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Archiv "Arztgeschichten: Die Kälte" (27.05.2005)

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Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 2127. Mai 2005 AA1535

J

emand öffnete die Tür, und die ganze weiße Visiten- traube aus Chef, Oberarzt, Assistenten und Stations- schwester betrat den Raum.

Es war ein Zweibettzimmer, modern eingerichtet mit eige- ner Toilette, Waschgelegen- heit und einem Fenster, das ei- nigen Ausblick zum Himmel und über die Dächer der Kli- nikgebäude bot. Es ging nach Nordwesten, sodass Sonne al- lenfalls am Spätnachmittag hier hereinfallen würde, viel- leicht wurde sie auch durch den anderen Gebäudeflügel verdeckt, dann läge der Raum immer im kühlen Schatten – aber so ganz genau weiß ich das nicht mehr.

Der junge Mann im Bett gleich an der Tür mochte gera- de an die 30 Jahre alt sein, und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wenn er mir auf der Straße herumlaufend begegnet wäre, anstatt hier im Klinikbett zu liegen – wie schwer krank er wirklich war, hätte ich nicht einmal vermutet. Wir standen um das Bett herum, der Chef fragte nach seinem Befinden, man betrachtete den Bauch des jungen Mannes, tastete, sah sich an, fragte nach Schmerzen.

Alles schienen wir ganz gut im Griff zu haben, alles – nur nicht das eine, das, was doch so wich- tig war.

Der junge Mann sah seinen Bauch nicht an. Er fasste ihn

auch nicht an. Mit Augen voll Angst starrte er an die Decke, blickte auf die Ärzte, sprach wenig. Er reckte sich etwas nach oben, weg von dem Bauch. Dieser Bauch, der ganz sicher nicht seiner war, der un- möglich etwas mit ihm zu tun haben konnte, der Bauch, der Verräter, der dieses „Etwas“

enthielt, dieses „Es“ nährte, was da wuchs und wuchs – nein, das konnte nicht zu ihm gehören. Das, was da schmerz- te,wenn die Morphin-Wirkung nachließ, was etwas störte beim Gehen und bei der Ver- dauung, nein, das war etwas gänzlich Fremdes. Unversteh- bar und bedrohlich hatte die- ses Fremde Besitz von seinem Bauch ergriffen, und er wusste, dass es ihn töten würde. – Wie lange noch? [. . .]

Und dann, an einem Nach- mittag, war plötzlich seine Mutter auf der Station er- schienen, um ihn zu besu- chen. Sie hatte sein Zimmer gerade verlassen, oder war sie noch auf dem Weg hinein?

Sicher erinnere ich mich an die Kälte. Die Kälte, die von ihr ausging, sie umgab wie eine

eisige Wand. So eisig, dass mir jegliches Frieren und Frösteln auf Anhieb verging. In dieser Kälte war kein Platz für die ge- ringste Bewegung, die Linde- rung versprochen hätte.

Unwillkürlich blieb ich auf Distanz und hörte, wie sie sagte (und es war ein Befehl und eine Feststellung, der niemand zu widersprechen hatte): „Er hat alles immer mit Würde und sehr gut ge- macht. Er wird auch das sehr gut machen.“

Ich stand noch wie betäubt, da hörte ich, dass der Patient nach dem Oberarzt verlangte.

Als der wenig später das Zim- mer wieder verließ, wirkte er etwas ratlos und traurig. Er müsse das mit dem Chef be- sprechen. Der junge Mann habe verlangt, dass man ihn für den Rest seines Lebens mit Morphium in einen Dau- erschlaf versetzen solle.

Ach, er will also nichts mehr mitbekommen, kein Bewusstsein mehr haben müssen, nur noch Träume. Ich spürte, wie langsam die Kälte meinen Rücken hochkroch, ich fröstelte. Elisabeth Krandick

Seit 2003 veröffentlicht das Deutsche Ärzteblatt regelmäßig Arztgeschichten – zunächst aus der Literatur, seit Heft 3/2004 vorwiegend Beiträge aus der Leserschaft.

Die Kälte

D

ie Zeitung berichtete heute wieder einmal:

Deutschland hat die niedrigste Geburtenrate in Europa. Die Bevölkerungspy- ramide, sah ich, war längst kei- ne Pyramide mehr, kein stol- zer Lebensbaum in Form ei- ner stattlichen Fichte, sondern ein Gebilde, das zu einer Pilz- form degeneriert war. [. . .]

Die Sonne stand tief, aber sie sandte noch warme Strahlen auf die Erde. Meine Gedan- ken wanderten zurück, weit zurück, in die Sprechstunden meiner allerersten Jahre als Hausärztin, und ich erinnerte mich an ein Erlebnis . . .

„Die Frau“, die als nächste aufgerufen wurde, hatte hohe Wangenknochen und ein schmales Gesicht. Sie wirkte vorgealtert. Fünfzig, taxierte ich. Aber ich sollte mich irren.

Arbeiterin war sie, in der alten Limonadenfabrik, die damals noch existierte. Zögernd be- richtete sie mir ihr Problem.

Ja, die Verdachtsmomente waren nicht von der Hand zu weisen. Sie verdichteten sich von Wort zu Wort mehr. Ich untersuchte die Frau gründ- lich. Tatsächlich, sie war schwanger. Deutlich war der Befund tastbar. Ich teilte ihr meine Diagnose mit. Dabei hatte ich das Gefühl, sie wuss- te genau, was kam.

„Je oller, je döller, Fru Doktor’n . . .“, erwidert die 45-Jährige verlegen lächelnd auf meine Eröffnung, die sie natürlich längst geahnt hatte.

„Das wie vielte Kind ist es denn?“ fragte ich vorsichtig.

„Das neunte . . .“, sagte sie, und mir kam es vor, als klang es fast ein wenig stolz.

Dennoch erschrak ich.

Neun Kinder und berufstätig!

Ehemann Hafenarbeiter. Klei- ne Wohnung am Hafen.

Unwillkürlich schob ich meinen Sessel etwas zurück.

Jetzt wird sie gleich einsetzen, dachte ich, die Flut der Kla- gen, die Gründe für einen An- trag auf Schwangerschaftsab- bruch, soziale, medizinische Gründe. Denn damals, vor 1972, war hierzulande ein legaler Schwangerschaftsab- bruch nicht möglich. Erst musste die Schwangere vor einer Kommission ihre sozialen und gesundheitlichen Gründe darlegen, erklären, begründen.

Dann entschieden die Mitglie- der der Kommission, Ärzte, über den Antrag auf Abbruch der Schwangerschaft.

Ich überlegte kurz. Natür- lich hatte sie gute Chancen, diese Zustimmung der Kom- mission zu erhalten. Acht Kin- der, ihr beeinträchtigter kör- perlicher Zustand, ihre soziale

Lage, ihre finanzielle Situation . . . Doch, das hätte schon Aus- sicht auf Erfolg . . ., sann ich.

Was würde sie tun? „Ja, und nun . . .?“ fragte ich und streifte das verhärmte Ge- sicht der Patientin mit einem vorsichtigen Blick.

Sie setzt sich straffer hin.

„Ach, Fru Doktor’n“, sagte sie und holte tief Luft: „Wo achte satt werden, wird auch das Neunte noch satt!“ Sie lächelte wieder, ein sanftes Lächeln, das den herben Ge- sichtszügen einen seltsamen Reiz verlieh.

„Donnerwetter!“ dachte ich und spürte so etwas wie Hochachtung vor dieser ein- fachen mütterlichen Frau.

Übrigens, sie gebar wenige Monate später einen gesun- den, kräftigen Jungen. Er ist heute ein tüchtiger,angesehener Handwerker. Ich faltete mei- ne Zeitung zusammen. Noch schien die Sonne, warm und golden.Dr. med. Annerose Schulz

Das Neunte

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