• Keine Ergebnisse gefunden

6 Der deutsche Fall – Bildungssystem, Geschichte und das

6.1 Das deutsche Bildungsschisma

Warum stellt Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung in Deutschland ein solches Problem dar? Die Antwort findet sich im so genannten deutschen Bildungsschisma, welches in den unterschiedlichsten institutionellen Dimensionen wirksam ist (vgl. Graf 2013). In diesem Abschnitt sollen die Spezifik dieses Schismas und die damit einhergehende Durchlässigkeitsproblematik dar-gestellt werden

Das deutsche Bildungssystem ist gekennzeichnet durch eine institutionelle Segmentierung der höheren Allgemein- und Berufsbildung, welche Baethge (2006) als das deutsche Bildungsschisma bezeichnet.

Institutionelle Segmentierung meint die dauerhafte wechselseitige Abschottung von Bildungsbereichen gegeneinander, die darauf beruht, dass jeder Bildungsbereich einer anderen institutionellen Ordnung folgt. (Baethge 2006: 16)

Entlang der institutionellen Dimensionen nach Scott (2008) sollen die wichtigsten Unterschiede zwischen den Organisationsfeldern Berufs- und Hochschulbildung, die das Schisma ausmachen, skizziert werden. Dabei beruht die Darstellung dieser Unterschiede zwischen den Bildungsbereichen weitestgehend auf der Ausarbei-tung von Baethge (2006). In der kulturell-kognitiven Dimension können die Bil-dungsziele der Berufs- und der höheren Allgemeinbildung und damit einherge-hend auch die differenten Bezugspunkte der Bildungsausrichtung unterschieden werden. Baethge (2006) betont dabei, dass im stärker allgemeinbildenden

(Hoch-)Schulwesen85 das Ziel darin besteht, eine „gebildete Persönlichkeit“

auszubilden, die fähig ist, das individuelle Leben in modernen Gesellschaften selbstständig zu meistern. Um dies zu erlangen, müssen den Individuen spezifische allgemeinbildende Kulturtechniken, d.h. Kompetenzen in Sprachen, Grundlagenkenntnisse der Mathematik und Naturwissenschaften sowie der Geschichte vermittelt werden.

Ihre Grundlage bildet ein Kanon repräsentativen Wissens – gleichsam ein ‚Weltcur-riculum‘ des Wissens –, bei dem in den letzten Jahrzehnten Wissenschaftsorientierung eine zunehmende Bedeutung gewonnen hat. (Baethge 2006: 17)

In der beruflichen Bildung ist das Ziel die Vermittlung der beruflichen Hand-lungskompetenz. Selbst wenn auch allgemeinbildende Anteile in der Berufsaus-bildung relevant sind, zielt die AusBerufsaus-bildung doch primär darauf ab, den Absol-vent_innen beizubringen, ihre beruflichen Rollen auszufüllen und sich entspre-chend auch in Organisationen, die ihre Arbeitsplätze darstellen, richtig und ange-messen zu verhalten. Damit sind auch die Bezugspunkte für die Lehrgestaltung stärker auf die Bedarfe des Arbeitsmarkts, die dort benötigten Qualifikationen, ausgerichtet (Baethge 2006).

Für die normative Dimension heißt das, dass die Lernorganisation in den be-ruflichen Ausbildungen stärker praxisintegriert erfolgt, und zwar an den zwei Lernorten Schule und Betrieb, während die allgemeinbildenden Bildungsgänge stärker als praxisfern charakterisiert werden können und auch in eigenen Organi-sationen abseits des Arbeitsalltags stattfinden (Baethge 2006).

Schließlich bestehen auch in der regulativen Dimension klare Unterschiede.

Analog zu den verschiedenen Lernorten ist auch der rechtliche Status der Lernen-den nicht gleich. In der Allgemeinbildung handelt es sich um Schüler_innen, wäh-rend in der Berufsbildung die Lernenden Auszubildende mit einem Arbeitsvertrag sind86. Des Weiteren werden die allgemeinbildenden Bildungsgänge des Schul- und Hochschulwesens staatlich durch die Bundesländer und deren Bildungsver-waltung gesteuert, die parlamentarisch kontrolliert werden und damit auch stärker durch Politikwechsel der Länderregierungen beeinflusst werden können. In der beruflichen Bildung dagegen erfolgt die Steuerung zwar auf Basis bundesrechtli-cher Regulierungen, aber primär durch korporatistische Zusammenarbeit der Vertreter der Arbeitgeber_innen und -nehmer_innen, der Kammern sowie der Bundesregierung. Auch die Finanzierung der Bildung ist unterschiedlich. Wäh-rend die duale berufliche Bildung primär als privat durch die Ausbildungsbetriebe finanziert gilt, werden die Schulen und Hochschulen aus öffentlichen Mitteln vor allem der Länder und Kommunen bezahlt. Während Erstere daher vor allem ab-hängig ist von der Ausbildungsbereitschaft der Betriebe, welche sich in den

letz-85 (Hoch-)Schulwesen wird verwendet, wenn die dargestellten Charakteristika sowohl für die höhere Schul- als auch für die Hochschulbildung gelten.

86 Dies gilt zumindest für die Lernenden einer dualen Ausbildung.

ten Jahren in Deutschland verringert hat (vgl. Autorengruppe Bildungsberichter-stattung 2014; Busemeyer/Thelen 2008; Solga 2009), sind Letztere stärker abhän-gig von politischen Entscheidungen und der parlamentarischen Kontrolle (Baethge 2006).

Tabelle 7 Das deutsche Bildungsschisma nach Baethge (2006)

Merkmale institutioneller Ordnungen im

Bildungswesen Höhere Allgemeinbildung Berufsbildung Kulturell-kognitive Dimension

Dominante Zielperspektive Gebildete Persönlichkeit / individuelle Regulationsfä-higkeit (Autonomie)

Berufliche Handlungskom-petenz, Beruflichkeit

Bezugspunkt für

Lernziel-definition und Curricula Kanon repräsentativen systematisierten Wissens/

Organi-sation der Lernprozesse Praxisenthoben(-fern) in

eigenen Organisationen Praxisintegriert (Verbindung von Arbeit und Lernen) Regulative Dimension

Status des Lernenden Schüler_in, Student_in Auszubildende im Arbeits-verhältnis Selbstverwal-tung unter Beteiligung der Wirtschaft (Verbände,

Quelle: Baethge (2006) sowie Powell et al. (2009) – erweitert auf die Hochschulbildung und organisiert entlang der institutionellen Dimensionen durch die Verfasserin und Team INVEST

Das Bildungsschisma soll in dieser Arbeit vor allem als eine idealtypische Darstel-lung verstanden werden, nicht aber als exakte empirische Beschreibung des deut-schen Bildungssystems, welches wesentlich komplexer ist. So stehen für die Be-schreibung des Berufsbildungssystem vor allem das deutsche duale System und für die höhere Allgemeinbildung die Sekundarstufe II an den Gymnasien und die klassische Forschungsuniversität Pate. Organisationsformen, die beide Bereiche verbinden, wie z.B. duale Studiengänge, werden durch die Beschreibung nicht ab-gedeckt. Auch ältere und neuere Tendenzen der Verberuflichung der Hochschul-bildung z.B. durch die Ausrichtung des Bachelors auf eine Berufsbefähigung (vgl.

Rauner 2012) sind hier nicht inkludiert. Zudem kann auch eine strikte Berufs- und Praxisferne der Hochschulen durch mehrere Entwicklungen des 20. Jahrhunderts

infrage gestellt werden. Zum einen ist die Differenzierung der Hochschularten und Fächer über die klassischen Fakultäten hinaus mit zum Teil explizit berufs-praktischen Zielen wie in den Fachhochschulen zu nennen. Auch die klassisch an den Universitäten stattfindende Professionsausbildung z.B. von Ärzt_innen, Ju-rist_innen und Lehrer_innen sind klar beruflich orientiert und mit Praxisphasen verbunden. Zum anderen können die massive Bildungsexpansion und der Ausbau der Hochschulen als Entwicklung weg vom exklusiven, allein auf die Professionen und Forschung ausgerichteten Bildungsweg gesehen werden. Zudem wurde be-reits in den Hochschulreformen seit den 1970er Jahren ein vermehrter Praxis- und Berufsbezug als eine Leitlinie im Studium integriert (Wolter 2010b). Zum Teil wird auch eine verstärkte Integration des dualen Prinzips in der Hochschulland-schaft erwartet (Grollmann 2012). Andererseits wird in den letzten Jahren auch verstärkt von einer Bewegung der Berufsbildung in Richtung Akademisierung ge-sprochen. Dies beinhaltet eine Modernisierung der Berufsausbildung, in der ver-mehrt auch theoretisches disziplinäres Wissen vermittelt wird, da die Anforde-rungen der Berufe im Verlauf der Zeit gestiegen87 bzw. neue Berufe wie im IT-Bereich hinzugekommen sind. Damit ist aber auch die Entwicklung gemeint, dass Ausbildungen z.B. der Gesundheitsberufe verstärkt als Fachhochschulstudium angeboten werden sollen (vgl. Bischoff-Wanner 2002).

Trotz dieser Trends der Akademisierung einerseits und der Verberuflichung andererseits zeichnen sich die Organisationsfelder der Berufs- und Hochschulbil-dung weiterhin durch ihre unterschiedlichen institutionellen Logiken aus, die zu einer gegenseitigen Isolierung der Bildungsbereiche führen, die von Baethge (2006) als Segmentierung im Bildungssystem bezeichnet wird.

Aber was bedeutet dann das Bildungsschisma für Durchlässigkeit? Durch die Segmentierung sind Übergänge aus einem Bereich in den anderen schwer mög-lich. Dass kann auch anhand der institutionalisierten Bildungswege und typischen Weiterbildungsmöglichkeiten gezeigt werden (vgl. Kapitel 6.2). Betrachtet man die Zahlen der beruflich Qualifizierten, die ohne schulische Zugangsberechtigung ein Studium aufnehmen, zeigt sich zwar ein Anstieg, aber das Niveau liegt weiter-hin sehr niedrig. So haben 1997 0,6 % der Studienanfänger_innen ein Studium ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung angefangen, und 2010 waren es etwa 2,1 % (Nickel/Duong 2012: 31). Die Abschottung der Bildungsbereiche und die unterschiedlichen Logiken und Bildungsziele führen auch dazu, dass das bis-her Gelernte aus einem Bereich im jeweiligen anderen nicht als gleichwertig aner-kannt wird, so dass die Anrechnung von Kompetenzen sich schwierig gestaltet (vgl. Freitag et al. 2011). Eine Folge sind für Deutschland typische Doppelquali-fikationen (Hörner 2006).

87 Es kann gezeigt werden, dass ein Upskilling, die Erhöhung der Lernanforderungen, kein genereller Trend in der beruflichen Bildung ist (Protsch 2014).