H
edwig besuche ich jede Woche. Diesmal haben wir eine andere Verabre- dung. Wir kehren um 12:30 Uhr in einer Trattoria ein. Erst wenige Gäste sind so früh zum Mittagstisch gekommen. Hed- wig begrüßt Bekannte wie Fremde gleichermaßen als alt- vertraute Freunde. Die neuen Wirtsleute sind etwas über- rascht. Zeigen sonst Gäste,Damen zumal, Zurückhaltung, geht Hedwig auf die Menschen zu und sagt jedem, was sie von der Welt hält. So ist das Essen weitestgehend von ihrem Mo- nolog unterlegt. Sie wählte für ihre neue AOK-Prothese grü- ne Nudeln, ich Rigatoni. Sie isst wenig, probiert eigentlich nur und erzählt die Mehr- generationengeschichte dieses Lokals. Einen neu hinzukom-
menden Tischnachbarn zieht sie ins Gespräch, hinterfragt seine Bestellung und wendet die Aufmerksamkeit weite- ren Nachbarn zu, nachdem der Werktätige, zu freundli- chem Dialog genötigt, seine knappe Mittagspause mit be- sonders großen Happen von der Pizza eingehalten hatte.
Wir verabschieden uns artig und fahren zu unserem eigent- lichen Ziel. Im Schatten parkt der Wagen, und der erste Weg- abschnitt liegt in der brüten- den Mittagshitze des Julis 2003. Bald schwenken wir auf einen überwachsenen Seiten- weg, wo Hedwig leichter vor- ankommt. Ihr Schuhriemen rutscht auf dem unebenen Un- tergrund wiederholt von der Ferse des gelähmten Fußes. Sie hakt sich kräftig unter, nach- dem ich das Riemchen enger gestellt habe, und führt mich zielstrebig weiter. Nach einem
weiteren Schwenk haben wir ihr Ziel erreicht. „Das ist es.
Hier werde ich liegen.“ Das Grab ist das dritte in der Reihe. Klein und sorgsam bepflanzt, ohne Gedenkstein.
„Denn hier liegt noch keiner.“
Wir begutachten die Nach- bargräber, darunter eines mit künstlerisch gestaltetem Ge- denkstein, der mich an eine Tänzerin erinnert. So gehen wir zurück zum Wagen. Hed- wig trällert verschiedene Lie- der. „In einem kühlen Grunde/
da steht ein Lindenbaum, das wurde bei einer Bestattung ge- spielt, das möchte ich auch.“
Auf diesem großen Fried- hof liegen einige meiner Pati- enten. Manchen begleitete ich auf dem letzten Weg. Mit Hed- wig war das anders. Wir waren lustig, haben gut gegessen, und vielleicht wird es nicht so bald sein, dass sie ihr Ziel er- reicht. Dr. med. Martin P. Wedig S P E K T R U M
Lebensweg
Seit dem Heft 41/2003 veröffentlicht das Deutsche Ärzte- blatt regelmäßig in jedem vierten Heft eine Arzt- geschichte. Im Anschluss an die Veröffentlichung mehrerer literarischer Arztgeschichten begann das DÄ in Heft 3/2004 mit der Veröffent- lichung von Beiträgen aus der Leserschaft.