B. die Organisation, Entscheidungsprozesse, Entwicklun-gen in einem bestimmten Feld verfügt, das für Außenstehende nicht zugänglich ist. Aber auch wenn die Zuschreibung eines Expert_innenstatus diesen erst kon-struiert, so weisen Bogner und Menz (2009: 69) darauf hin, „dass der Forscher in seiner Auswahl des Expert_innen immer schon praktisch davon geleitet ist, in welcher Form er die soziale Welt bedeutungsstrukturiert vorfindet.“ In dem Sinn hat nicht nur das Forschungsthema, sondern auch die soziale Repräsentativität der Interviewten einen Einfluss (Bogner/Menz 2009; Bogner et al. 2014: 11).

Sampling

Als Expert_innen für diese Arbeit galten Personen, die durch ihre Arbeit in stimmten Organisationen einen spezifischen Blick auf und Wissen über die be-rufliche und hochschulische Bildung sowie ihr Verhältnis zueinander, die institu-tionellen Entwicklungen und die Einflüsse europäischer Bildungsprozesse hatten.

Die konkrete Expert_innenauswahl gestaltete sich in Deutschland und Frankreich dabei unterschiedlich. In Frankreich dienten die Interviews vor allem in dem ers-ten Forschungsaufenthalt 2010 viel stärker der Exploration des Forschungsthe-mas, so dass zwar auch Repräsentant_innen für die Bildungsbereiche relevanter Organisationen systematisch über Organigramme angeschrieben wurden. Als re-levante Organisationen wurden dieselben erachtet, die auch im Rahmen der Dis-kursanalyse untersucht wurden: Ministerien, Hochschulvertretung, Unternehmen und Gewerkschaften. Neben dieser Taktik wurden aber noch einige weitere Ex-pert_innen über das Verfahren des Schneeballprinzips gewonnen. Außerdem wurden auch Interviews mit im Bildungsbereich Forschenden geführt.66 Insofern wurde die Samplingstrategie des Schneeballprinzips mit dem des theoretischen Samplings verbunden. Es wurden 13 Interviews geführt, wobei drei der Inter-views mit zwei Interviewpartnern durchgeführt wurden. Im zweiten Forschungs-aufenthalt im Mai 2011, als die Forschungsfrage bereits auf Durchlässigkeit be-grenzt und auch das für Frankreich bestehende Problem herausgearbeitet war, wurden viel gezielter zusätzliche Expert_innen im Hinblick auf diese Frage und die Europäisierungsprozesse ausgesucht. Zehn Interviews fanden statt, auch hier gab es zwei Interviews mit zwei Expert_innen zusammen. Interviewt wurden vor

66 Eine komplette Liste der interviewten Organisationen in Frankreich und Deutschland findet sich im Anhang (vgl. Tabellen 45-47).

allem Vertreter_innen aus Ministerien, Hochschulen und dem staatlichen For-schungsinstitut CEREQ.67 Im CEREQ wurde mit Forscher_innen gesprochen, die sich mit der Entwicklung des bac pro, der licence pro und der Verberuflichung der Hochschulbildung, den Europäisierungsprozessen und der Frage des Studien-erfolgs beschäftigten.

In Deutschland wurden keine explorativen Interviews durchgeführt, da das Bildungssystem und die bestehende Durchlässigkeitsproblematik der Autorin viel besser bekannt waren. Zudem gab es die Möglichkeit, sich bei Fachtagungen ge-nauer über das Forschungsphänomen zu informieren. Ausgesucht wurden daher die Expert_innen aufgrund ihres Wissens über die Entwicklung der Durchlässig-keitsstrukturen in Deutschland sowie der europäischen Bildungsprozesse. Mitar-beiter_innen folgender Organisationen wurden interviewt: das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie die Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Insgesamt wurden sie-ben Interviews mit acht Expert_innen geführt. Es fällt auf, dass nur zwei der vier Organisationen untersucht worden sind, die auch als Akteure für die Diskursana-lyse selektiert wurden. Zum einen wurde in den Diskursen aller untersuchten Ak-teure ein Einfluss der europäischen Prozesse ersichtlich. Die Interviews sollten quasi die Erkenntnisse der Diskursanalyse absichern. Dies ist am besten möglich mit Organisationen, die direkt auch an der Gestaltung der europäischen Prozesse und der nationalen Umsetzung beteiligt sind. Das gilt für die ausgesuchten Orga-nisationen im besonderen Maße. Auch ging es bei den Interviews weniger darum, die Diskurse zu rekonstruieren und die unterschiedlichen Positionen der Befrag-ten in den Vordergrund zu stellen. Dies wurde in der Diskursanalyse vorgenom-men. Vielmehr ging es darum, Einschätzungen zu den Entwicklungen des Bil-dungssystems und dem europäischen Einfluss zu erhalten. Das BIBB wurde als Organisation ausgewählt, da es in dieser Organisation viele Expert_innen gibt, die entweder direkt bei der Ausarbeitung der europäischen Prozesse, der Umsetzung der nationalen Prozesse beteiligt waren und zudem bereits langjährig mit dem Thema Durchlässigkeit zwischen Hochschul- und Berufsbildung, sei es über Du-ale Studiengänge oder Anrechnungsfragen, arbeiten und forschen. Insofern war insbesondere im BIBB eine Expertise über den Einfluss von Europäisierung auf Durchlässigkeit zu erwarten.

67 Das „Centre d’études et de recherches sur les qualifications“ (CEREQ) ist ein staatliches Forschungszentrum mit den Schwerpunkten Arbeitsmarkt, Qualifikationen und berufliche Bildung. Zu den Aufgaben des Instituts gehört es, die Arbeitsmarktentwicklung und die Verbindung der Qualifikationsentwicklung im Bildungssystem mit dieser zu beforschen, um so Maßnahmen und Vorschläge für eine bessere Kohärenz zwischen Qualifikationsentwicklung

Interview und Leitfaden

Die Interviews wurden in Form teilstandardisierter Leitfadeninterviews68 durch-geführt. Ein Leitfadeninterview ist dadurch charakterisiert, dass dem Interviewen-den eine Liste vorbereiteter, meist offener Fragen als Grundlage für das Gespräch dient, wobei die Reihenfolge der Fragen sich aus Gesprächsverlauf und Wichtig-keit ergeben. Der Leitfaden dient daher als Gesprächsorientierung und soll sicher-stellen, dass wesentliche Punkte nicht vergessen werden. Die Konstruktion des Leitfadens ist theoriegeleitet aus der Forschungsfrage, den Vorüberlegungen und in Abhängigkeit von konkreten Expert_innen (Gläser/Laudel 2006). Der Leitfa-den für diese Studie bestand aus vier Themenblöcken. Das galt auch für die Phase der Exploration in Frankreich. Nachfolgend sollen diese Themenblöcke kurz be-schrieben werden.

In dem ersten Block ging es zum einen um das Verständnis von Durchlässig-keit und die wichtigsten Entwicklungen im deutschen und französischen Bil-dungssystem in Bezug auf Durchlässigkeit für die letzten 20 bis 25 Jahre. Wie haben sich die Diskussionen um Durchlässigkeit geändert, und was muss von Sei-ten der Berufs- und Hochschulbildung für eine verbesserte Durchlässigkeit getan werden? Im französischen Leitfaden wurde dabei auch das Wort Durchlässigkeit, welches in Frankreich nicht gängig ist, definiert, so dass die Expert_innen wuss-ten, was gemeint ist, wenn ich nach Durchlässigkeit fragte. Dabei wurde zuerst allgemein über die Möglichkeiten der Bildungsmobilität zwischen Berufs- und Hochschulbildung gesprochen. Auch wenn in den Frage eine erste grobe Defini-tion im Sinne von Strukturen zur Ermöglichung von Bildungsmobilität vorgege-ben wurde, konnte trotzdem das Verständnis von Durchlässigkeit untersucht wer-den, je nachdem, welche Aspekte von den Expert_innen als wichtig erachtet wur-den.

Im Leitfaden für die explorativen Interviews für den französischen Fall wurde das Thema noch wesentlich allgemeiner gehalten. Es wurde im ersten Ab-schnitt nach den wichtigsten Entwicklungen im französischen Hochschul- und Berufsbildungssystem gefragt sowie nach Reformen, die möglicherweise das Ver-hältnis zwischen Hochschul- und Berufsbildung verändern.

Der zweite Interviewabschnitt zielte auf eine Vertiefung der Durchlässig-keitsfragen und umfasste je nach Expertise unterschiedliche Schwerpunkte. So wurden z.B. die Entwicklung dualer Studiengänge, die Validierung von informel-lem und non-formainformel-lem Lernen, Pilotprogramme und Fragen der Anrechnung thematisiert. Im französischen Teil fand diese Spezialisierung ebenfalls statt. Au-ßerdem wurde explizit, wenn es nicht schon vorher thematisiert wurde, das Pr-oblem der beruflich qualifizierten Studierenden angesprochen, es wurden Ein-schätzungen zu bestehenden Reformen erfragt und relevante Themen wie die 68 Beispiele für die entwickelten Leitfäden für die Befragungen in Deutschland 2011 und Frankreich 2010 und 2011 finden sich im Online-Anhang II, wobei diese Versionen jeweils auf die interviewten Expert_innen weiter abgestimmt wurden.

Orientierung in Richtung Hochschule sowie die Selektion im Hochschulsystem angesprochen.

Im Leitfaden für das explorative Interview ging es im zweiten Teil viel stärker darum, ein Gefühl für das französische Verständnis ihres Bildungssystems zu be-kommen. So wurde gefragt, was die unterschiedlichen Bildungszweige unterschei-det. Was sind die Ideale der französischen Berufs- und Hochschulbildung bzw.

was sind die bestehenden Leitlinien? Wie sind die verschiedenen Bildungswege hierarchisiert? Welche Organisationsformen haben in den Jahren an Bedeutung gewonnen, und inwiefern gibt es Verbindungen und Übergangsmöglichkeiten zwischen gewählten Bildungswegen?

Der dritte Interviewabschnitt zielte darauf, den Einfluss der Europäisierungs-prozesse zu erkunden. Hier wurde zuerst allgemein nach dem Einfluss der euro-päischen Ebene, dann spezieller zu den Bologna- und Kopenhagen-Prozessen und deren Wirkung auf die nationalen Bildungssysteme gefragt. Weiterhin wurden spezifische Standards wie der Qualifikationsrahmen thematisiert. Auch wenn die Interviews vor allem in Bezug auf die Einschätzung der europäischen Prozesse ausgewertet wurden, war es sinnvoll, diesen Interviewabschnitt erst später zu the-matisieren. Auf diese Weise wurde auch aus den Beschreibungen der wichtigsten Entwicklungen in den Bildungssystem und der dortigen Thematisierung europäi-scher Prozesse der Einfluss derselben sichtbar, ohne dass konkret danach gefragt wurde.

Der letzte Interviewabschnitt zielte auf die gewünschten und erwarteten Än-derungen im Bildungssystem in Bezug auf Durchlässigkeit, d.h., es wurde die nor-mativ erwünschte und die vom Expert_innenwissen ausgehende wahrscheinliche Entwicklung erfragt.

Auswertung

Bei der Auswertung orientierte ich mich an den Bearbeitungsphasen von Meuser und Nagel (2009) und integrierte das inhaltsanalytische Vorgehen nach Gläser und Laudel (2006: 56f.). Zuerst erfolgte die Transkription fast aller Interviews.

Ausnahmen bildeten zwei wenig ergiebige französische Interviews sowie solche, bei denen keine Aufzeichnung möglich war. Hier erfolgte die Auswertung anhand der Interviewnotizen. Im Folgenden wird die Auswertung im Hinblick auf den Einfluss der Europäisierungsprozesse dargestellt.69

69 Die Informationen aus den Interviews, die für ein besseres Verständnis, also zur Exploration genutzt wurden, wurden nicht nach einem bestimmten Auswertungsschema erworben, sondern einfach durch ein wiederholtes Querlesen der Interviewtexte mit anschließenden Notizen zu interessanten Punkten und Hinweise darauf, was im Forschungsverlauf genauer betrachtet werden sollte. Diese Hinweise verdichteten sich, wenn in mehreren Interviews das gleiche Thema angesprochen wurde. Insofern erfolgte auch hier die Analyse nicht sequenziell und

Im zweiten Schritt erfolgte die Kodierung des Materials. Der Arbeitsschritt, der bei Meuser und Nagel (2009) Kodierung genannt wird, umfasst die Schritte der Vorbereitung der Extraktion und die Extraktion nach Gläser und Laudel (2006). Auch wenn die einzelnen Interviews nacheinander durchgearbeitet wor-den sind, ging es nicht um eine Einzelfallrekonstruktion oder genaue sequenzielle Bearbeitung eines Interviews (vgl. Mäuser/Nagel 2009). Vielmehr ging es um die thematisch relevanten Abschnitte, die an verschiedensten Stellen im Interview auftauchen konnten. Kodiert wurden dann die Abschnitte, die sich auf den Ein-fluss Europas auf die Entwicklungen im Bildungssystem allgemein und spezifisch auf die Durchlässigkeitsstrukturen bezogen. In einem zweiten Schritt wurde ana-lysiert, ob deutlich wurde, welche Prozesse für welche Entwicklungen verantwort-lich gemacht wurden, welche Standards mit Durchlässigkeit in Verbindung ge-bracht und welche Aspekte von Durchlässigkeit nach Meinung der Expert_innen durch Europa beeinflusst wurden. Diese Fragen waren leitend bei der Analyse, aber wie bei der theoriegeleiteten qualitativen Inhaltsanalyse nach Gläser und Lau-del (2006) wurde auch offen untersucht, was noch in Bezug auf die europäischen Prozesse und Durchlässigkeit thematisiert worden war.

Der nächste Schritt, die „soziologische Konzeptualisierung“ (Mäuser/Nagel 2009: 57), zielte auf eine Generalisierung der empirischen Daten. Dies geschieht über eine interviewübergreifende Kategorienbildung, wobei die Kategorien zu großen Teilen bereits den im Kodierprozess leitenden Fragen entsprechen. Dieser Prozess beinhaltet damit auch die Schritte der Aufbereitung der Daten und der beginnenden Auswertung nach Gläser und Laudel (2006).

Die „theoretische Generalisierung“ (Meuser/Nagel 2009: 57) ist der letzte Schritt im Auswertungsprozess. Nun erfolgt eine Darstellung der Ergebnisse nicht mehr aus der Logik der Interviews, sondern im Zusammenhang der ver-wendeten theoretischen Perspektive. Werden von den Expert_innen Diffusions-prozesse von der europäischen Ebene auf die nationale festgestellt? Wo und wie waren sie besonders einflussreich? Welche Verallgemeinerungen lassen sich für den Einfluss der europäischen Bildungsprozesse ablesen? Ist der Einfluss auf be-stimmte Durchlässigkeitsaspekte besonders groß? Diese theoretisch unterfütter-ten Fragen sollunterfütter-ten dann anhand der Interviews beantwortet werden (vgl. Kapitel 10).