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Durchlässigkeit in den Bologna- und Kopenhagen-Prozessen im

5 Durchlässigkeit – ein Fokus europäischer Bildungspolitik?

5.2 Durchlässigkeit in den Bologna- und Kopenhagen-Prozessen

5.2.3 Durchlässigkeit in den Bologna- und Kopenhagen-Prozessen im

Nachdem nun die Spezifika der beiden europäischen Bildungsprozesse im Hin-blick auf ihre Konzeption von Durchlässigkeit entlang der institutionellen Di-mensionen dargestellt worden sind, sollen im Folgenden die größten Gemeinsam-keiten und Unterschiede aufgezeigt werden.

Insgesamt nehmen Fragen der Durchlässigkeit einen wesentlich größeren Raum im Kopenhagen- als im Bologna-Prozess ein. Von Beginn an ist Bildungs-mobilität und zwar nicht nur über geografische Grenzen hinweg, sondern auch innerhalb der nationalen Bildungssysteme ein zentrales Ziel. Seit der ersten Fol-gekonferenz in Maastricht 2004 wird auch Durchlässigkeit zwischen beruflicher und Hochschulbildung gefordert. Das Kommuniqué von Maastricht kann zudem als Schlüsseldokument für das Thema Durchlässigkeit bezeichnet werden, da in ihm fast alle wichtigen Aspekte, welche das Konzept Durchlässigkeit im Kopen-hagen-Prozess ausmachen, vorkommen. Sie werden in den weiteren Kommuni-qués weiter präzisiert. Im Bologna-Prozess dagegen wird Durchlässigkeit zwi-schen Berufs- und Hochschulbildung kaum direkt thematisiert. Zudem ist das Thema Durchlässigkeit zu Beginn des Prozesses nicht sehr zentral, auch wenn in den ersten beiden Deklarationen (Sorbonne und Bologna) bereits durchlässig-keitsrelevante Aspekte angesprochen werden. Insgesamt nehmen diese Aspekte aber im Zeitverlauf signifikant zu.

Lebenslanges Lernen ist in beiden Prozessen der Hauptkontext, in dem durchlässige Bildungsstrukturen gefordert werden. Jedoch nimmt lebenslanges Lernen im Kopenhagen-Prozess einen viel größeren Stellenwert ein und wird von Beginn an gefordert. Im Bologna-Prozess ist lebenslanges Lernen seit 2001 rele-vant, wobei das Thema aber stärker allgemein gehalten wird. Die Ziele sind fle-xible Lernwege im Hochschulsystem und ins Hochschulsystem. Zwischen wel-chen Bereiwel-chen außerhalb der Hochschule konkret durchlässigere Strukturen er-reicht werden sollen, wird nicht expliziert. Im Kopenhagen-Prozess ist man

dies-bezüglich viel präziser: Es wird Durchlässigkeit sowohl innerhalb der Berufsbil-dung sowie zwischen den allgemeinbildenden BilBerufsbil-dungsbereichen der Schule, Hochschule und Weiterbildung als auch zwischen Berufsbildung und dem Ar-beitsmarkt und der Nicht-Erwerbsarbeitssphäre gefordert. In der Analyse wurde sich aber für den Kopenhagen-Prozess auf Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung konzentriert.

Der zweite Kontext im Bologna-Prozess, in dem durchlässigere Strukturen gefordert werden ist die sogenannte soziale Dimension. Der Zugang zur Hoch-schule für bisher unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen soll Chancengleich-heit und soziale Kohäsion fördern. Die Integration von sozial benachteiligten Gruppen ist zwar auch ein Thema im Kopenhagen-Prozess, jedoch geht es dann hier viel stärker um deren Inklusion in die berufliche (Weiter-)Bildung und weni-ger um deren Bildungsmobilität in die Hochschulbildung. Im Kopenhagen-Pro-zess ist stattdessen das Ziel, die Attraktivität von beruflicher Bildung zu erhöhen, der weitere Kontext, in welchem Durchlässigkeit zwischen den beiden Organisa-tionsfeldern gefordert wird. Immer wieder wird im Kopenhagen-Prozess auf die Notwendigkeit hingedeutet, die Wertschätzung der beruflichen Bildung in der Be-völkerung zu erhöhen. Es geht somit nicht nur um Verbindungen zwischen den Bildungsbereichen, sondern auch um Statuskämpfe, die in den Europäisierungs-prozessen sichtbar werden. Dass berufliche Bildung aber in den Bologna-Doku-menten kein Thema ist, kann in diesem Zusammenhang vielleicht auch als ein Indiz für die Wertigkeit dieses Bildungsbereichs für die europäische Hochschul-bildung gesehen werden. Im Gegensatz dazu fordert der Kopenhagen-Prozess von Beginn an eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem Bologna-Prozess, wäh-rend dies andersherum nicht der Fall ist.

Betrachtet man die Aspekte der Durchlässigkeitskonzepte, die aus den Do-kumenten herausgearbeitet wurden, so gibt es eine weitgehende Übereinstim-mung.

Durchlässigkeit wird diskutiert vor allem anhand von Fragen des Zugangs, der Anrechnung und auch in beiden Prozessen aber verstärkt im Bologna-Prozess wird die Frage des Umgangs mit den heterogenen Bedürfnissen von Lernenden thematisiert, auf die für ein Lernerfolg besser eingegangen werden muss. Im Ko-penhagen-Prozess kam zusätzlich auch der Aspekt der organisationalen Verbin-dung, d.h. einer Integration beruflicher Praxis im Hochschulbereich, in den Do-kumenten vor. Dies ist insofern erstaunlich, als dass insbesondere im Bologna-Prozess die stärkere berufliche Orientierung des Studiums kontinuierlich gefor-dert wird.

Betrachtet man die beiden europäischen Prozesse im Zeitverlauf ist auch eine wachsende Übereinstimmung in den zu implementierenden Standards festzustel-len. In beiden Prozessen wird die Einführung folgender Standards als durchläs-sigkeitsfördernd beschrieben: Qualifikationsrahmen, Leistungspunktesysteme (ECVET/ECTS), Verfahren zur Anerkennung von vorgängigem Lernen,

Lern-ergebnisorientierung, Qualitätssicherungssysteme sowie institutionalisierte Bera-tungsangebote. Die große Kongruenz der Standards kann zum einen erklärt wer-den durch wer-den Einfluss der Politik des lebenslangen Lernens sowie der Lissabon-Strategie auf beide Prozesse, aber auch durch die gegenseitige Beeinflussung bei-der Prozesse. Letzteres wird in den Kopenhagen-Dokumenten auch explizit ge-macht.

Die Bologna-Dokumente geben Hinweise auf die Zielgruppen, für die durch-lässigere Strukturen zwischen Hochschul- und Berufsbildung geschaffen werden sollen. Dies sind die in den Hochschulen bisher unterrepräsentierten Gruppen der Bevölkerung, welche allerdings in ihrer Gänze nicht näher definiert werden.

Menschen mit beruflichen Hintergründen werden aber z.B. explizit genannt. Um-gekehrt werden Studienabbrecher als potenzielle Zielgruppe für die berufliche Bildung im Kopenhagen-Prozess dargestellt. Dass Durchlässigkeit keine Ein-bahnstraße ist und sozusagen in beide Richtungen gehen sollte, wird verdeutlicht.

Für den Zugang zur beruflichen Bildung wird keine weitere Vorbedingung fest-gelegt. Leistung dagegen ist das Kriterium, welches über den Zugang zur Hoch-schule entscheidet.

Insgesamt werden in beiden Prozessen strukturelle Gründe für eine fehlende Durchlässigkeit identifiziert bzw. über strukturelle Änderungen versucht, größere Bildungsmobilität zu ermöglichen. Aber beiden Prozessen ist auch gemeinsam, dass die Individuen in die Pflicht genommen werden, sich selbstständig mithilfe der zu entstehenden Strukturen flexibel durch die Bildungssysteme zu bewegen.

Die Befähigung der Individuen zur Selbsthilfe und damit auch zum Teil die Ab-gabe der Verantwortung für Bildungsmobilität an das Individuum ist dabei ein zentrales Charakteristikum des entstehenden europäischen Bildungsmodells und nicht nur bei Fragen von Durchlässigkeit relevant (Powell et al. 2012a).

Auch die Frage, wer für die Umsetzung von Bildungsmobilität fördernden Strukturen zuständig ist, wird in den beiden Prozessen ähnlich beantwortet. Alle Stakeholder, die Ministerien, Kammern und vor allem Sozialpartner sollten betei-ligt werden. Im Bologna-Prozess wird zudem eine Beteiligung der Studierenden und vor allem der Hochschulorganisationen gefordert. Der Erhalt der Autonomie letzterer ist eine zentrale Forderung. Explizit wird daher auch den Hochschulen das Recht zugesprochen, zu bestimmen, welche Fähigkeiten und Kompetenzen in der spezifischen Hochschule Anerkennung finden. Interessant ist an dieser Stelle, dass im Kopenhagen-Prozess keine direkten Forderungen an die Hoch-schulen gestellt werden, die Zugangsmöglichkeiten für beruflich Qualifizierte zu verbessern. Entweder finden sich im Kommuniqué Forderungen an die Berufs-bildungssysteme für eine Veränderung ihrer Strukturen oder es werden allgemein mehr Übergänge bzw. Durchlässigkeit gefordert. Welche Rolle die Hochschulen dabei übernehmen sollten, findet keine Erwähnung.

Im Bologna-Prozess wird eine Finanzierung der Durchlässigkeitsreformen mit öffentlichen Geldern gefordert, während im Kopenhagen-Prozess von einem

Finanzierungsmix aus öffentlichen, privaten und europäischen Geldern ausgegan-gen wird.

Abschließend lässt sich festhalten, dass es zwar Unterschiede in den beiden europäischen Bildungsprozessen gibt, in Bezug darauf wie genau und wie viel Durchlässigkeit thematisiert wird. Es lässt sich jedoch auch eine große Überein-stimmung feststellen. Das gilt sowohl für das allgemeine Verständnis von Durch-lässigkeit anhand der Aspekte sowie deren Begründungen in der kulturell kogni-tiven Dimension und den geforderten Standards in der normakogni-tiven Dimension als auch für die regulative Dimension im Hinblick auf die bei der Implementie-rung zu beteiligenden Akteure. Aus diesem Grund soll von einem europäischen Kernkonzept von Durchlässigkeit gesprochen werden (vgl. Tabelle 38 im An-hang).

Wie in Kapitel 2 angenommen, ist dieses Konzept aber kein klar definiertes, sondern lässt bei der Interpretation und Umsetzung einigen Spielraum. Die the-matisierten Aspekte von Durchlässigkeit sind breit und ihre Umsetzungsvor-schläge wenig spezifisch gefasst. So wird nicht beschrieben, wie die Zugangsrege-lungen zur Hochschule ausgestaltet sein sollten, ob über Berechtigungen oder hochschulische Regelungen oder ob individuumszentriert oder gruppenspezi-fisch. Allein dass es keinen universellen Zugang in die Hochschule geben soll, wird vermittelt, da die Auswahl der Studierenden als leistungsbasiert beschrieben wird.

Auch wie Anrechnung stattfinden soll, d.h., inwiefern sie stärker individuell ausgerichtet oder pauschalisiert institutionalisiert wird, wird in den untersuchten Dokumenten offen gelassen. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass Richtlinien erarbeitet worden sind, wie Validierungsverfahren aussehen können (Bruges Communiqué 2010). Zudem werden klare Standards, wie die Leistungspunktesys-teme, die Lernergebnisorientierung, Qualifikationsrahmen, die Modularisierung, eingefordert, die bei Anrechnung und Validierungsverfahren helfen sollen.

Nicht näher spezifiziert werden desgleichen die zu institutionalisierenden Formen der organisationalen Verbindung zwischen Berufs- und Hochschulbil-dung: Es soll Übergänge aus einem Bereich in den anderen geben und berufliche Bildung im Hochschulstudium integriert werden. Verschiedenste Modelle sind hier denkbar, z.B. das deutsche Modell der dualen Studien, die französischen be-ruflichen Kurzstudiengänge oder integrierte Praktika während des Studiums. Et-was spezifischer dagegen sind die Vorgaben, die den Umgang mit Heterogenität der Lernenden erleichtern und zu einem Bildungserfolg führen sollen, da hier Maßnahmen zur Flexibilisierung (e-Learning, Teilzeit, Fernstudium), der Bera-tung und Unterstützung z.B. durch Lernendenzentrierung und Finanzierungs-möglichkeiten vorgeschlagen werden.

Durch diese allgemeinere Offenheit des europäischen Durchlässigkeitsmo-dells kann demgemäß ebenfalls nicht geschlussfolgert werden, ob dieses in der Umsetzung eher zu neuen Barrieren in Bildungssystemen und damit Schließungs-prozessen führen oder stärker bestehende Barrieren abbauen wird. Die nationale

Interpretation und Umsetzung des Modells im Rahmen der nationalen Gegeben-heiten wird dafür entscheidend sein.

Trotz dieser stärkeren Offenheit der Durchlässigkeitsvorgaben auf europäi-scher Seite, wird jedoch deutlich, dass Durchlässigkeit ein Thema ist, mit dem sich die Mitgliedsstaaten beschäftigen müssen. Bildungssysteme, die keine Bildungs-mobilität zwischen Bildungsbereichen ermöglichen, büßen durch die europäi-schen Prozesse an Legitimität ein und gelten als Bremser einer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa. Insofern ist anzunehmen, dass ein Land, wie Deutschland, in welchem die institutionelle Trennung zwischen Berufs- und Hochschulbildung stark ausgeprägt ist und damit eine geringe Bildungsmobilität zwischen den Bereichen gewährleistet, auch unter Druck steht, Strukturen zu schaffen, welche eine stärkere Bildungsmobilität ermöglichen. In Ländern wie Frankreich, in denen Strukturen, die eine Mobilität zwischen Bildungsbereichen fördern, bereits bestehen, ist zu untersuchen, wo und ob überhaupt die Europäi-sierung einen Einfluss auf die Entwicklung von Durchlässigkeitsstrukturen neh-men kann. Wie sich die Durchlässigkeitsstrukturen in Deutschland und Frank-reich verändert haben und wie einflussFrank-reich die europäischen Bildungsprozesse dabei waren, soll in den nachfolgenden empirischen Analysen gezeigt werden.

6 Der deutsche Fall – Bildungssystem, Geschichte