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Archiv "Die Asymmetrie im Arzt-Patienten-Verhältnis bei der Visite" (09.04.1987)

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(1)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Merkmale der

patientenorientierten Arztgruppe:

■ Aufnahme des direkten Kontaktes zum Patienten bei Beginn der Visite;

■ variabler individueller In- teraktionskontakt während der gesamten Visite;

■ weitgehende Symmetrie in den verbalen Arztreaktio- nen sowie im Arzt-Patien- ten-Redeverhältnis;

■ kurzfristige Identifizierung mit dem Kranken;

■ Erzielung einer weitgehend entspannten, offenen und herzlichen Visitenatmo- sphäre.

Merkmale

der organzentrierten Arztgruppe:

■ Vielfacher Beginn der Visi- te mit klinischer Informa- tion vor persönlicher Kon- taktaufnahme mit dem Pa- tienten;

■ meist schematisierter, ste- reotyper Visitenverlauf;

■ verschiedenartige Asym- metrien in den Verbalhand- lungen;

■ Organzentriertheit und Mangel an Einfühlungsver- mögen;

■ Aufbau diverser Abwehr- mechanismen bei Wunsch- reaktionen seitens des Pa- tienten.

Die Asymmetrie

im Arzt-Patienten-Verhältnis bei der Visite

Wolfgang A. Stunder

D

ie Interaktion zwischen Arzt und Patient bei der Visite wird in ihrer Bedeutsamkeit hin- sichtlich der Form, den gegenseitigen Erwartungen von Ärz- ten wie Patienten sowie hinsichtlich vorhandener Einstellungsmuster und deren Einfluß auf die Arzt-Pa- tienten-Beziehung zunehmend er- kannt. Andererseits werden in der Öffentlichkeit mehr und mehr Stim- men laut, die das sanktionierte, tra- ditionelle Arzt-Patienten-Verhältnis kritisieren und es als unangemessen für den Umgang mit dem heutigen mündigen Patienten bezeichnen.

In einer Felduntersuchung an verschiedenen Kliniken der Bundes- republik Deutschland wurden An- satzpunkte entwickelt, die in relati- ver Breite verbale Kommunikations- prozesse und Interaktionsmuster bei der täglichen Routinevisite (per Tonband) beobachteten und diese systematisch beschreiben ließen.

Die beteiligten Ärzte waren zwar über den technischen Ablauf der Untersuchung informiert, nicht aber über den Inhalt, so daß ohne Einfluß der Kenntnisse über Ziel und Zweck der Studie eine möglichst natürliche und alltägliche Visitenatmosphäre erreicht werden konnte. Ein mit dem Stationsarzt anschließend durchgeführtes Interview sowie fünf per Zufall ausgewählte Patienten (ausgenommen Schwerkranke und Ausländer) ergänzten die Ergebnis- se der visitären Beobachtung.

Die Feldstudie umfaßte 360 Arzt-Patienten-Kontakte.

Wenn auch die Untersuchung vorwiegend in gynäkologischen Ab-

teilungen erfolgte, so können die Ergebnisse leicht verallgemeinert werden.

Die Auswertung erfolgte a) nach der Interaktionsprozeßana- lyse nach Bales (12stufiges Katego- riensystem),

b) in der Analyse der Interaktions- sequenzen zur Darstellung von In- teraktionsabläufen,

c) in der Auswertung der Arzt- wie Patienteninterviews nach kontent- analytischen Prinzipien sowie d) in der Einschätzung der Ärzte mittels eines Polaritätsprofils.

Hieraus ließen sich drei Arzt- gruppen spezifizieren:

1. eine patientenorientierte Gruppe (20 Prozent des Gesamtkollektivs), 2. eine organzentrierte Gruppe (40 Prozent) und

3. eine neutrale Gruppe (40 Pro- zent), die weder der einen noch ein- deutig der anderen Arztgruppe zu- zuordnen war. Hierbei äußerte sich das Arztverhalten von Überkorrekt- heit mit deutlich anankastischen An- teilen bis hin zur unkomplizierten Heiterkeit mit Überspielung von Unsicherheit und Desinteresse. >

Dt. Ärztebl. 84, Heft 15, 9. April 1987 (53) A-985

(2)

Die am häufigsten beobachteten Interaktionsmuster waren die von Siegrist (1972) beschriebenen vier Typen asymmetrischer Verbalhand- lung wie „Adressaten- und Themen- wechsel, funktionale Unsicherheit und Beziehungskommentar". Wei- tere in diesem Zusammenhang fest- gestellte Reaktionstypen sind: Das Nicht-zu-Wort-kommen-lassen, der gezielte Wortabbruch, Zynismus, Ironie ( „unser Angsthäschen"), Verbalinjurien ( „ja , ja, Sie , gell, das wissen Sie nicht! ") , Imitieren, Suggestionen, Stereotypien, ober- flächlich klingender Zuspruch, Iden- tifizierung des Patienten mit seiner klinischen Diagnose (wie zum Bei- spiel „Frau B., eine Bartholinische Zyste"), außerdem Floskeln ( „na prima"), Füllwörter ( „gut" , „al- so", „nich", „schön") und trivial- legere Formulierungen ( „Sie haben was gefummelt" oder „Das Ge- schirr [gemeint sind Infusionen] jetzt weg da").

In den Arztinterviews zeigte sich bei den meisten organzentrier- ten Ärzten eine deutliche Diskre- panz zwischen den als wünschens- wert und notwendig zu erachtenden Verhaltensweisen und dem tatsäch- lichen Verhalten des jeweiligen Arz- tes bei der Visite.

Zwangsläufig war die normaler- weise triadische Beziehung zwischen Arzt — Patient — Schwester hier ge- stört. Statt ein Gespräch mit dem Kranken zu führen, erschien das fachliche Gespräch über den Patien- ten dem einen oder anderen Kolle- gen wichtiger. So konnte die zuwei- len als „Routinekram" dargestellte Visite schneller durchgeführt wer- den.

Die

Patientenstruktur

Drei Verhaltenstypen sind zu unterscheiden:

Typ A: der regressiv-angepaßte Pa- tient,

Typ B: der resignativ-passive Pa- tient,

Typ C: der autonom-aktive Patient.

Die Mehrzahl der Patienten schien überaus angepaßt an die Si- tuation einer Krankenstation (Typ A). Vordergründig äußerten sie meist Zufriedenheit mit der Thera- pie und Information des Arztes. 14 Prozent meinten, es würde zuviel

„Latein" gesprochen, und nur 3 Prozent bezeichneten die Ärzte als

„kühl und abweisend". Ältere Pa- tienten zogen eher die Sympathie der Schwestern und Ärzte auf sich, da sie ohne weitergehende Fragen oder Bemerkungen die Visite über sich ergehen ließen (Typ B). Jünge- re Kranke (bis 35jährige) verhielten sich hingegen eher offen und kritisch (Typ C).

Diese relativ kleine, autonom- aktive Gruppe verfolgte rege das Vi- sitengeschehen, fragte viel, war angstlos und wenig sensibel. Je nach Arztstruktur wurden diese bei den Schwestern eher unbeliebten Patien- ten entweder akzeptiert, attackiert, oder die Ärzte zogen sich in Hilflo- sigkeit zurück wie etwa: „Was sollen wir denn jetzt machen?".

Aus den Gesprächen mit den Patienten über die sie visitierenden Ärzte ergab sich, daß etwa 30 Pro- zent so stark gehemmt waren, daß sie ihre Fragen nicht loswerden konnten oder sie in der Aufregung vergessen hatten.

Klagen und

Forderungen der Patienten

an die .Ärzte

1. Detailliertere Informatio- nen des Arztes über den Gesundheitszustand des Patienten;

2. Taktvoll psychologische Mitteilung von Informatio- nen;

3. Übereinstimmende Infor- mationsgabe verschiedener Ärzte an den gleichen Pa- tienten;

4. Nur eine ärztliche Bezugs- person während der Hospi- talisierung ;

5. Gezielteres Eingehen auf den Patienten;

6. Abbau der „Übermacht"

Arzt;

7. Längere Visitenzeiten.

Allgemein orien- tierende Ergebnisse der Studie

1

Ärzte bezeichneten das Inter- aktionsgeschehen immer dann als angenehm, wenn sie die Feststel- lung treffen konnten, daß es dem Patienten innerhalb des Gesun- dungsprozesses besser ging, weil der gesundheitliche Fortschritt entweder ihrer ärztlichen Kunst zuzuschreiben war oder weil sich bestimmte Schwierigkeiten unbeeinflußt äuße- rer Umstände von selbst gelöst hat- ten.

2

Ärzte bezeichneten umgekehrt immer jene Situationen als un- angenehm, in denen sie diagno- stisch, organ- oder gesprächsthera- peutisch nicht wesentlich weiterka- men und somit ihrer fachlichen Grenzen gewahr wurden.

3

Die menschliche Interaktion zwischen schwerkranken Pa- tienten und den meisten Ärzten war erheblich gestört. Eine Symmetrie war lediglich im Bereich therapeuti- scher Maßnahmen zu beobachteri.

In bezug auf Kommunikation und prognostische Fragen erwiesen sich die meisten Ärzte als hilflos und ver- suchten, solche Situationen zu ver- meiden.

4

Die Länge der Visitendauer so- wie eine hohe Arztredezeit mußten nicht zwangsläufig bedeu- ten, daß dem Patienten auch tat- sächlich mehr an Information über die Krankheit und den damit ver- bundenen Komplikationen zukam. D A-986 (54) Dt. Ärztebl. 84, Heft 15, 9. April 1987

(3)

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

NOTIZEN

Zwei Nobelpreise für Elektronen

Zu dem Editorial von Professor Dr. rer. nat. Bernhard Mühlschlegel in Heft 9/1987

5

Die Sensitivität, daß Mißver- stehen des Arztes und das Un- verständnis medizinischer Ausdrük- ke waren bei ängstlichen Patienten erhöht. Je bildreicher und einfacher sich die Aufklärung gestaltete, desto eher wurde die Information verar- beitet und desto größer waren Aus- geglichenheit und Zufriedenheit des Patienten.

6

Tonlage und Tonfall beim Sprechen hatten ebenso wie die bedenkliche Mimik einen erheb- lichen Einfluß auf die Reaktion und die Stimmung des Patienten. Je wär- mer die Stimme des Arztes klang, desto freundlicher und vertrauter wurde der Arzt empfunden, so daß selbst genaueste Anleitungen als wohlwollender Rat angenommen wurden.

7

Eine persönliche From nonver- baler Begegnung bestand im Händeschütteln. Die Visite verlief kommunikativer, wenn der Arzt beim Betreten des Krankenzimmers zielgerichtet und lächelnd auf den Patienten zuging und ihn namentlich per Handschlag begrüßte.

8

Je weiter sich ein Arzt in seiner Fachausbildung befand, desto therapeutisch sicherer und routinier- ter wirkte er, der persönliche Bezug zum Patienten aber wurde damit eher distanzierter.

Literatur

1. Bales, R. F.: Interaktionsprozeßanalyse, 1951, in:

König, R. (Hrsg.): Handbuch der empirischen So- zialforschung. Enke, Bd. I, Stuttgart 1962 2. Engelhardt, K.; Wirth, A.; Kindermann, L.: Kran-

ke im Krankenhaus. Enke Verlag, Stuttgart, 1973 3. Siegrist, J.: Asymmetrische Kommunikation bei

klinischen Visiten. Med. Klinik 71 (1972) 1962-1966

4. Siegrist, J.: Arbeit und Interaktion im Kranken- haus. Enke Verlag, Stuttgart, 1978

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Wolfgang A. Stunder Bannstein 9

7615 Zell am Harmersbach

Eine Schülerin — aber auch ein Augenarzt haben einen Lapsus in dem Artikel erkannt . Blaues Licht wird natürlich mehr gebrochen als rotes. Eine erfreuliche Leser-Autor- Wechselwirkung wird sicher von den Herausgebern begrüßt werden. Des- halb macht mir mein „Schnitzer" ei- gentlich kein schlechtes Gewissen.

Nachtrag

Im Abschnitt „Elektronenstrah- len ersetzen Lichtstrahlen" wird zum Schluß gesagt, daß es kein Röntgenmikroskop im herkömm- lichen Sinne (das heißt mit Glaslin- sen) gibt, weil die Brechkraft zu kür- zeren Wellen hin rapide abnimmt Ich bin aufmerksamen Lesern für den Hinweis dankbar, daß diese Ar- gumentation korrigiert werden muß.

Für lichtdurchlässige Materie nimmt die Brechkraft vom roten zum blau- en nicht ab, sondern steigt i. a. an.

Diese normale Dispersion ist sozusa- gen ein Vorbote der Absorption im UV. Jenseits der UV-Absorption bei noch kürzeren Wellenlängen gibt

AIDS-Broschüre mit Glossar

Im Rahmen der Fernstudien der Universität Tübingen ist von Dr.

Frey, Privatdozent Dr. Abb und Professor Dr. Deinhardt (München) ein 135 Seiten starkes Heft über AIDS erschienen. Bei der Fülle der AIDS-Literatur ist dieses Heft we- gen seiner Anschaulichkeit, seines Glossars und der weiterführenden Literatur bis hin zu Ausführungen über psychosoziale und ähnliche Aspekte von AIDS zur Lektüre be- sonders zu empfehlen.

Es wurde mit Mitteln des Bun- des und der Bundesländer entwik- kelt und steht gegen eine geringe Schutzgebühr auch in höherer Auf- lage zur Verfügung. R. Gross/Köln

es dann allerdings keinen Mechanis- mus, der die Brechkraft noch einmal

„hochreißen" könnte, so daß Rönt- genstrahlen nicht abgelenkt werden.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß man in jüngster Zeit mit künstlich hergestellten Schicht- strukturen (Superlattices) versucht, die „Röntgenoptik" zu verbessern.

Ich benutze die Gelegenheit, noch einmal auf die Elektronen zu- rückzukommen, von denen ich am Ende des Editorials gesagt hatte, daß sie noch für manche Überra- schung gut sein würden. Eine solche Überraschung hat es gerade gege- ben, als bekannt wurde, daß metalli- sche Supraleitung bei fast fünfmal höheren Temperaturen als bisher möglich ist. Die Auswirkungen die- ser dramatischen Entdeckung sind noch gar nicht abzusehen.

Professor Dr. rer. nat.

Bernhard Mühlschlegel Institut für theoretische Physik der Universität Zülpicher Straße 77 5000 Köln 41

111.11;111!IfilliT.

Polytrauma:

An prophylaktische Frühbeatmung denken

Zu dem Beitrag von Dr. med. Franz Berghold in Heft 8/1987

Auch wenn der Heimlich-Hand- griff manchmal herrliche Dienste lei- stet, ist das noch kein Grund, diesen nach Heimlich benannten Handgriff in „Herrlich-Handgriff" umzube- nennen. So geschehen in der Legen- de zu Abbildung 6. Der Fehler ist bei der Übertragung entstanden und zu unserem Bedauern in sämtlichen Korrekturgängen unbemerkt geblie- ben. MWR A-988 (56) Dt. Ärztebl. 84, Heft 15, 9. April 1987

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