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2. Der Ayodhya-Konflikt als religiöser Werte- und Machtkonflikt 41

2.3. Die Ayodhya-Kampagne und der Aufstieg der VHP

2.3.2.2. Entwicklungen und Reaktionen unter den Moslems

2.3.2.2.1. Die Organisationen der Moslems und ihre Reaktion zum

Der Fall der Muslima Shah Bano führte erstmals seit der Er-langung der Unabhängigkeit Indiens wieder zu einer offensiven Kampagne unter den Moslems. Er ist insofern herausragend, da er als klassisches Beispiel dafür galt, wie sich unter den indischen Moslems orthodoxe und fundamentalistische Richtun-gen durchzusetzen versuchten.

Am 23. April 1985 fällte das Oberste Gericht Indiens sein Ur-teil zu einer von einem gewissen Mohammed Ahmed Khan 1981 vorgelegten Berufung. Das Oberste Gericht des Unionsstaates

Madhya Pradesh hatte ihn damals zur Zahlung eines Unterhalts an seine geschiedene Frau Shah Bano in Höhe von 179,20 Rupien im Monat aufgefordert. Das Oberste Gericht Indiens hatte nun darüber zu befinden, ob die Muslima generell unter dasjenige Gesetz ("Section 125 (des) Code of Criminal Code Procedure") fallen, das beim dem Urteilsspruch des Gerichts von Madhya Pradesh zur Anwendung kam, oder ob für sie gemäß des staat-lich anerkannten "Moslemischen Zivilgesetzes" spezielle Ge-setze gelten können. Im Rahmen dessen hätte es dann für Khan ein Urteil gegeben, das ihn nur zu Zahlungen innerhalb der ersten drei Monate nach der Scheidung verpflichten würde.

Doch das Oberste Gericht Indiens bestätigte den Urteils-spruch.

Sektionale Tendenzen unter den Moslems nahmen dieses Urteil zum Anlaß, die Staatlichkeit überhaupt in Frage zu stellen.

Sie organisierten eine breite Kampagne und forderten eine Ausweitung des moslemischen Zivilgesetzes, wonach moslemische Frauen nicht unter die allgemeine indische Gesetzgebung fal-len sollten.

Die Debatte, die nun geführt wurde, machte eine Reihe von Merkmalen der "moslemischen Gemeinschaft" sichtbar. Das wich-tigste war dasjenige, daß eine Gemeinschaft als solche nicht existiert. Hingegen ist sie in lokale Gemeinden, religiöse Schulen, politische Richtungen und Weltanschauungen aufge-splittert. Es gibt drei islamische Organisationen die auf all-indischer Ebene agieren. Sie hatten teilweise die Debatte gegen den Spruch des Obersten Gerichtshofes angeführt, und sie werden es auch sein, aus dem sich die moslemischen Ent-scheidungsgremien zur Frage der Babri-Moschee rekrutieren werden.

Die größte und repräsentativste moslemische Organisation ist der 1964 gegründete "All-India Muslim Majlis-e-Mushawarat".

Zweck seiner Bildung war es, ein nicht-politisches Forum der gegenseitigen Verständigung und Konsultation zu schaffen.

Gegründet wurde er von einem ehemaligen moslemischen Kongreß-politiker, der die Moslems zusammenbringen wollte, die Mit-glieder in verschiedenen Parteien waren. Ihr gehören heute unterschiedliche moslemische Organisationen und Parteien, dazu zählen auch die nachfolgend genannten, an.

Große Teile der Geistlichkeit der religiösen Schulen Indiens sind Mitglied des "All-India Muslim Personal Law Board"

(AIMPLB) (Ausschuß des moslemischen Zivilgesetzes). Er wurde 1972 geschaffen und soll die staatliche Tätigkeit vom Blick-winkel des den Moslems in der Verfassung verankerten Rechts auf eigene Zivilgerichtsbarkeit überwachen.

Die "Jamaat-e-Islami Hind" als dritte all-indische Organisa-tion hingegen ist eine Kaderpartei. Sie hat 3.871 Mitglieder und Kontakt zu rund 300.000 Personen. Ihr Ursprung liegt in der "Jamaat-e-Islami", die Maududi 1941 gegründet hatte. Die Teilung "Britisch-Indiens" sowie der Weggang Maududis nach Pakistan machten im Jahre 1948 die Gründung einer indischen Nachfolgepartei notwendig. Die "Jamaat-e-Islami Hind", die einen engen Kontakt zu ihrer pakistanischen Schwesterpartei pflegt, gilt als klassische Vertreterin des islamischen Fun-damentalismus in Indien. An Wahlen nimmt sie nicht teil. Sie steht jedoch hinter einer Reihe von Aktivitäten innerhalb der

"moslemischen Gemeinde", ohne offen direkt beteiligt zu sein.

Lt. Selbstdarstellung war sie auch eine treibende Kraft bei der Bildung der "Mushawarat". Andere moslemische Parteien und Organisationen agieren hingegen nur auf lokaler Ebene, wo-durch die Politisierung der Moslems insgesamt auch geprägt ist. D. h. die bekannten moslemischen Politiker sind vor al-lem Führer bestimmter lokaler Gruppen und nicht eines gesamt-indischen Zusammenschlusses von Moslems.

Das AIMPLB forderte vor dem Hintergrund des Streits um die Zahlung von Unterhalt an die Witwe Shah Bano die Regierung auf, die "Section 125 (des) Criminal Procedure Code" dahinge-hend zu ergänzen, daß es nicht in Konflikt mit der "Shariat"

gerät. In der Argumentation konnte es sich darauf berufen, daß den Moslems ein separates Zivilgesetz zugesichert wurde.

Aber die allgemeine Debatte zog weitaus größere Kreise. Das Oberste Gericht hatte sich u. a. auf den Koran bezogen. Es zitierte und interpretierte bei seiner Urteilsfindung seinen 241. Vers. Hierin sah ein Teil der islamischen Geistlichkeit den offenen Versuch, ihr Klientel von ihnen zu entfernen und sich in ihre Belange einzumischen. Es sei nicht die Sache des Gerichts, die Rolle eines Sozialreformers einzunehmen, kriti-sierte Syed Shahabuddin. Shahabuddin profilierte sich bereits während der Shah-Bano-Kampagne als einer der bekanntesten Vertreter der Moslems auf der politischen Ebene. Er wird auch eine führende Stellung in der Ayodhya-Frage einnehmen. Die von der moslemischen Geistlichkeit angeleitete offensive Agi-tation führte schließlich auch dazu, daß die Witwe Shah Bano ihr Gerichtsverfahren zurückzog. Die Kontroverse fand ihr vorläufiges Ende, als am 25. Februar 1986 in der Lok Sabha ein spezielles Scheidungsgesetz für Muslima ("The Muslim Wo-men (Protection of Rights on Divorce) Bill") vorgestellt wurde. Es wurde am 5. Mai 1986 im Parlament verabschiedet.

Im Rahmen dieser Betrachtung soll nun nicht interessieren, welche Rechte Frauen in Indien überhaupt haben. Denn im Laufe der Diskussion sah es mitunter so aus, als ob nur die Muslima unter Tradition zu leiden hätten, es den Hindu-Frauen hinge-gen überaus gut gehen würde. Auch dieses Gesetz gestand den moslemischen Frauen eine Unterhaltszahlung zu. Es war jedoch weitaus allgemeiner gehalten. Letztlich schätzte die damalige Regierung ein, daß sie sich mit der Verabschiedung des Geset-zes nichts vergeben würde, sondern die Beendigung einer Agi-tation erhoffte. Die Hindus waren von ihm ohnehin nicht be-troffen. Nur warf es die Modernisierungsbestrebungen unter den Moslems um Jahre zurück.

Das neue Gesetz spaltete die moslemische "Gemeinschaft" wei-ter. Über 100 moslemische Intellektuelle unterschrieben einen Appell gegen seine Verabschiedung. Eine Reihe von ihnen

befand sogar, daß es den grundlegenden Lehren des Islams widersprechen würde. Auch der "Islamische Shariat-Ausschuß"

Keralas schloß sich dem an. Arif Mohammed Khan, ein mosle-mischer Minister im Gandhi-Kabinett, trat aus Protest gegen das Gesetz von seinem Amt zurück. Er traf damals eine Ein-schätzung, die auch im Lichte des Ayodhya-Problems von Bedeu-tung ist. Lt. Khan verfügt nämlich die geistliche Führungs-schicht über ein Mittel, über das moslemische Vertreter wie er nicht verfügen: "(Sie haben) die Fähigkeit, Spannungen in der Gesellschaft zu erzeugen. Ich kann die Menschen nicht aufwiegeln, sich der Gewalt hinzugeben und somit eine Gefahr für die innere Sicherheit des Landes zu werden. ...Das Gesetz war ein Mittel, die Gewalt zu zerstreuen und diesen Kräften, die Möglichkeit zu nehmen, ihre verbalen Drohungen in Taten umzusetzen" (Khan, A. M. 1986, 128 u. 126).

Das Gesetz, das auf den Fall der Shah Bano zurückging, ließ unter aufgeklärten Hindus Mißtrauen über die Modernisierungs-fähigkeit der moslemischen "Gemeinde" aufkommen. Shahabuddin z. B. übernahm auch im Falle der Ayodhya-Problematik einige Zeit später deren Agitation. Viele Intellektuelle stimmten zwar mit der seitens der VHP um die Babri-Moschee geführten Kampagne nicht überein, aber sympathisierten schließlich doch mit ihr aufgrund der kompromißlosen Haltung gegenüber solchen Leuten wie Shahabuddin. Hier wirkte noch Jahre nach dem Fall der Shah Bano eine "Denkzettelmentalität" nach.

Die Regierung Rajiv Gandhis versuchte, die moslemische Ober-schicht mit einer für sie positiven Entscheidung zur Frage der Shah Bano für die am 1. Februar 1986 erfolgte Öffnung der Babri-Moschee zu entschädigen. Doch Khan schätzte bereits im Mai 1986 ein, daß Ayodhya einen größeren Einfluß unter den Moslems haben würde und ihre Wahlentscheidung stärker beein-flussen würde als das neue Scheidungsgesetz (Khan, M. A.

1986, 130).