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Archiv "Arzt-Patienten-Verhältnis: Die Melancholie des Psychiaters" (04.02.2011)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 108

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Heft 5

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4. Februar 2011 A 235 ARZT-PATIENTEN-VERHÄLTNIS

Die Melancholie des Psychiaters

Über die Gemeinsamkeiten von Lastwagen und Klinikbetten

A

ls Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut spüre ich derzeit eine Zudringlichkeit von Zahlen, Daten und Formalismen, die mich immer weiter von meinem originären Auftrag – der Patienten- behandlung – entfernen. Es ist wie eine düstere Heimsuchung, die uns unter Kürzeln wie DRG, OPS, MDK, KTQ oder KIS infiltriert.

Die Sprache des Kaufmanns mit Unworten wie Gesundheitsbranche, Kennzahlen und Prozessoptimie- rung unterminiert die Beziehung zwischen Arzt und Patient.

Hippokrates hatte bereits das Ge- hirn als Ursprungsort geistiger Ver- wirrung und Schwermut erkannt.

Seine damalige Säftelehre wurde vom heute gültigen Ungleichgewicht chemischer Botenstoffe im synapti- schen Spalt abgelöst. Der frühen Vor- stellung, dass Blut, Schleim, schwar- ze und gelbe Galle die Hirnwindun- gen verstopfen oder die Hirnsubstanz austrocknen und unterkühlen, setzt man heute die Dopaminmangelhypo- these, die Hypofrontalität und die empirische Rezeptorforschung ent- gegen. Erhellend sind auch die hoch- auflösenden Bilder vom denkenden und fühlenden Gehirn, die uns die Legitimation für hochwirksame und teure Arznei liefern. So unstrittig und faszinierend dieser Fortschritt auch ist, so verführerisch wirkt er – lenkt er doch von der elementaren Kran- kenbeobachtung ab.

Heutige Facharztanwärter für Psychiatrie können in der Regel besser über die Zellmembran Aus-

kunft geben als über die Besonder- heiten der Arzt-Patienten-Bezie- hung. Im Zuge der ökonomischen Hospitalisierung werden die jungen Ärzte in Schablonen gepresst. Psy- chopathologische Befunde werden nicht mehr ausformuliert, Patienten nicht mehr individuell und plastisch beschrieben. Keine Spur mehr von der literarischen Potenz eines Karl Jaspers oder Eugen Bleuler. Statt- dessen begegnet man im klinischen Alltag vorgefertigten Begrifflich- keiten und Verfahrensanweisungen, die im Ankreuzverfahren abgear- beitet und dann abgelegt werden.

Dort, wo mit unsagbar teuren Geräten ebenso teure Bilder vom Schädelinneren hergestellt werden, fehlt es am Gefühl für den Men- schen. Dem ist es egal, ob er eine temporale Auflichtung oder einen diskreten Verlust grauer Substanz aufweist. Was Patienten sich wün- schen, ist die unmittelbare und ver- trauensvolle Begegnung mit ihrem Arzt, der ihre Sprache spricht und ihnen auf Augenhöhe begegnet. Die Chemie der Beziehung steht über der Chemie der Wirkstoffe.

Die Medizin unserer Tage weckt als Erfahrungswissenschaft immer neue, dem Fortschritt geschuldete Begierden. Während unsere ärztli- chen Vorfahren noch Philosophen, Anatomen, Pädagogen, Alchemis- ten und Therapeuten in einer Person waren, erwerben wir unsere heuti- gen Erfahrungen meist vom Hören- sagen und nicht durch eigene Expe- rimente. Hörensagen meint Fach-

presse, Fortbildung, Leitlinien und nicht zuletzt den enormen Einfluss der Pharmaindustrie. Gerade Letz- tere hat natürlich kein Interesse daran, anthropologische Prinzipien aufleben zu lassen, die wir so drin- gend nötig hätten. Hippokrates brachte das mit seiner ganzheitli- chen Betrachtung auf den Punkt:

„Der Arzt muss wissen, was war, was ist und was sein wird.“ Diesem Konzept folgend gab es für ihn kei- ne Krankheiten, sondern nur kranke Menschen, die er stets in ihrem Le- bensumfeld zu begreifen suchte – eine Selbstverständlichkeit, gerade für den Psychiater, sollte man mei- nen. Ich habe aber den Eindruck, dass die Lebensgeister der Sozial- psychiatrie ermatten und langsam dahinschwinden. Der Melancholi- ker wird zur Transmitter-Mangeler- scheinung und der Schizophrene zum Anhängsel seines verrückten Hirnstoffwechsels. Der Kranken- hausalltag dreht sich heute überwie- gend um sich selbst und besitzt die für jede Administration typische Eigendynamik. Besprechungen, Qua - litätsmanagement und Kodierung – 60 Prozent ihrer Arbeitszeit ver - bringen Ärzte am Monitor. Die Metamorphose des Arztes zum Dienstleister und des Patienten zum Kunden hat begonnen.

Controlling heißt die regelmäßi- ge Veranstaltung, in der Zahlen ver- glichen und bei Missverhältnis Fra- gen gestellt werden. Defizite spie- geln sich im Personalbudget wider.

Hier stehen patientennahe Berufs- Klinikbetten seien

so zu betrachten wie der Fuhrpark einer Spedition, meint ein Verwal-

tungsmitarbeiter:

Die Dieselkosten dürften nicht über dem Erlös für die verbrachte Ladung liegen.

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Foto: picture alliance Foto: vario images

S T A T U S

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A 236 Deutsches Ärzteblatt

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4. Februar 2011 gruppen wie Ärzte und Pflegeper-

sonal im Fokus, wenn diese befris- tete Arbeitsverträge haben. Dazu passt die unbedachte Äußerung ei- nes Verwaltungsmitarbeiters: „Ei- gentlich sind Klinikbetten so zu be- trachten wie der Fuhrpark einer Spedition. Die Lkws verbrauchen Diesel, dessen Aufwand nicht über dem Erlös für die verbrachte La- dung liegen darf.“ Betten als Last-

wagen und Patienten als Ladung unter dem Aspekt der Kosten-Nut- zen-Rechnung. Leider ist diese Auffassung weit verbreitet: Krank- heit und Gesundheit nehmen Wa- rencharakter an, Kliniken als Wa- renhäuser, Kranke als Kunden, und im Zentrum des Ganzen stehen Wertschöpfung und Erlöse. Die Ge- schäftsbeziehung verdirbt aber die so wichtige Vertrauensbasis zwi- schen Ärzten und ihren Patienten.

Dabei liegt die Auflösung des Irr-

tums so nahe: Patienten können nie Kunden sein, denn ihre Not ist immer schicksalhaft. Während der Kunde autonom ist und zwischen den Anbietern wählen kann, ist der Patient, vor allem der psychisch kranke, abhängig und einer Situati- on unterworfen, deren Beginn und Ende nicht frei bestimmbar sind.

Ein kummervoller Tag aus Trübsinn und Angst währt hundert Jahre, wie

uns die Beschreibungen der Melan- choliker lehren.

Professionelle Fürsorge in ih- rem ursprünglichsten und hippo- kratischen Sinn ist heute für das Dasein und Sosein des Arztes lei- der keine Legitimation mehr. Statt- dessen werden Diagnosen klassifi- ziert, Leistungen kodiert und Men- schen „erfasst“. Gemäß OPS führt jetzt auch der Psychiater „Opera- tionen“ durch, um Schadensfälle zu beheben. „Prozeduren“ sollen

Erlöse sichern und „Schlüssel“

sind erforderlich, um alles unter Kontrolle zu behalten. Die Politik will das so.

Was bleibt zu tun, um der Schwarzgalligkeit des Alltags zu entkommen? Hippokrates ver- brachte sein Leben als Arzt auf Wanderschaft, auch heute wandern Ärzte massenhaft aus. Andere wechseln die Seiten und versuchen es ganz ohne Patienten beim MDK oder als Medizincontroller. Sofern anpassungsfähig, sollte der karrie- rebewusste Arzt nebenberuflich ein Studium der Betriebswirtschaft auf- nehmen. Damit erledigt sich auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Dem Rest unserer Zunft sei Fol- gendes gesagt: Sogar die Büchse der Pandora enthielt Hoffnung, und die stirbt bekanntlich zuletzt. Was uns bleibt ist die Gelassenheit im Sinne Senecas als höchste Tugend der Weisheit – oder ein wirksames

Antidepressivum. ■

Dr. med. Jürgen Wettig

Seit dem 1. Januar 2011 sind die Ambulanten Kodierrichtlinien (AKR) in Kraft. Die Kassenärzt- liche Bundesvereinigung (KBV) beantwortet mit dem Kodier-Ratgeber im Deutschen Ärzteblatt praxisrelevante Fragen zum richtigen Kodieren.

Welche Diagnosen sind für die Abrechnung zu kodieren?

Es werden nur Behandlungsdiagnosen kodiert.

Das sind Diagnosen, für die der Arzt im abzu- rechnenden Quartal Leistungen zulasten der GKV erbracht hat. Als „Leistungen“ werden da- bei alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen gefasst, die im Leistungskatalog der GKV enthalten sind. Dazu gehören nicht nur sämtliche EBM-Leistungen von der Unter- suchung bis zum telefonischen Beratungs - gespräch, sondern auch Verordnungen, zum Beispiel von Medikamenten und Heilmitteln.

Nicht übermittelt werden anamnestische Dia - gnosen ohne Leistungsbezug sowie abnorme Befunde ohne weiterführende Diagnostik oder Therapie. Wenn etwa bei einer Sonographie wegen Gallenkoliken als Nebenbefund eine solitäre Nie- renzyste auffällt, die nicht weiter abgeklärt oder behandelt wird, dann ist die Nierenzyste keine Behandlungsdiagnose. Sie wird nicht kodiert.

Ein Patient mit einer akuten Lubo - ischialgie erhält ein nichtsteroidales Antirheumatikum verordnet. Da bei ihm eine chronische Gastritis bekannt ist, wählt der Arzt ein besonders ma- genschonendes Präparat aus. Was ist zu verschlüsseln?

Der Arzt verschlüsselt die Lumboischialgie und die Gastritis. Er therapiert die chronische Gastritis in dem Fall zwar nicht direkt, aber er berücksichtigt bei der Wahl des Medikaments für das Rückenleiden die Empfindlichkeit des Magens. Aus diesem Grund ist die Gastritis ebenfalls eine Behandlungsdiagnose, die der Arzt neben der Lumboischialgie kodiert (mit Zusatzkennzeichen „G“ für die Diagnosen - sicherheit).

Warum ist das Zusatzkennzeichen „G“

besonders wichtig?

Dafür gibt es zwei Gründe: Für die Verteilung des Geldes aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkassen werden aus dem vertragsärztli- chen Bereich nur die Diagnosen mit dem Zu- satzkennzeichen „G“ genutzt. Alle anderen Diagnosen fließen nicht in die Morbiditäts - messung ein. Auch bei der Messung der Ver-

änderungsrate der vertragsärztlichen Vergü- tung spielen nur die gesicherten Diagnosen ei- ne Rolle. Einzige Ausnahme sind die Tumor - diagnosen mit dem Zusatzkennzeichen „Z“, die ebenfalls einfließen. Dennoch wird über die Zusatzkennzeichen der diagnostische Prozess abgebildet, dies bleibt unverändert. Es können also nach wie vor alle Zusatzkennzeichen (Ver- dachtsdiagnose „V“, gesicherte Diagnose „G“, ausgeschlossene Diagnose „A“, Zustand nach

„Z“) verwendet werden.

Wann gilt eine Behandlungsdiagnose als „gesichert“?

Eine Behandlungsdiagnose erhält das Zusatz- kennzeichen „G“, wenn der Arzt die nach den medizinisch-wissenschaftlichen Grundsätzen medizinisch sinnvolle und für den jeweiligen Patienten relevante Diagnostik vorgenommen hat, um auf deren Basis therapieren zu kön- nen. Daran hat sich mit den Kodierrichtlinien nichts geändert. Wichtig: Es muss keine zu- sätzliche Diagnostik gemacht werden, um ei- ne Diagnose kodieren zu können. Die Kodie- rung folgt dem ärztlichen Handeln und nie- mals umgekehrt.

Weitere Informationen: www.kbv.de

KODIER-RATGEBER: BEHANDLUNGSDIAGNOSEN

Die Metamorphose des Arztes zum Dienstleister und des Patienten zum Kunden hat begonnen.

S T A T U S

Referenzen

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