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1. Politische Hauptideen zur Zeit der Erlangung der Unabhängigkeit

1.4. Bhimrao Ramji Ambedkar (1891 - 1956)

Zu den Feierlichkeiten des 100. Geburtstages von Ambedkar im Jahre 1991 fand eine wahre Ambedkar-Renaissance statt. Es gab keine Partei, die nicht versucht hat, Ambedkar auf die eine oder andere Art für sich zu vereinnahmen. In der Tat wurde Ambedkar lange vernachlässigt, und doch kommt ihm unter den politischen Denkern Indiens eine besondere Stellung zu.

Ambedkar reflektierte aus seinen persönlichen Erfahrungen heraus die indische Gesellschaft als eine rein in Kasten ein-geteilte. Der Versuch, das Entstehen der Kastenordnung und deren Überleben bis in die heutige Zeit erklären zu wollen, würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Jedoch muß hier darauf eingegangen werden. Denn nur mit diesem Merkmal kommt man dem Phänomen, wie in Indien Politik gestaltet wird, näher. Daher wird es in der Arbeit des öfteren angesprochen werden. Die folgenden Bemerkungen sollen zunächst ein Einstieg sein:

Die Kasten- (oder vielmehr die) varnajati-Teilung hat eine religiöse und eine soziale Komponente. Die Kasten bildeten sich auf einer bestimmten Stufe der Arbeitsteilung in der traditionellen, also vor-modernen Gesellschaft heraus und wurden, so wie sich in ihr das gesamte Leben vollzog, religi-ös sanktioniert. Sie verfestigten sich in Indien derart, daß sie, ungleich als in Europa, diejenigen Kräfte, die im Stande gewesen wären, sie zu unterminieren, in sich absorbierte. Ihr wesentliches Merkmal ist die Endogamie der sozialen Gruppen.

Diese Sozialordnung weist jedem dem Platz in der Gesellschaft durch seine Geburt zu. Man ist also vorrangig als Mitglied

einer dieser sozialen Gruppen, Kasten oder Kommunen definiert und nicht als Gleicher unter Gleichen.

Um nun Ambedkars politische Auffassungen verstehen zu wollen, muß man sich seine soziale Herkunft vergegenwärtigen. Er war ein Unberührbarer. Damit gehörte er zu jenen sozialen Grup-pen, die "nicht nur verachtet, sondern jeglicher Möglichkei-ten aufzusteigen beraubt (wurden)" (Ambedkar 1943, 12). Unrührbare oder Harijans, Kastenlose, Dalits, wie sie auch be-zeichnet werden, standen am untersten Rand der indischen Gesellschaft. Sie wurden "schlechter als Sklaven" (Ambedkar 1946, 146) behandelt. Fiel z. B. der Schatten eines Unberühr-baren auf einen in der Kastenhierarchie oben stehenden, so konnte dies zum Tod des Unberührbaren führen. Ihnen wurde nicht erlaubt, die Tempel von Kastenmitgliedern zu betreten.

Ambedkar fragte nun, wie auf diesen Grundlagen eine Nation zu errichten sei(Ambedkar 1968, 71), und wie man dann von einer Demokratie in Indien sprechen kann. Steht das nicht "im Widerspruch zur Isolation und Exklusivität, die in der Unter-scheidung zwischen Privilegierten und Nichtpriviligierten re-sultiert, (und ist daher unvereinbar mit ihr)." (Ambedkar 1964, 27)?

Die Schlüsselfrage eines jeglichen Fortschritts der indischen Gesellschaft war für Ambedkar die "Zerstörung der Kaste, der Vorrang der Sozial- vor der politischen Reform" (Ambedkar 1968). Denn "politische Demokratie wird zu einem vollkommenen Hohn, wird sie auf deren Fundament errichtet werden"

(Ambedkar 1964, 29). Mit dieser Radikalität machte sich Ambedkar zum Kritiker aller großen Parteien. Letztlich war für Ambedkar auch der Sachverhalt suspekt, daß größtenteils in ihnen Brahmanen, also Hochkastige, führten. Sie kämpften nur um die Macht, nicht aber um die Sache der Unberührbaren.

Von ihnen sei daher kein Engagement für die Unberührbaren zu erwarten. Denn sie werden stets den "Niedrigkastigen (brauchen), um sich von ihm als ein Hochkastigen

unterschei-den zu können" (Ambedkar 1968, 116). Sie wollen nicht, daß die Kaste stirbt, weil sie dann ihrer privilegierten Stellung beraubt wären. Ambedkar ging sogar soweit, für die Unberühr-baren die Parteienlandschaft bzw. das Nationalkonzept als ganzes in Frage zu stellen, womit er sich gedanklich auf der Ebene Jinnahs bewegte, der eine Moslem-Nation gefordert hatte, was schließlich in der Gründung Pakistans mündete:

"(Die Grundfrage der Kontroverse zwischen dem Kongreß und den Unberührbaren ist diejenige), sind die Unberührbaren ein besonderer Teil im nationalen Leben Indiens, oder sind sie es nicht? ... Die Antwort der Unberührbaren lautet: 'Ja'. Sie sagen, daß sie verschieden und gesondert von den Hindus sind.

Der Kongreß hingegen sagt 'nein' und behauptet die Unberühr-baren seien ein Splitter des Hindu-Klotzes" (Ambedkar 1946, 181).

Für Ambedkar war die Kastenordnung, da sie göttlich begründet wurde, ein Hauptmerkmal des Hinduismus. Damit stand er auch dem gesamten Hinduismus, der dieses Unrecht den Unberührbaren gegenüber sanktioniert hatte, ablehnend gegenüber. Lt.

Ambedkar macht die Kastenordnung, die die Hindus teilt, die Existenz einer Hindu-Gesellschaft zum Mythos. Die Hindus definieren sich vorrangig als Mitglied einer Kaste: "Es gibt keine integrierende Kraft (auch: kein Hindu-Bewußtsein) unter den Hindus, um der Desintegration, die durch die Kasten ver-ursacht wird, entgegenzuwirken. ... (Und weiter: Was ist Hin-duismus?) Was von den Hindus als Religion bezeichnet wird, ist nichts weiter als eine Menge von Befehlen und Verboten.

... (Er kennt keinen universellen Charakter.) ... Unter ihm gibt es keine Loyalität zu Idealen. Es gibt nur die Befolgung von Befehlen. Deshalb schrecke ich nicht davor zurück zu sagen, daß eine solche Religion zerstört werden muß, und ich sage, es ist nichts Gottloses dabei, für die Zerstörung einer solchen Religion zu arbeiten" (Ambedkar 1968, 42-44, 87, 88).

Ein Höhepunkt seiner Hinduismus-Kritik bildete sein Werk

"Riddles in Hinduism", dessen Neuveröffentlichung 1987 eine

große öffentliche Kontroverse hervorrief. Im Gedächtnis blieb Ambedkar bei vielen vor allem durch seine spektakuläre Kon-version mit Mitglieder der Unberührbaren-Kommune der Mahars vom Hinduismus zum Buddhismus im Jahre 1956.

Die Kritik Ambedkars am Hinduismus wird in Indien heute ver-schieden interpretiert. Lehnte er den Hinduismus nun grundweg ab, oder wollte er nur die Dringlichkeit von Reformen im Hin-duismus anmahnen? Diese These könnte durch seine Einleitung zu dem Werk "Riddles in Hinduism" untermauert werden:

"(Dieses Buch) ist für die einfache Masse der Hindus be-stimmt, die aufgerüttelt werden müssen, damit sie wissen, in was für eine Klemme die Brahmanen sie gebracht haben"

(Ambedkar 1987, 5).

Unbestritten dürfte hingegen die Würdigung der Arbeit Ambedkars in der verfassunggebenden Versammlung Indiens sein.

Hier nahm er sich insbesondere der Frage des Schutzes der Rechte von Minderheiten an. Im Zuge dessen wurde den als unberührbar registrierten Kasten und Stämmen (Scheduled Castes and Scheduled Tribes) Reservierungsquoten bei der Ver-gabe von öffentlichen Ämtern etc. zugestanden. Die Diskussion darum, inwieweit und ob überhaupt Reservierungen, auch für andere Bevölkerungsgruppen, Indien dem Ziel einer gerechten Gesellschaft näher bringt, ist bis heute nicht ausgestanden.

Und sie erfuhr in den letzten beiden Jahren vor allem bei der Frage der Verwirklichung der Empfehlungen der "Mandal-Kommis-sion" eine Neuauflage. (siehe 3. 3. 3.)

Ambedkar betonte in seiner Vision für Indien den Gedanken der Brüderlichkeit: "Wenn Du mich fragst, mein Ideal ist eine Gesellschaft, die auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruht. (...) Welchen Einwand kann es gegen die Brüderlich-keit geben? Ich kann mir keinen vorstellen. Eine ideale Gesellschaft sollte mobil sein, sollte eine Fülle von Kanälen haben, die den Wandel, der in einem Teil stattfindet, zu an-deren Teilen vermittelt. In einer idealen Gesellschaft sollte

es viele Interessen geben, die bewußt ausgetauscht und geteilt werden. Dort sollte es verschiedene und freie Orte des Kontakts mit anderen Arten von Zusammenschlüssen geben.

Mit anderen Worten, dort müßte es soziale Endosmose geben.

Dies ist Brüderlichkeit, die nur ein anderes Wort für Demo-kratie ist. ... Dies bedeutet einen vollständigen Wandel in den Ansichten zum Leben, (...) in den Werten des Lebens, (...) in der Einstellung und in der Haltung gegenüber den Menschen und den Dingen" (Ambedkar 1968, 54-55, 92).

Auch für Nehru war "in der modernen Organisation der Gesell-schaft (...) für die Kasten kein Platz mehr" (Nehru 1959, 699). Und er wie Gandhi übersahen das Unrecht, das sie be-gründeten, nicht: "Der Geist der Zeit ist für Gleichheit, obwohl die Praxis sie fast überall leugnet" (Nehru 1959, 700). Nur unterschieden sich beide "Lager" in den Mitteln, wie eine moderne, kastenlose Gesellschaft zu errichten sei.

Vielleicht ist das wachsende Interesse an Ambedkar in den letzten Jahren auch darauf zurückzuführen, als daß Nehrus Konzept im Vergleich auf die bisherige 40jährige Entwicklung Indiens nicht die erhofften Ergebnisse brachte, und daher Ambedkars und Lohias Drängen auf forcierter Änderungen in der Sozialstruktur nicht unbegründet waren.