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Archiv "Arztgeschichten: Stopp in der Stratosphäre" (24.06.2005)

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V A R I A

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A1828 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 25⏐⏐24. Juni 2005

E

ine ärztliche, noch dazu ei- ne urologische Untersu- chung in 10 000 Metern Höhe, wenn mir das einer im Studium vorausgesagt hätte, ich hätte ihn für verrückt er- klärt. Aber auf dem letzten Flug von Mallorca nach Düs- seldorf, gerade waren die Re- ste des spartanischen Mittags- snacks abgeräumt, gerade die Plastikkaffeetasse sicher an

den Mund balanciert, [. . .]

draußen märchenhafte Stra- tokumulustürme . . ., da be- ginnt ein Kind zu schreien, nun ja, zunächst leise, dann immer lauter, zu laut zum Ein- nicken, immer intensiver, ver- zweifelter und jetzt mit einem erschöpfenden Schluchzen, das Kind hat etwas, auf jeden Fall mehr als ein „Böckchen“, es leidet ganz unüberhörbar.

Da kam es, was kommen musste: „Ist ein Arzt an Bord?“ . . .

Oh Gott, wenn es das Kind ist, ich bin doch kein Kinder- arzt, also Tauchstation . . . nein, keiner steht auf . . . ich bin of- fensichtlich der einzige . . . also, allen Mut zusammen- reißen und auf geht’s! Die Stewardess führt mich, alle schauen unaufhaltsam in Richtung des schreienden Kindes, da liegt es, völlig er- schöpft auf den Knien des verzweifelten Vaters, nach Atem ringend, Tränen in den Augen, „kein Erbrechen“, er- fahre ich. Bauch weich, zwi- schen zwei Schluchzern zuckt ein kleiner Zeigefinger fahrig über den Unterbauch, also doch der Blinddarm, nein kann nicht sein, nichts passt wirklich, nur über der Blase ist der Bauch deutlich ge- spannt, Dämpfung des Klopf-

schalls unter dem Finger, also:

pralle Blase! „Wann? . . .“

Heute morgen das letzte Mal, hat gebrannt, und wie! Also, Harnverhalt bei Harnwegsin- fekt! Was tun? Behutsam nähere ich mich mit den Zei- gefingerspitzen dem Harn- röhrenausgang und spreize ihn ganz vorsichtig – da plötz- lich eine gewaltige Fontäne, dem verdutzten Vater direkt ins Gesicht, aufs Kissen, Ser- viette drüber, auch die feuch- tet durch, es läuft und läuft wie auf dem Oktoberfest.

Mit sich entleerender Blase und abschwächendem Strahl hört das Kind tatsächlich auf zu schreien, atemlose Stille, . . . der Vater lächelt.

Das Kind weint nicht mehr, es nuckelt sichtlich erleich- tert . . . Geschafft! Stolzer Rückweg. Aber was wäre, wenn Äskulap nicht assistiert hätte? Dr. med. Helmut Förster

Seit 2003 veröffentlicht das Deutsche Ärzteblatt regelmäßig Arztgeschichten – zunächst aus der Literatur, seit Heft 3/2004 vorwiegend Beiträge aus der Leserschaft.

Stopp in der Stratosphäre

L

ebensgeschichten von Pa- tienten haben mich in meiner drei Jahrzehnte währenden Berufserfahrung immer wieder berührt, eine von den unvergessenen möchte ich hier weitergeben.

Als leitender Arzt einer Fachklinik für Onkologie wurde mir zur Visite eine jün- gere Patientin mit Brustkrebs vorgestellt, die apathisch, fahl und zerfurcht im Gesicht, grau und kein bisschen weiblich, misstrauisch auf Distanz be- dacht, in ihrem Zimmer saß.

So wirkte sie um Jahre geal- tert, dennoch unreif, und aus den Daten der Vorstellung voreilig geschlossen, musste sie die Großstadt-Drogensze- ne, vielleicht sogar „die Gos- se“ durchlebt haben. Da war das Vorurteil und sie damit in

„der Schublade“ gelandet.

In ihrer Niedergestimmt- heit scheute sie den Umgang mit anderen Patienten, viel- leicht hatten die sie aber auch

„abgestempelt“ und mochten sie meiden, und die Wege zu den Mahlzeiten ins Restau-

rant fielen ihr schwer. So hat- te das Team eine Aufgabe, hier galt es „Wiederherstel- lung“ zu leisten. Schrittweise schmolz die Distanz, und je öfter und länger ich in dieses lebens-gezeichnete Gesicht schauen konnte, umso jünger und reifer wurde es.

Sie öffnete sich, und es reizte mich, mit ihr zu arbei- ten. Farbe kam auf ihre Per- son und in ihren Raum. Mosa- iksteinchen gleich vertraute sie mir aus ihrem Leben an.

So entstand das Bild einer ganz schlichten, doch sehr dif- ferenzierten und lebenser- fahrenen Frau. Sie kam aus ihrer Isolation heraus, die Schritte ins Restaurant wur- den immer größer. Sie lebte mit Krebs.

Übers Jahr kam sie wie- der, wir freuten uns beide.

Sie schien mir „gewachsen“, das Vertrautsein wuchs. Sie hatte angefangen zu malen und zu schreiben, Märchen.

Ich fand diese beeindruk- kend, machte ihr Mut, die Mär- chen den Mitpatienten vorzu-

lesen. Nachdem ich das Erste vorgetragen hatte, vermochte sie „Märchenstunde“ zu hal- ten und ihre Mitpatienten zu erreichen, die begegneten ihr seither mit Achtung. [. . .]

Früh in ihrem Leben war der Mangel an Halt erkenn- bar, die Suche nach Lebensin- halten. Für die zwei gebore- nen Kinder, mit denen sie al- lein blieb, gab es Väter. Der Sohn, mehrfach behindert, beanspruchte ihre ganze Kraft. Dennoch hatte sie Lie- be für die Tochter, und die ging ihren Weg mit hoher so- zialer Kompetenz.

Ihre Brustkrebserkrankung schritt fort, Behandlungen und Krankenhausaufenthalte, die ihr zu schaffen machten, waren notwendig. Sie hatte noch stundenweise gearbei- tet; es fiel ihr schwer, vom

„Sozialfall zum Rentenemp- fänger“ zu werden. Wir konn- ten darüber sprechen, dass sie sterben müsse, aber natürlich hoffte sie und verfasste Mär- chen und malte. Im Eigen- verlag erschienen handge- schriebene und illustrierte Märchenbücher, jedes ein Unikat, ich konnte ihren Wert ermessen. Hätte sie doch ei-

nen Verlag finden können. Sie schenkte mir ihre Urschrift.

Inzwischen hatte ich aus- scheiden müssen, die angese- hene, unternehmerische Öko- nomie hatte über Moral und Menschlichkeit gesiegt, sie hielt an mir als Mensch fest.

Ich hatte erfahren dürfen:

Die Furchen in ihrem Ge- sicht waren Narben, Miss- brauch in der Jugend, Un- recht und Abbrüche in ihrer Entwicklung hatten sie ge- formt; nach Jahren der Sor- gen war der Sohn dennoch gestorben. Je vollkommener mein Bild von ihr, desto größer wurde mein Respekt, umso mehr schämte ich mich meiner ersten Einschätzung.

Über viele Kilometer hinweg blieben wir verbunden, ich bestärkte sie in einem Ster- ben zu Hause – liebe Men- schen haben es ihr ermög- licht. Die Familie rief mich an ihr Bett. Ihr gelber Körper lag ohne jegliche Regung in großem Frieden. Ich küsste ihre kaltschweißige Stirn und nahm in Ehrfurcht Abschied.

Ich bin sicher, sie hat es ge- spürt.Ausgezehrt verstarb sie.

Mehr als ihr Märchenbuch lebt fort. Dr. med. Klaus Günzel

Lebens-Zeichen

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