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Archiv "Arzt-Patient-Verhältnis: Professionelle Fürsorge" (29.09.2006)

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A2530 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 39⏐⏐29. September 2006

T H E M E N D E R Z E I T

E

in weiter Bogen ist zu schla- gen vom gestraften Sünder und anonymen Opfer großer Seu- chen über den passiven und geduldi- gen Kranken bis hin zum Bild des mündigen Patienten und „souverä- nen Kunden“ unserer Zeit. Gemein- sames Merkmal aller Epochen ist, dass Handlungs- und Deutungsmu- ster des Phänomens Krankheit zwi- schen Arzt und Patient divergieren.

So unterschied der Medizinso- ziologe Eliot Freidson Anfang der 70er-Jahre zwischen der „Laienkon- struktion“ und der „professionellen Konstruktion“ der Krankheit. Für

Erstere steht die subjektive Befind- lichkeit und das Krankheitserleben im Vordergrund, Letztere basiert im Grundsatz auf objektivierbaren und somit messbaren und normierten Grundlagen. Beide Sichtweisen ha- ben ihre jeweils eigene Berechti- gung – entscheidend ist, dass beide in die Bewertung der Erkrankung einfließen und einander ergänzen.

Gesundheitspolitiker, Verbraucher- schützer und auch die Selbsthilfe se- hen hier Defizite sowohl auf der strukturellen als auch auf der indivi-

duellen Ebene. Bemängelt wird zum einen der fehlende Einfluss des Pati- enten, des Versicherten und des Bür- gers auf Grundsatzentscheidungen im Gesundheitswesen. Zum ande- ren geht vor allem an die Ärzte- schaft der Vorwurf, die Perspektive der Patienten bei der individuellen Begegnung zu vernachlässigen und den Kranken unzureichend in Be- handlungsentscheidungen einzube- ziehen.

Mehr Mitwirkung auf strukturel- ler Ebene im Sinne einer verstärkten

„Bürger- und Patientenorientierung im Gesundheitswesen“ forderte be-

reits in den 90er-Jahren die rot-grü- ne Bundesregierung. Diese Zauber- formel eint inzwischen Parteien und Volksvertreter gleich welcher Cou- leur. Vorreiter dieser Entwicklung war Nordrhein-Westfalen – mit ei- nem Grundsatzpapier zur „Stärkung der Stellung der Bürger und Patien- ten im Gesundheitswesen“ aus dem Jahr 1998. Vereinbart wurde, das Gesundheitswesen stärker an den Anliegen der Bürger und Patienten auszurichten, ihre Beteiligungs- chancen und ihren Schutz auszu-

bauen und ihren Einfluss grundsätz- lich zu stärken.

Mittlerweile ist eine Patienten- charta auf Bundes- und auf Länder- ebene verabschiedet worden, und die Regierung hat mit Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes die Stelle einer Patientenbeauftragten geschaffen. Die Regierung hat zu- gleich Interessenvertretungen von Patienten ein Mitberatungsrecht in Ausschüssen und Entscheidungs- gremien auf Bundes- und Landese- bene eingeräumt. Auch ist derzeit geplant, Patientenvertretern im Rah- men ihres Mitberatungsrechts die Anwesenheit bei der Beschlussfas- sung zu garantieren.

Ein erstes Fazit zur Etablierung von Mitbestimmung der Patienten in den Institutionen des Gesund- heitswesens könnte lauten: Patien- tenvertreter und die gemeinsame Selbstverwaltung haben voneinan- der gelernt, mit zunehmender Er- fahrung wächst die Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung für schwierige Weichenstellungen zu übernehmen. Dies ist notwendig, da der technische Fortschritt, gepaart mit einem wachsenden Wissens- stand und einer zunehmenden Kon- trolle des Menschen über die Natur schwerwiegende ethische Probleme aufwirft. Aber nicht nur bei diesen Entscheidungen ist die Beteiligung der Patienten unabdingbar.

Hinsichtlich der Krise unserer Sozialsysteme muss Patientenorien- tierung in der Zukunft auch heißen, Patienten vor dem Hintergrund des medizinischen Fortschritts, der de- mografischen Entwicklung und der schleichenden Rationierung der Versorgung stärker an der Diskussi- on über einen sinnvollen Ressour- ceneinsatz zu beteiligen. Sie sind in die notwendige Debatte um Chan- cen und Risiken neuer Versorgungs- ARZT-PATIENT-VERHÄLTNIS

Professionelle Fürsorge

Mehr Patientenmitwirkung und ärztliche Steuerung müssen keinen Widerspruch bedeuten, meinen die Autoren.

Eine gleichrangige Beziehung halten sie jedoch für unrealistisch.

Die ärztliche Pro- fession:

Wichtigstes Merkmal ist und bleibt die un- mittelbare, vertrau- ensvolle Begegnung mit dem Patienten.

Dieses Vertrauens- verhältnis gilt es zu wahren.

Foto:Peter Wirtz

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A2532 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 39⏐⏐29. September 2006

T H E M E N D E R Z E I T

formen einzubeziehen. Ihr Recht auf Mitbestimmung ist einzufor- dern, wenn sich die Integrationsver- sorgung im Wettbewerb der Kassen untereinander auf Kosten der Regel- versorgung entwickelt und in der Konsequenz zu Fragmentierung und Risikoselektion führt. Im Sinne der Patienten schließt eine politisch gewollte Stärkung ihres Einflusses die Übernahme von Systemverant- wortung mit ein.

Fraglich ist, inwiefern Erwartun- gen der Patienten und ihrer Organi- sationen auf mehr Mitbestimmung in Diagnostik und Therapie das Ver- hältnis zwischen Arzt und Patient grundlegend verändert haben. Was kennzeichnet ein gutes Verhältnis

zwischen beiden? Ausschlaggebend sind Umfragen zufolge vor allem die Fähigkeiten des Arztes, fachlich kompetent und mit viel Einfüh- lungsvermögen auf seine Patienten einzugehen, Zeit für sie zu haben und sie umfassend zu informieren.

Um den Patienten und um das Ma- nagement seiner Versorgung konkur- rieren Ärzte, Krankenversicherun- gen, Verbraucher- und Patienten- schützer und eine Vielzahl neuer An- bieter integrierter Versorgungsfor- men. Nicht nur in den Medien wird das Bild des souveränen und rationa- len Akteurs in einer leidensfreien Anti-Aging-Gesellschaft hofiert, der dem ärztlichen „Dienstleister“

gleichberechtigt gegenübertritt. Nicht selten entsteht der Eindruck, die Patienten seien bisher schutzlos der Willkür ihrer Ärzte ausgeliefert ge- wesen, und nun sei es an der Zeit, den Gegenangriff zu starten.

Die Forderung der Patienten nach mehr Mitbestimmung und Einfluss ist vor dem Hintergrund vielfacher Orientierungsprobleme und zuneh- mend beklagter Intransparenz im Gesundheitswesen berechtigt. Spe- zialisierung in der Medizin, neue Versorgungsformen, Probleme an den Schnittstellen zwischen ambu- lant und stationär, Kooperationsde- fizite und mangelnde Koordination

der Behandlung begründen eine ge- wachsene Verunsicherung der Pati- enten. Zusätzlich fühlen sich Patien- ten durch das inflationäre Wissens- angebot – vielfach ungeprüft und interessengesteuert – überfordert.

Diese Entwicklungen erfordern eine aktive Haltung des Patienten, er muss Eigenverantwortung überneh- men und selbstständig seine Krank- heit bewältigen. Patienten werden vor allem im Verlauf von chroni- schen Erkrankungen vielfach zu Ex- perten in eigener Sache. Mittlerwei- le existiert eine Vielzahl empirisch gesicherter Erkenntnisse, dass er- worbenes Wissen die Eigenverant- wortung stärkt und Therapieerfolge begünstigt.

Wachsende Patientenkompetenz verändert auch das Verhältnis zwi- schen Arzt und Patient und führt zu veränderten Formen der Entschei- dungsfindung. Gemeinhin idealty- pisch als „paternalistisch“ etikettier- te ärztliche (Allein-)Entscheidungen einerseits und „informed consent“

(Alleinentscheidung des Patienten) andererseits sind ungeeignet, den veränderten Anforderungen an den Patienten und an seinen Arzt Rech- nung zu tragen. Eine Optimierung des Arzt-Patient-Verhältnisses wird am ehesten durch „Shared Decision Making“ erreicht. Arzt und Patient treffen hierbei gemeinsam eine Ent- scheidung über Diagnostik und The- rapie und sind bereit, diese umzuset- zen. Als wünschenswertes Ergebnis gemeinsamer Entscheidungsfindung wird Studienergebnissen zufolge häufig eine größere Symmetrie im Verhältnis zwischen Arzt und Patient angesehen.

Während in anderen Experten- Laien-Beziehungen die Informati- ons- und Erfahrungsasymmetrie un- bestritten ist, wird sie in der Medizin als paternalistisch und arztzentriert bezeichnet. Der Wunsch „nach glei- cher Augenhöhe“ im Sinne des Pati- enten ist jedoch differenziert zu be- trachten. Die vielfach beklagte Asymmetrie zwischen Arzt und Pa-

tient ist geradezu konstitutiv für die- ses Verhältnis. Die Medizinsoziolo- gie belegt die These, dass die unter- schiedliche Wissensverteilung und die Macht zur Definition und Steue- rung einer Erkrankung seitens des Arztes eine prinzipiell ungleichran- gige Beziehung begründet und rechtfertigt. Patienten handeln oft- mals irrational und passiv – und ge- rade dann müssen sie auf ärztliche Professionalität und Fürsorge ver- trauen können. Der Kranke hat ein Recht auf abgesichertes Experten- wissen und erfahrene Urteilskraft.

Bestrebungen nach mehr Auto- nomie gehen oftmals mit einem Arztbild einher, das Ärzte als reine Dienstleister zur Behebung von Schadensfällen erscheinen lässt. As- soziationen von Fürsorge, Näch- stenliebe und sozialer Verantwor- tung werden bei diesem Arztbild außer Acht gelassen. Der Arzt trägt für sein professionelles ethisches Handeln eine persönliche und ethi- sche Verantwortung.

Patienten sollten den Behand- lungsprozess mitbestimmen dürfen und Eigenverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen. Die Er- wartungen sind allerdings nicht frei von Widersprüchen: Forderungen nach kompetenter Führung durch den Medizinbetrieb führen zum Vorwurf des Paternalismus, wenn diese Funktion konsequent wahrge- nommen wird. Ein Plädoyer für ei- nen größeren Einfluss des Patienten sowohl auf der Systemebene als auch bei der Behandlung seiner Er- krankung steht nicht im Wider- spruch zu dem Faktum, dass Patien- ten nach wie vor auf ärztliche Pro- fessionalität und Fürsorge vertrau- en. Konstitutives Merkmal der ärzt- lichen Profession und der für sie gültigen Normen ist und bleibt die unmittelbare, vertrauensvolle Be- gegnung mit dem Patienten. Dieses Vertrauensverhältnis gilt es zu wah- ren, sein Schutz ist von der Politik einzufordern. Der Arzt und Histori- ker Klaus Dörner, nennt das, was kranke Menschen letztlich von Ärz- ten erwarten: Sorgeethik. I

Dr. med. Leonhard Hansen,Vorsitzender des Vor- stands der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein Dr. rer. pol. Edith Meier,Leiterin des Referats für gesundheitspolitische Grundsatzfragen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein

Wachsende Patientenkompetenz verändert auch das

Verhältnis zwischen Arzt und Patient .

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