• Keine Ergebnisse gefunden

Begründungsansätze zu einer Neutralitäts- und Stillhaltepflicht des Vorstands Vorstands

6 Regelungsprobleme aus juristischer Perspektive

6.1 Regelungsprobleme aus unternehmens- und gesellschaftsrechtlicher Perspektive Perspektive

6.1.2 Die Regelungsprobleme

6.1.2.2 Begründungsansätze zu einer Neutralitäts- und Stillhaltepflicht des Vorstands Vorstands

Ungeachtet der Verpflichtung des Vorstands auf das Unternehmensinteresse wird zum Teil gefordert, der Vorstand müsse während des Übernahmeverfahrens einer generellen oder zumindest grundsätzlichen Neutralitäts- und Stillhaltepflicht un-terliegen. Die entwickelten Ansätze unterscheiden sich nicht nur in der dogmati-schen Herleitung, sondern auch in der inhaltlichen Reichweite und Ausgestal-tung.550 Die unterschiedlichen Ansätze zur Begründung einer Neutralitäts- und Stillhaltepflicht sollen nachfolgend kurz dargelegt und aus unternehmens- und gesellschaftsrechtlicher Warte beleuchtet werden.551

6.1.2.2.1 Ausschließliche Hauptversammlungskompetenz nach den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen

Zum Teil wird eine allgemeine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht des Vorstands mit dem Argument gefordert, die Entscheidungskompetenz über das Ergreifen von Verteidigungsmaßnahmen liege, abgesehen von Maßnahmen wie der Kapital-erhöhung, die ohnehin in der Kompetenz der Hauptversammlung stehen, infolge der Holzmüller/Gelatine-Grundsätze552 allein bei der Hauptversammlung, weshalb den Leitungsorganen ein Tätigwerden im Hinblick auf Verteidigungsmaßnahmen untersagt sei.553 Voraussetzung für das Eingreifen der Holzmüller/Gelatine-Grundsätze ist, dass eine Entscheidung formal zwar von der Geschäftsführungs-kompetenz des Vorstands gedeckt ist, die Maßnahme aber so tief in die Mitglieds-rechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinte-resse eingreifen, dass der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen kann, er dürfe die Handlungsentscheidung in ausschließlich eigener Verantwortung treffen,

549 Mit Bezugnahme auf die Verhaltenspflichten des Managements bei öffentlichen Übernahmean-geboten Vgl. Kirchner (2000b), S.1825; Kort (2000), S.1435.

550 Vgl. Nussbaum (2003), S.70.

551 Vgl. ausführlich zu der Diskussion auch Nippgen (2005), S.36ff.; Nussbaum, S.70ff.; Ulbricht (2006), S.33ff.

552 Vgl. BGHZ 83, S.122, 131; bestätigt und konkretisiert durch BGH ZIP 2004, S.993, 996ff.

Übersichtlich zu den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen Hüffer (2008), § 119, Rn.16ff.

553 Vgl. Dimke/Heiser (2001), S.249; Mülbert (1999), S.88f.

117

ohne die Hauptversammlung zu beteiligen.554 Das ist dann der Fall, wenn die Ent-scheidung Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kom-men, welche allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können.555 Es ist durchaus vorstellbar, dass Verteidigungsmaßnahmen unter diesen Voraus-setzungen der Beteiligung der Hauptversammlung bedürfen. Zweifelhaft ist je-doch ob Verteidigungsmaßnahmen, die ganz unterschiedlich ausgestaltet sein können und in ihrer Wirkung und Zielrichtung variieren, generell diesen Tatbe-stand erfüllen, weshalb sich aus den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen keine all-gemeine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht ableiten lässt.556 Dies gilt umso mehr, als die Holzmüller/Gelatine-Grundsätze nur in besonderen Ausnahmefällen zum Tragen kommen sollen.557

6.1.2.2.2 Fremdinteressenwahrung

Andere Stimmen begründen eine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht des Vorstands unter Verweis auf dessen Verpflichtung zur Fremdinteressenwahrung.558 Ausge-hend von der Ansicht, der Vorstand habe die Interessen der Gesellschaft als Ei-gentum der Anteilseigner zu wahren, soll es ihm verboten sein, auf die Zusam-mensetzung des Aktionärskreises Einfluss zu nehmen.559 Die Gefahr einer solchen Einflussnahme sei konkret dann gegeben, wenn tatsächlich ein von dem der An-teilseigner abweichendes Eigeninteresse des Vorstands bzw. seiner Mitglieder an der Zusammensetzung des Aktionärskreises besteht.560 Zwar wird ein solches Ei-geninteresse gesellschaftsrechtlich nicht anerkannt, da die Mitglieder des Vor-stands gesetzlich allein zur Wahrung von Fremdinteressen verpflichtet sind, doch besteht angesichts des erheblichen übernahmespezifischen Eigeninteresses der Vorstandsmitglieder561 in der Praxis durchaus die Gefahr opportunistischen Ver-haltens562 Kommt es in Anbetracht des Eigeninteresses zu einem Versagen der

554 Vgl. BGHZ 83, S.122, 131; im Zusammenhang mit Verteidigungsmaßnahmen Nippgen (2005), S.65ff.; Nussbaum (2003), S.88.

555 Vgl. BGH ZIP 2004, S.993;

556 Vgl. LG Düsseldorf, AG 2000, S.233; Birke (2006), S.104; Nussbaum (2003), S.88f.; Körner (2001), S.369; kritisch auch Krause (2000), S.221.

557 Vgl. BGH ZIP 2004, S.993ff. und S.1001ff.

558 Vgl. Adams (1990b), S.245; Assmann/Basaldua/Bozenhardt/Peltzer (1990), S.112; Birke (2006), S.86; Ebenroth/Daum (1991), S.1158; Hopt (1993), S.546; Hopt (2000), S.1376.

559 Vgl. Adams (1990b), S.245; Birke (2006), S.86; Ebenroth/Daum (1991), S.1158; Hopt (1993), S.546.

560 Vgl. Hopt (1993), S.546; Nussbaum (2003), S.77.

561 Vgl. Gliederungspunkt 4.2.

562 Vgl. Kirchner (2000b), S.1822; in diesem Sinne auch Hopt (1993), S.547.

118

gesellschaftsrechtlichen Kontrollmechanismen,563 liegt der Schluss nahe, den Mitgliedern des Vorstands eine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht aufzuerlegen.564 Allerdings greift eine solche Folgerung bei genauer Betrachtung zu kurz. So wur-de zum einen bereits dargestellt, dass eine Verpflichtung wur-des Vorstands allein auf die Interessen der Anteilseigner nicht dem hier vertretenen Verständnis zu dessen Pflichtenstellung entspricht.565 Zum anderen können Maßnahmen des Vorstands in Bezug auf das Übernahmeangebot auch durchaus im Interesse der Anteilseigner liegen.566 Damit ist zweifelhaft, ob eine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht der rich-tige Mechanismus ist, um dieser Gefahr opportunistischen Verhaltens der Vor-standsmitglieder zu begegnen.567

6.1.2.2.3 Der Grundsatz der freien Desinvestitionsentscheidung

Eine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht des Vorstands wird darüberhinaus mit dem Argument begründet, diejenigen Investitions-, Desinvestitions- und Strukturent-scheidungen, die das Gesetz in die Kompetenz der Anteilseigner als Eigentümer des Unternehmens stellt, seien der Verfolgung des Unternehmensinteresses über-geordnet.568 Deshalb habe der Vorstand weder das Recht noch die Pflicht, auf die Zusammensetzung des Kreises der Aktionäre Einfluss zu nehmen, wovon insbe-sondere der Versuch einer Übernahme oder andere Formen eines Kampfes um die Anteilsmehrheit betroffen seien.569 Diese Annahme ist allerdings nur dann haltbar, wenn sich der Grundsatz der freien Desinvestitionsentscheidung der Aktionäre tatsächlich aus dem Gesetz ableiten lässt und die Unternehmensleitung stärker bindet, als deren Verpflichtung auf das Unternehmensinteresse.570

Aktionären stehen zwei Möglichkeiten zur Desinvestition offen: Die Aktien kön-nen entweder auf dem Markt veräußert werden oder die Gesellschaft nach § 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG aufgelöst werden. In Literatur und Rechtssprechung wird der Grundsatz der Desinvestitionsfreiheit vor allem im Zusammenhang mit § 262

563 Vgl. Gliederungspunkt 5.1.

564 Vgl. Kirchner (2000b), S.1824.

565 Vgl. Kirchner (2000b), S.1825; Merkt (2001), S.248f.; sowie Gliederungspunkt 6.1.2.1.1.3.

566 Vgl. Gliederungspunkt 4.1.3 und zu den möglichen positiven Effekten von Verteidigungsmaß-nahmen Gliederungspunkt 7.1.2.1.

567 Vgl. Nussbaum (2003), S.79f.

568 Vgl. KöKoAktG-Mertens, § 76 Rn.24.

569 Vgl. KöKoAktG-Mertens, § 76 Rn.26 m.w.N.

570 Vgl. Nussbaum (2003), S.80.

119

Abs. 1 Nr. 2 AktG betont.571 So wird in der Literatur zum Teil von der „unveräu-ßerlichen Freiheit zur Desinvestition“ gesprochen.572 Der BHG hat die Desinvesti-tionsfreiheit der Aktionäre aus § 262 Abs. 1 Nr. 1 AktG unterstrichen, indem er entschied, dass der Auflösungsbeschluss der Hauptversammlung einer Aktienge-sellschaft keiner sachlichen Inhaltskontrolle unterliege, da diese zu einer allge-mein erhöhten Bindung des investierten Kapitals führe, die über die gesetzlichen Voraussetzungen der Auflösung hinausginge und dem Gesetzt nicht zu entnehmen sei.573 Daneben deutet der Umkehrschluss aus § 68 Abs. 2 AktG, nach dem die Satzung bestimmen kann, dass Namensaktien nur mit der vorherigen Zustimmung der Vorstands veräußert werden dürfen, darauf hin, dass die Aktionäre in ihrer Desinvestitionsentscheidung ansonsten frei sein müssen.

Damit stellt sich die Frage, ob anhand dieses zumindest teilweise im Gesetz aner-kannte Grundsatzes der Desinvestitionsfreiheit ein der Verfolgung des Unterneh-mensinteresses übergeordnetes Rechtsprinzip abgeleitet werden kann. Dies muss schon deshalb bezweifelt werden, da sich der Wortlaut des § 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG und des § 68 Abs. 2 AktG nicht zu den Verhaltenspflichten der Verwaltung äußert.574 Darüberhinaus wurde bereits angesprochen, dass Aktionäre, an die ein Übernahmeangebot adressiert ist, wegen Kollektiventscheidungsproblemen einem erheblichen Erpressungspotential und einer Ausbeutungsgefahr vonseiten des Bie-ters ausgesetzt sein können,575 wodurch wiederum deren Desinvestitionsfreiheit negativ beeinflusst wird. Es fragt sich somit, ob nicht gerade Maßnahmen des Vorstands der Desinvestitionsfreiheit der Aktionäre förderlich sein können.576 Schließlich vermag auch der Verweis auf die Eigentumsfreiheit der Aktionäre nach Art. 14 GG nichts daran zu ändern, dass der Grundsatz der Desinvestitions-freiheit die Verpflichtung des Vorstands auf das Unternehmensinteresse nicht überlagert, da die unternehmens- und gesellschaftsrechtliche Pflichtenstellung des Vorstands gerade als gesetzliche Ausgestaltung des Eigentums zu verstehen ist.577 Sie wäre eine mit Art. 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GG zu vereinbarende einfachgesetz-liche Inhalts- und Schrankenbestimmung, die einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den Interessen der Aktionäre als Eigentümer und den im Rahmen der

571 Vgl. Nussbaum (2003), S.81f.

572 Vgl. MüKoAktG-Hüffer, § 243 Rn.64.

573 Vgl. BGHZ 103, S.184, 189f.; hierzu auch Nussbaum (2003), S.82.

574 Vgl. Nussbaum (2003), S.83.

575 Vgl. Gliederungspunkt 3.1.3.3.

576 So zu verstehen auch Mühle (2002), S.280; Nippgen (2005), S.48.

577 Vgl. Nussbaum (2003), S.81.

120

Sozialbindung des Eigentums zu berücksichtigenden Interessen anderer von dem Unternehmensinteresse erfasster Akteure vornähme.578

Die Ansicht, der Vorstand dürfe keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises nehmen, ist folglich dahingehend zu relativieren, dass eine Ein-flussnahme auf die Zusammensetzung des Aktionärskreises durch den Vorstand dann aus unternehmens- und gesellschaftsrechtlicher Perspektive gerechtfertigt ist, wenn sich diese als Konsequenz einer solchen Leitungsentscheidung darstellt, die der Vorstand im Unternehmensinteresse getroffen hat.579

6.1.2.2.4 Aktienrechtliches Gleichbehandlungsgebot

Eine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht des Vorstands wird von manchen Stimmen mit dem aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 53 a AktG begrün-det.580 Danach hat der Vorstand Maßnahmen zu unterlassen, die, ohne durch sach-liche unternehmerische Gesichtspunkte geboten zu sein, Auseinandersetzungen zwischen Aktionären in parteiischer Weise beeinflussen.581 Dieser Grundsatz kann sich zunächst nur auf den Fall beziehen, dass der Bieter vor Abgabe des Über-nahmeangebots schon Anteile des Zielunternehmens hält, die Auseinandersetzung um Anteile und Herrschaft in der Aktiengesellschaft also unter den derzeitigen Aktionären ausgetragen wird.582 Teilweise wird allerdings argumentiert, das Gleichbehandlungsgebot müsse sinngemäß auch auf nicht an dem Zielunterneh-men beteiligte Bieter Anwendung finden, da es keinen Unterschied machen kön-ne, ob der Bieter bereits Anteile des Zielunternehmens hält oder nicht. Denn für den Fall, dass dieser nicht an dem Zielunternehmen beteiligt ist, müsste er nur einen einzigen Anteil des Zielunternehmens vor Abgabe des Übernahmeangebots erwerben, um unter den Schutz des Gleichbehandlungsgebots zu fallen.583

Zu beachten ist hinsichtlich der Ableitung der Neutralitäts- und Stillhaltepflicht aus dem aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgebot, dass danach nur Gleiches gleich zu behandeln ist. Nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz darf der Vorstand

578 Vgl. MüKoAktG-Hüffer, § 243 Rn.64; Nussbaum (2003), S.81.

579 Vgl. Kirchner (2000b), S.1825 und 1829.

580 Vgl. Birke (2006), S.87; Merkt (2001), S.234; KöKoAktG-Mertens, § 76 Rn.18; Michalski (1997), S.159.

581 Vgl. KöKoAktG-Mertens, § 76 Rn.18.

582 Vgl. Birke (2006), S.87; Hopt (1993), S.545f.; Hopt (2000), S.1376; Meier-Reimer (2001), S.260; Merkt01, S.247; Nussbaum (2003), S.75.

583 Vgl. Merkt (2001), S.234; kritisch Hopt (1993), S.546.

121

nur nicht einen Teil von Aktionären gegenüber einem anderen Teil benachteiligen, ohne dass die entsprechende Maßnahme durch die vom Vorstand maßgeblich zu berücksichtigen Interessen sachlich gerechtfertigt wäre.584 In Anbetracht der Tat-sache, dass sich die Interessen von Bieter und Angebotsempfängern stark unter-scheiden können, bedarf es bei der Begründung der Neutralitäts- und Stillhalte-pflicht mit dem Geleichbehandlungsgebot im Hinblick auf die Frage, wann eine Ungleichbehandlung geboten ist, besonderer Konkretisierungsbemühungen.585 Das Gleichbehandlungsgebot lässt letztlich nur den Schluss zu, das bestimmte Verhaltensweisen gegenüber einem Übernahmeangebot angesichts der unter-schiedlichen Zielsetzungen des Bieters einerseits und der Angebotsempfänger andererseits sachlich gerechtfertigt sein müssen.586 Eine strikte Neutralitäts- und Sillhaltepflicht lässt sich aus dem Gleichbehandlungsgebot indes nicht ableiten.

6.1.2.2.5 Kapitalmarkrechtliche Begründungsansätze

Vor Inkrafttreten des WpÜG wurde eine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht des Vorstands auch unter Verweis auf ein kapitalmarktrechtlich begründetes Gleich-behandlungsgebot gefordert.587 Ein solches kapitalmarktrechtliches Gleichbehand-lungsgebot ergebe sich bereits aus dem Verfassungsrecht (Art. 3 GG), sei dem kartellrechtlichen Diskriminierungsverbot hinreichend bekannt und gehöre mitt-lerweile schlechthin zum internationalen Standard.588 Weil eine Argumentation auf der Grundlage des aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgebotes in den Fällen Schwierigkeiten bereitet, in denen der Bieter nicht an dem Zielunternehmen betei-ligt ist, solle die Gleichbehandlungspflicht als kapitalmarktrechtliches Verhaltens-gebot verstanden werden, da auch die Anleger auf dem Kapitalmarkt darauf ver-trauen, gleich behandelt zu werden. Der Kapitalmarkt könne wiederum nur effizient arbeiten, wenn das langfristige Vertrauen der Anleger nicht enttäuscht wird, da ansonsten die Gefahr bestehe, dass sich die Anleger von dem Kapital-markt zurückziehen.589 Jedoch wird einem aus kapitalmarktrechtlichen Grundsät-zen hergeleiteten Gleichbehandlungsgebot zum Teil entgegengehalten, dass eine

584 Vgl. BGHZ 33, 175 (181); BGHZ 70, 117 (121); Hüffer (2008), § 53a Rn.3; KöKoAktG-Lutter/Zöllner, § 53a Rn.13; Nussbaum (2003), S.75f.

585 Vgl. Hopt (1993), S.546; Nussbaum (2003), S.76.

586 Vgl. Nussbaum (2003), S.76.

587 Vgl. Birke (2006), S.87; Hopt (1993), S.546; Hopt (1997), S.376f.

588 Vgl. Hopt (1997), S.376 und S.411; Reul (1991b), S.1ff.

589 Vgl. Dimke/Heiser (2001), S.252; Dimke (2007), S.476; GroKoAktG-Assmann, Einl. Rn.356;

Möllers (1999), S.434; Schwark (1985), S.10 (1992).

122

ungleiche Behandlung verschiedener Aktionäre effizienzsteigernde Übernahmen fördere und deshalb die Allokationswirkung des Kapitalmarkts verstärke.590

Ebenfalls aus kapitalmarktrechtlicher Perspektive wird für eine Neutralitäts- und Stillhaltepflicht argumentiert, bei Übernahmeangeboten handle es sich um Ge-schäfte, die nicht auf der Unternehmensebene sondern auf der Ebene der Aktionä-re stattfänden.591 Deshalb fiele das Übernahmeangebot nicht in den Geschäftsfüh-rungsbereich des Vorstands und er dürfe folglich, zumindest gegen den Willen der Aktionäre, auf das Übernahmeverfahren nicht oder nur beschränkt Einfluss neh-men. Dieser Ansatz stellt folglich nicht auf den Aktionär als Inhaber mitglied-schaftlicher Rechte, sondern auf dessen Rolle als Kapitalmarktteilnehmer ab.592 Diesem darf die Möglichkeit nicht genommen werden, über die Annahme des an ihn gerichteten Angebots entscheiden zu können.

Beide Ansätze begegnen jedoch den gleichen Bedenken hinsichtlich der Ver-pflichtung des Vorstands auf das Unternehmensinteresse sowie der möglichen Vorteilhaftigkeit von Maßnahmen des Vorstands für die Anteilseigner, die bereits im Rahmen der zuvor dargestellten Begründungsansätze diskutiert wurden.593 An diesen Einwänden ändert auch die Tatsache nichts, dass den kapitalmarktrechtli-chen Argumentationsansätzen folgend, die Neutralitäts- und Stillhaltepflicht ihre Begründung eben nicht im Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, sondern im Kapitalmarktrecht findet und sie damit gegen unternehmens- und gesellschafts-rechtlich Einwände resistent seien. Denn eine kapitalmarktgesellschafts-rechtliche Begründung bedeutet noch nicht, dass die unternehmens- und gesellschaftsrechtlichen Prinzi-pien von den kapitalmarktrechtlichen verdrängt werden.

6.1.2.3 Stellungnahme

Wie aus den vorangegangenen Darstellungen ersichtlich wird, bereitet es bereits Probleme, die Pflichtenstellung des Vorstands in einer Aktiengesellschaft unab-hängig von einem möglichen Übernahmeszenario zu definieren. Ebenfalls prob-lematisch ist die dogmatische Begründung einer möglichen Neutralitäts- und Stillhaltepflicht nach unternehmens- und gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen.

590 Vgl. Easterbrook/Fischel (1981), S.1161; Easterbrook/Fischel (1982b), S.698ff.; hierzu auch Dimke (2007), S.477f.

591 Vgl. Ebenroth/Daum (1991), S.1158; Meier-Reimer (2001), S.260; Michalski (1997), S.159;

Wackerbarth (2001), S.1744.

592 Vgl. Ulbricht (2006), S.35.

593 Kritisch zu dem kapitalmarktrechtlichen Begründungsansatz auch Ulbricht (2006), S.35.

123

Gelangt man zu dem Schluss, dass der Vorstand nicht ausschließlich den Interes-sen der Anteilseigner verpflichtet ist, sondern daneben zumindest auch die gege-benenfalls nachrangigen Interessen der übrigen Stakeholder zu berücksichtigen hat, so gerät die Pflichtenstellung des Vorstands in einen Konflikt mit der Forde-rung nach einer strikten Neutralitäts- und Stillhaltepflicht während des Übernah-meverfahrens. Es konnte gezeigt werden, dass dieser Konflikt unabhängig von der dogmatischen Herleitung der Neutralitäts- und Stillhaltepflicht besteht. Aus-schlaggebend für diesen Konflikt ist aus unternehmens- und gesellschaftsrechtli-cher Perspektive, dass die Berücksichtigung des umfassenden Unternehmensinte-resses aber bei der Annahme einer strikten Neutralitäts- und Stillhaltepflicht nicht möglich ist. Dieses Problem kann jedoch auch dann nicht gänzlich beseitigt wer-den, wenn der Ansicht gefolgt wird, der Vorstand sei allein den Interessen der Anteilseigner verpflichtet. Denn ein Tätigwerden des Vorstands im Übernahme-verfahren kann in bestimmten Fällen durchaus im Interesse der Anteilseigner lie-gen. So können Verteidigungsmaßnahmen geeignet sein, den Unternehmenswert zu steigern oder den Bieter zu der Zahlung einer höheren Kontrollprämie zu ver-anlassen.594 Zudem beeinträchtigt eine strikte Neutralitäts- und Stillhaltepflicht das Zielunternehmen unangemessen in seiner Geschäftstätigkeit, und bei längeren Übernahmekämpfen besteht die Gefahr, dass das Zielunternehmen infolgedessen erhebliche finanzielle Verluste erleidet.595 Dies betrifft in erster Linie die Interes-sen der Aktionäre, jedoch auch die übrigen InteresInteres-sensgruppen. Schließlich be-steht die Gefahr, dass die, infolge einer Neutralitäts- und Stillhaltepflicht und dem Problemen der kollektiven Entscheidung entstehende Kompetenzlücke hinsicht-lich der Entscheidung über das Ergreifen von Verteidigungsmaßnahmen von dem Bieter strategisch zulasten aller Stakeholder ausgenutzt wird.596 Insbesondere im Hinblick auf die Interessen der übrigen Stakeholder ist zudem zu berücksichtigen, dass diese im Gegensatz zu den Shareholdern kein vergleichbar einfaches Aus-trittsrecht aus dem Unternehmen haben.597 Demzufolge kann der Umstand, dass die Interessen der übrigen Stakeholder im Übernahmeverfahren durch die Neutra-litäts- und Stillhaltepflicht des Vorstands nicht berücksichtigt werden, auch nicht durch eine entsprechend günstige Ausgestaltung der Abwanderungsmöglichkeiten über den Kapitalmarkt kompensiert werden.

Erkennt man die Interessen der unterschiedlichen Interessensgruppen an und for-dert gleichzeitig eine strikte oder grundsätzliche Neutralitäts- und Stillhaltepflicht,

594 Vgl. Gliederungspunkte 4.1.3 und 7.1.2.1.

595 Vgl. Kirchner (2000b), S.1835; Kirchner (2002), S.53 und S.55; Mühle (2002), S.283.

596 Vgl. Coppik (2007), S.252; Kirchner (1999), S.487; Kirchner (2000b), S.1824.

597 Vgl. Kirchner (1999), S.487.

124

so stellt sich aus unternehmens- und gesellschaftsrechtlicher Perspektive die Fra-ge, wie die Kompetenzlücke, die aufseiten des Vorstands entsteht, geschlossen werden kann, damit zum einen die entsprechenden Interessen auch im Übernah-meverfahren Berücksichtigung finden und zum anderen die Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Zielunternehmens während des Übernahmeverfahrens si-chergestellt wird. Die Regelungen zu den Verhaltenspflichten müssen folglich so ausgestaltet sein, dass die Aktionäre des Zielunternehmens sowohl vor der Beein-trächtigung ihres eigenen Vorstands als auch vor der Ausbeutung durch das Bie-terunternehmen geschützt werden,598 und gleichzeitig das Unternehmensinteresse unter Berücksichtigung anderer Fremdinteressen gewahrt bleibt. Unternehmens- und gesellschaftsrechtliche Überlegungen zu den Verhaltenspflichten des Vor-stands bei öffentlichen Übernahmeangeboten müssen sich in Anbetracht der über-nahmespezifischen Interessenskonflikte mit funktionalen Fragen auseinanderset-zen, mit dem Ziel, eine wirtschaftlich tragfähige Unternehmensorganisation auch während des Übernahmeverfahrens zu gewährleisten.599